Sprache ist (Ohn-)Macht

18. Februar 2023. Als der türkische Nationalist eines Morgens erwachte, fand er sich zu einem Sprecher des Kurdischen verwandelt: Auf eine kafkaeske Wendung gründet Bachtyar Ali seinen tragikomischen Roman "Die Besetzung der Dunkelheit“ über die Unterdrückung des kurdischen Volkes in der Türkei. Die Uraufführung inszeniert Ihsan Othmann.

Von Leopold Lippert

"Die Besetzung der Dunkelheit" am Hessischen Staatstheater Wiesbaden © Karl und Monika Forster

18. Februar 2023. Das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat den europäischen Nachrichtenkonsument:innen nicht zuletzt wieder die prekäre Lage der Kurd:innen ins Gedächtnis gerufen, und die andauernde Unterdrückung und Diskriminierung des "Volks ohne Land" in der Türkei. Ein fast unheimlich passender Zeitpunkt also, an dem das Hessische Staatstheater Wiesbaden "Die Besetzung der Dunkelheit" zur Uraufführung bringt. Das Stück basiert auf dem – noch nicht ins Deutsche übersetzten – Roman des seit den 1990ern in Deutschland lebenden kurdischen Autors Bachtyar Ali.

Übersetzer einer Sprache, die es offiziell nicht gibt

"Die Besetzung der Dunkelheit" ist allerdings kein tagesaktuelles Stück, sondern setzt seine beiden Handlungsstränge an zwei historischen Punkten an – dreißig Jahre voneinander getrennt, aber verbunden durch die zentrale Figur des Übersetzers für Türkisch und Kurdisch, Ali Ihsan Akansu (Philipp Steinheuser), der zwischen Sprachkonflikten und -loyalitäten zerrieben wird. In den 1940ern wird der Linguistikprofessor Tarık Akansu (Christian Klischat) aus Ankara nach Südostanatolien geschickt, um dort die kurdische Sprache (und Identität) auszulöschen und die Türkisierung einer, wie er meint, "minderen Rasse" voranzubringen. Sein kleiner Sohn Ali Ihsan, der mit ihm in die Kurdengebiete reist, lernt dabei Kurdisch und arbeitet dreißig Jahre später (im zweiten Handlungsstrang, der in den 1970ern spielt) als Übersetzer für Kurdisch – eine Sprache, die es offiziell nicht gibt – für den türkischen Geheimdienst MIT.

Als solcher wird er akut gebraucht, denn eine mysteriöse "Krankheit" lässt so manche Türk:in plötzlich nur mehr Kurdisch sprechen, allen voran den ultranationalistischen Grauen Wolf Ismet Oktay (Ferhat Keskin), der ohne Sprache seine Welt nicht mehr versteht. Für die türkische Regierung ist das peinlich und potentiell gefährlich, und der Geheimhaltung wegen werden die so "Erkrankten" weggesperrt, in ein "Irrenhaus" genanntes Gefängnis in Elazığ, ein Ort, an dem wiederum schon lange jene Kurd:innen eingesperrt sind, die sich weigern, Türkisch zu sprechen. So weit so tragikomisch.

Schreiende Nationalisten und lähmende Starrköpfigkeit

Und hier beginnt leider auch das Problem: denn diese durchaus interessante Ausgangssituation um Sprache, Identität und Macht wird in Ihsan Othmanns realistisch-naturalistischer Inszenierung über die fast zwei Aufführungsstunden kaum weiterentwickelt. Die zentralen Figuren, allesamt Männer, bleiben statisch, narrativ im lautstarken Deklamieren immergleicher nationalistischer Stehsätze (kemalistisch und sozialdarwinistisch im Falle Tarık Akansus, grauwölfisch bei Ismet Oktay) verhaftet. Und wenn sich doch etwas bewegt, dann tut es das meistens mit Pathos und Pistole (dazu später). Schon klar, hier soll tragische Starrköpfigkeit ausgestellt werden; aber dass ein gar nicht so kleiner Teil des Stücks aus schreienden Nationalisten besteht, ist doch irgendwie lähmend.

Besetzung 1 Karl Monika Forster uKaval Sidqi, Michael Birnbaum, Martin Plass, Christian Klischat in "Die Besetzung der Dunkelheit" © Karl und Monika Forster

Zumal diese Fokussierung zu Lasten anderer Konflikte und intersektionaler Identitätskonstellationen geht: Frauenrollen etwa – die wenigen Zeilen, die von Schauspielerinnen gesprochen werden, sind allesamt sekundierendes Beiwerk zu den ach so wichtigen Männerdialogen. Eine (kurdische) Sängerin im femme fatale-roten Kleid tritt sogar nur auf, um drei gehauchte Chansonzeilen später erschossen zu werden. Oder der Umstand, dass Ali Ihsan Akansu schwul ist: kommt vor, ist Anlass für einen plakativen Männerkuss, aber hat ansonsten eher wenig mit seiner Figurenentwicklung zu tun. Implizit nimmt man die klischeehafte Vorstellung mit, dass Schwulsein, Vaterkomplexe, und Sensibelsein irgendwie zusammenhängen. Und auch die Epidemiethematik, die zu Beginn über den panischen Umgang der türkischen Behörden mit den plötzlich kurdischsprechenden Türken eröffnet wird, versandet bald wieder.

Pistolenschüsse und opernhaftes Pathos

Während die theatralen Mittel reduziert sind – Bühnenbildner Olaf Grambow hat eine schlichte schneckenförmige Treppe auf die Drehbühne gebaut, Joachim Kuipers spielt elegantes Live-Klavier – löst Othmann die dramatischen Konflikte mit überbordendem Pathos: Als Tarık Akansu nach dem Militärputsch von 1960 politisch in Ungnade fällt, beschließt er den Suizid. Zuvor kommt es allerdings zum beinahe seifenopernhaften Showdown mit seinem Sohn Ali Ihsan: Der Sohn hat sein spätes Coming-out, der Vater spuckt ihm vor die Füße. "Du wirst fortbestehen in mir, aber geliebt habe ich dich nie!" (der Sohn). "Um Liebe habe ich dich nie gebeten! Und ich glaube auch nicht an sie!" (der Vater). Pistole. Schuss. Black.

Auch Ali Ihsan Akansu stirbt am Ende melodramatisch durch einen Pistolenschuss. Von Kurd:innen aus Rache ermordet, dreht seine Leiche im fahlen Winterlicht eine schier endlose Runde mit der Drehbühne; Schneeflocken fallen recht ungelenk vom Bühnenhimmel, dazu singt das ganze Ensemble eine leise Totenklage. Das ungebrochen ausgestellte Pathos ist hart an der Grenze zum Cringe.

Dabei liegt der eigentliche Wert dieser Aufführung in der Tatsache, dass sie überhaupt ihren Platz gefunden hat an einem deutschen Staatstheater. Und auch wenn das Kleine Haus in Wiesbaden nicht ganz voll besetzt ist, honoriert der frenetische Schlussapplaus des Premierenpublikums für Inszenierung und den anwesenden Autor wohl auch, dass kurdische Themen und Autor:innen angekommen sind im deutschen Theaterrepräsentationsapparat. Man wünschte sich bloß, dass diese Themen mit mehr Komplexität und Diskursfreude verhandelt würden.

 

Die Besetzung der Dunkelheit
Uraufführung
Nach dem Roman von Bachtyar Ali
In einer Fassung von Kaval Sidqi, Mitarbeit: Irene Bry
Inszenierung: Ihsan Othmann, Bühne: Olaf Grambow, Kostüm: Jessica Rockstroh, Musik: Joachim Kuipers, Video: Sebastian Lanke, Licht: Oliver Porst, Choreographische Beratung: Serhat Kural, Dramaturgie: Wolfgang Behrens.
Mit: Michael Birnbaum, Ferhat Keskin, Christian Klischat, Martin Plass, Lukas Schrenk, Kaval Sidqi, Philipp Steinheuser, Christian Tzatzaraki, Lara Göhlert, Andreas Jolk, Anna-Lena Owen, Felix Scheuer, Sebastian Wieland.
Premiere am 17. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

"Auch wenn dieser Aufführung abseits des Bühnenbilds und einer letztlich vor allem illustrativen Live-Klaviermusik sichtlich die besonderen Akzente fehlen, also jene packenden Momente, die im Inneren der Zuschauerinnen und Zuschauer tatsächlich nachhallen, erweist sich das Regiehandwerk als solide. Ästhetische Innovation sollte man nicht erwarten", schreibt Björn Hayer von der taz (20.2.2023). "Deutet man unterdessen den mit Standing Ovations begleiteten Applaus richtig, so scheint die Inszenierung dessen ungeachtet einen wichtigen politischen Nerv zu treffen."

 

Kommentare  
Dunkelheit, Wiesbaden: Andere Kultur
Kritik liest sich, wie wenn eine kurdische Regisseur wenn in Deutschland inszeniert es, muss auch inszenieren wie in Deutschland. Kurden haben andere Pathos, andere Karrikatur, andere Kultur. Cringe wie Kritik sagt es, ist da unverschämt. Und in Politik in Türkei sind nicht viele Frauen, warum sollen in Roman erfinden?
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