Woher kommt die Wut?

12. Februar 2023. Eine Talkshow zum Thema Protest. Mittendrin Yalaz Çavuşoğlu, die mit Gedichten gegen das Migrationsamt protestiert, neben ihr unsympathische Mitdiskutierende, im Kopf aufstachelnde Dschinns – da summiert sich einiges in Suna Gürlers neuem Zürcher Abend, der nach Anlass und Formen des Widerstands fragt.

Von Valeria Heintges

"Ich chan es Zündhölzli azünde" am Schauspielhaus Zürich © Diana Pfammatter

12. Februar 2023. Es ist eine dieser Radio- oder Fernseh-Gesprächsrunden, die bissig und "am Puls der Zeit" sein wollen. Der Moderator Thomas Zürcher hält sich für einen ganz tollen Hecht, hat aber seine konservativen Meinungen päckchenfertig im Schrank und lässt sie in scheinbar neutralen Fragen deutlich durchblicken. Das einzige, was ihn so richtig auf die Palme bringt, ist seine Tochter. Die nämlich gibt ihm Widerworte, und das kann er prinzipiell nicht leiden.

Mit Gedichten gegen's Migrationsamt

Heute abend soll es in seiner Sendung "Zündstoff" um die Frage gehen: "Wann geht Protest zu weit?". Dafür hat Zürcher in den Pfauen des Schauspielhauses Zürich diverse Gesprächspartner eingeladen: Den deutschen Umweltaktivisten Thomas Wagner – "Sie dürfen mich Zweiradpirat nennen" –, den Berner Jugendsoziologen und ehemaligen Box-Schweizer-Meister Adrian Brie und Yalaz Çavuşoğlu. Sie arbeitet als Türkisch-Dolmetscherin für das kantonale Migrationsamt. Aus Wut über die zum Teil unfaire Arbeitsweise dort hat sie vor kurzem einige Videos online gestellt, in denen sie in Gedichten die Arbeit des Amtes kritisiert, gedreht vor den privaten Haustüren derjeniger Beamten, die Ausländer:innen ausgeschafft haben.

Ich chan es Zundholzli 02 805 Diana Pfammatter uIm Wutraum: Elif Karci & Ensemble © Diana Pfammatter

Immer weiter und immer weiter drehen Fatima Moumouni und Laurin Buser in "Ich chan es Zündhölzli azünde" (Ich kann ein Streichholz anzünden) an den Schrauben, bis alle Regeln höflicher und fairer Kommunikation gebrochen sind. Moderator Zürcher (aalglatt und sehr ehrgeizig: Michael Neuenschwander) interessiert sich überhaupt nicht für Inhalte, stellt vor allem Çavuşoğlu eine Suggestivfrage nach der anderen und beleidigt sie fortwährend sexistisch und rassistisch. Radaktivist Wagner (wunderbar übertrieben besserwisserisch und schleimig: Matthias Neukirch) lässt niemanden ausreden, auch nicht den politisch-hochkorrekten, aber letztlich wirkungslosen Soziologen Brie (bemüht-korrekt: Kay Kysela) und weiß alles besser – "ich war mal in der Werbung!". Sie alle eint der Tenor gegen Çavuşoğlu: Warum warst du denn so wütend? Wärest du nicht weitergekommen, wenn du höflich geblieben wärst?

Wie schnell ein Zündholz alles abfackeln kann

Der Titel des Werks, das die Slampoet:innen und Autor:innen Moumouni und Buser im Austausch mit und für Regisseurin Suna Gürler auf Schweizer- und Hochdeutsch mit türkischen Einsprengseln geschrieben haben, bezieht sich auf das Lied "I han es Zündhölzli azündt" (Ich habe ein Streichholz angezündet) des Berner Mundartsängers Mani Matter. Darin sinniert der, wie schnell ein Zündholz daheim auf dem Teppich zum Brand des Hauses, der Straße, der Stadt führen und letztlich die Menschheit ausrotten könnte. Das Motiv des Zündhölzchens, das sowohl eine Kerze als auch einen Flächenbrand entzünden kann, zieht sich durch den Abend. Auch noch, als der Vorhang hochgeht und dutzende Stühle und Tische zeigt, die von der Decke hängen (Bühne: Moïra Gilliéron).

Die restlichen Gesprächspartner frieren ein und Çavuşoğlu ist von vier Wesen (Yèinou Avognon, Linus Cart, Mira Guggenbühl, Pelin Ipek Kir) umgeben, die mit langhaarigen Perücken aussehen wie sie. Sie sind ihre inneren Stimmen, die sie anspornen, die Ungerechtigkeit nicht länger hinzunehmen. Je länger, desto mehr geben sie sich als Schwester, Exfreund und Freund:innen zu erkennen, die mit ihr diskutieren, wann Wut gerechtfertigt ist und wann nicht. Wenn man einmal, zweimal, mehrmals höflich sein Anliegen vorgebracht hat – darf man dann zu drastischeren Mitteln greifen?

Langsam schält sich auch heraus, warum Çavuşoğlu sich so gegen Ausschaffungen engagiert: Ihr Vater selbst wurde nach zehn Jahren in der Schweiz ausgewiesen, weil er nach einer Verletzung Sozialhilfe beantragen musste und später keine Arbeit mehr fand, die er hätte ausüben können. Gemeinsam schicken die Jugendlichen Yalaz durch alle möglichen und unmöglichen Therapieformen gegen Wut, bis Yalaz minutenlang mit einem Baseballschläger in einem Wutraum Kisten zerdrischt und danach versucht, ihrem Vater zu erklären, warum sie nicht nur auf das Migrationsamt, sondern auch auf ihn wütend ist.

Inspiriert von einem realen Fall

Elif Karci, die oft am Jungen Theater Basel arbeitet und etwa auch in der Produktion "Dämonen" am Theater Basel zu sehen war, stemmt mit bewundernswerter Kraft und Präsenz die Rolle der Yalaz Çavuşoğlu. Die Rolle, die so sehr von inneren Gemütszuständen wie Wut, Wehrlosigkeit und Ohnmacht erzählt, würde auch professionelle Schauspieler:innen fordern. Inhaltlich gerät die Innenschau der Jugendlichen auf großer Bühne langatmig, werden manche Szenen kaugummiartig ausgedehnt.

Ich chan es Zundholzli 04 805 Diana Pfammatter uElif Karci © Diana Pfammatter

Doch gelingt Gürler, ihren drei Profis und fünf jungen, teils nicht professionellen Darsteller:innen ein sehr wacher, aktueller, empathischer Abend "für Menschen ab 14", der klar anprangert – inspiriert von einem realen Fall –, dass in der Schweiz Armut oft genug Ausschaffungsgrund ist. Ebenfalls deutlich wird, dass die angeblich so sinnlose Debatte um politische und soziale Korrektheit sehr konkret real existierende Unfairness beseitigen will. In dieser Beziehung kann die Uraufführung von "Ich chan es Zündhölzli azünde" auch als Kommentar zu den Vorgängen am Schauspielhaus gelesen werden.

Ich chan es Zündhölzli azünde
von Fatima Moumouni und Laurin Buser
Inszenierung: Suna Gürler, Bühnenbild: Moïra Gilliéron, Kostümbild: Ursula Leuenberger, Musik: Yanik Soland, Licht: Michel Güntert, Dramaturgische Vorbereitung: Fadrina Arpagaus, Miriam Ibrahim, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Yèinou Avognon, Linus Cart, Mira Guggenbühl, Pelin Ipek Kir, Elif Karci, Kay Kysela, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch.
Premiere am 11. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten (keine Pause).

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Im zweiten Teil nehme Suna Gürlers Inszenierung Tempo auf, findet Rahel Zingg in der Neuen Zürcher Zeitung (17.2.2023).  Dank des engagierten Spiels der jungen Crew "kann man nachvollziehen, wie sich Wut und Protest zum Spaltpilz entwickeln. Und wozu sie Menschen verleiten." Allerdings müssten sich die Autorinnen den Vorwurf gefallen lassen, ihr Stück auf einem Stereotyp aufgebaut zu haben. 

Der von Suna Gürler inszenierte Abend könne sich nicht recht entscheiden "zwischen Agitprop-Theater, Fantasy-Spektakel, Körpertheater und Zeitgeist-Schelte", schreibt Torbjörn Bergflöt im Südkurier (14.2.2023). Immerhin stecke auch einiges an Frische in den anderthalb Stunden. Am Ende aber runde sich das Stück, werde man mit der Frage alleingelassen: "Wie weit dürfen oder sollen Yalaz' Wut und politischer Protest künftig gehen?"

Kommentare  
Zündhölzli, Zürich: Bitte kritisieren, nicht mutmaßen
überflüssiger, nicht recherchierter, letzter Satz :(
Zündhölzli, Zürich: Gerne nachlesen
@#1: nicht recherchiert? Dann lesen Sie doch mal nach:

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=22037:kommentar-schauspielhaus-zuerich-zum-ende-der-intendanz-stemann-von-blomberg&catid=101&Itemid=84
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