Alpenland ist abgebrannt

18. Februar 2023. Vom Bergbahnbrand zum Verschachern der Alpen: Zwei Bergtexte bringen Regisseurin Claudia Bossard und Dramaturgin Jennifer Weiss zusammen. Zu Elfriede Jelineks Theatertext über das Kapruner Gletscherbahnunglück vergaben sie an Fiston Mwanza Mujila einen Stückauftrag. Voilà, ein Gebirgs-Doppel.

Von Martin Lhotzky

"Après les Alpes" von Fiston Mwanza Mujila in der Regie von Claudia Bossard am Volkstheater Wien © Marcel Urlaub

18. Februar 2023. Die Brandkatastrophe in einem Tunnel der Gletscherbahn von Kaprun, ein immer noch beliebtes Skigebiet im österreichischen Bundesland Salzburg, im November des Jahres 2000 kostete 155 Menschen das Leben. Obwohl es sogar zu einem – Aufsehen erregenden – Gerichtsprozess gegen die Betreiber der Gletscherbahn und Behördenmitarbeiter kam, endete dieser mit Freisprüchen. Ein Wiederaufnahmeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, auch um den Eintritt der Verjährung zu verhindern, kam nicht zustande.

Verteidigung des Heizlüfters

Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek sah sich schon kurz danach veranlasst, den Opfern eine Stimme zu geben und verfasste ihren Text "In den Alpen", dem sie im ersten Lockdown der Covid-Pandemie im Jahre 2020 noch den kurzen Text "Diese Maschine ist unschuldig!" hinzufügte, quasi eine Rehabilitation für einen missbräuchlich verwendeten kleinen Heizlüfter, der von der österreichischen Justiz für die Brandkatastrophe verantwortlich gemacht worden war. Der hätte nie in eine Gletscherbahn eingebaut werden dürfen, ergo war er, und nicht etwa jene, die ihn eingebaut hatten, schuld an der Katastrophe. Flickus, Flackus, Fumdeedledum! – Das ist Juristenlatein und heißt auf Deutsch: Wie wollen Sie das Gegenteil beweisen?

Zu Beginn der Pandemie kam Regisseurin Claudia Bossard und Dramaturgin Jennifer Weiss dann der Einfall, ähnliches typisch österreichisches Verantwortungsbewusstsein, das etwa im Skiort Ischgl bei der Verbreitung des Corona-Virus beobachtet werden konnte, mit Jelineks Dramentext zu verknüpfen. So entstand die Fortsetzung "Après les Alpes" von Fiston Mwanza Mujila, die wir nun als Uraufführung in einer gemeinsamen Inszenierung mit Jelineks Text durch Bossard am Wiener Volkstheater besuchen können.

Monolog der Toten

Zu Beginn sehen wir eine Station, entweder der Gletscherbahn oder eventuell auch eines beliebigen Flughafens. Hinter riesigen Fensterscheiben im Zentrum dreht sich bedrohlich ein nicht gerade kleiner Felsbrocken – oder ein Meteor? –, nähert sich langsam, aber unausweichlich den wenigen Anwesenden. Es handelt sich um die Toten, die in Jelinek-typischen Monologen Teile ihrer Geschichte erzählen. Woran sie sich erinnern. Woran sie sich NICHT erinnern.

ALPEN 1 Marcel Urlaub u"In den Alpen" mit Julia Franz Richter © Marcel Urlaub

Uwe Robeck spielt ein Kind, das seine für alle anderen unsichtbaren Eltern, ebenfalls Opfer des Brandes, immerhin damit zu trösten versucht, dass sein jüngerer Bruder wegen einer Erkrankung bei den Großeltern bleiben musste. Und damit nicht zum Opfer geworden ist. Oder Anna Rieser, die an diesem Teil des Abends, mit Jelinek-Perücke ausgestattet, die große Verteidigungsrede für den kleinen Heizlüfter schwingt.

Verkauf der Alpen

Nach und nach taucht das Technikteam des Volkstheaters auf und baut in mehreren Schritten die Kulisse um. Station verschwindet, Flugfeld kommt zum Vorschein. Noch eng verknüpft durch das Ensemble – teils in anderen, ebenso recht wenig aussagenden Kostümen – aber schrittweise am Text erkenntlich, sind wir bei Fiston Mwanza Mujilas "Nach den Alpen" angelangt. Die sind ja schließlich Natur und damit eigentlich in niemandes Besitz und können mithin verkauft, verpachtet, verliehen werden. Das bringt Geld! So die Logik von Frau Gartner – Julia Franz Richter in einem bunt-verschmierten Reifrock – und ihrem Söhnchen Boris (wieder Uwe Robeck, der oft, mal verschmitzt, mal erstaunt, ins Publikum blickt).

Die angekündigte Absicht, im Mwanza-Mujila-Segment auch die Kolonialgeschichte auf die Schaufel zu nehmen, will nicht ganz aufgehen. Die Absurdität der Bereitwilligkeit, den letzten Rest Natur, den man hierzulande, ach was, in ganz Europa noch hat, gegen schnöden Mammon einzutauschen, funktioniert hingegen. Etwas langatmig wirkt der Abend dann aber doch, ein paar Straffungen hier und da wären durchaus nicht fehl am Platz gewesen.

 

In den Alpen // Après les Alpes
Elfriede Jelinek // Fiston Mwanza Mujila
Regie: Claudia Bossard, Bühne: Elisabeth Weiß, Kostüm: Mona Ulrich, Video und Sound: Annalena Fröhlich, Dramaturgie: Jennifer Weiss
Mit: Nick Romeo Reimann, Julia Franz Richter, Anna Rieser, Uwe Rohbeck, Christoph Schüchner, Stefan Suske
Premiere am 17. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Die Wirrnis ist groß an diesem Abend, der zwei Texte vereint, die wenig gemeinsam haben als die Lust an schäumender, überschäumender Sprachflut und das Generalthema: die Alpen", schreibt Thomas Kramar in der Presse (€ | 19.2.2023). Bei Jelinek schadeten die Textumstellungen und die "ständige theatralische Ironisierung, die stellenweise klamaukhaft wirkt", auch wenn Jelineks Text selbst von Selbstironie geprägt sei. Fiston Mwanza Mujila habe das "verstörend und verwirrend" wirkende Stück geschrieben. "Bossards Faible fürs Überdrehte, Groteske passt bei Mujila besser als bei Jelinek, am Ende wird es aber doch zu viel. Und zu lang."

"Dem Absurden und Verrätselten beider Texte rückt Claudia Bossard mit leichtfüßigem Witz zu Leibe, der das Gesagte nicht zu erklären versucht. Im gleichermaßen deutungsoffenen Bühnenbild von Elisabeth Weiß erlebt man - nach etwas tranigem Auftakt – einen vergnüglich-bissigen Abend. Kurzer Jubel", urteilt Thomas Götz in der Kleinen Zeitung (19.2.2023)

"Es scheint, als ob dieser Gesellschaft ohnedies nicht mehr zu helfen wäre. Eben deshalb muss sie sich von Autorinnen wie Jelinek oder Mujila ins Gewissen reden lassen. Ein erschöpfender Glücksfall, wie diese wunderbare Aufführung zeigt", berichtet Ronald Pohl im Standard (18.2.2023). Zum Jelinek-Teil heißt es: "Indem Regisseurin Claudia Bossard mit wenigen, darum umso kräftigeren Bildsignalen arbeitet, haben die Volkstheater-Schauspieler alle Zeit der Welt, den zwischen Spott und Verzweiflung oszillierenden Jelinek-Speech in all seiner dunkel glänzenden Pracht zu entfalten." In "Mujilas herrlich krauser Textmusik“ vermeint der Kritiker ein "höhnisches Gelächter herauszuhören".

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Alpen-Doppel, Wien: Regieansweisung
Das Intermezzo zwischen beiden Stücken über das “stille Örtchen“ war Regieanweisung!
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