Kunst und Kritik - Was die Debatte über den Hundekot-Angriff auf eine Kritikerin über die Verhältnisse im Theaterdiskurs aussagt
Dramatische Filterblasenbildung
8. August 2023. Aufreger der Saison: Nach einer Premiere beschmierte der damalige Ballettchef Marco Goecke die Kritikerin Wiebke Hüster mit Hundekot. Es folgt die Entlassung des Künstlers, aber auch eine Debatte, die deutlich macht, dass sich das Verhältnis von Kunst und Kritik dramatisch verändert hat.
Von Christine Wahl
18. Februar 2023. Sicherlich: Dass der Ballettdirektor, der einer Tanzkritikerin im Foyer eines Staatstheaters die Exkremente seines Dackels ins Gesicht geschmiert hat, mit sofortiger Wirkung aus seinem Vertrag entlassen worden ist, markiert den vorläufigen Schlussakt der sogenannten Hundekot-Attacke.
Künstlerinnen vor Kritik schützen?
Dass mit dem Fall des Vorhangs alle Fragen offen sind, gilt im Theater allerdings nicht umsonst als geflügeltes Wort. Was für eine Auffassung von Kritik hat sich hier eigentlich in den letzten Tagen offenbart – erst in der Tätlichkeit Marco Goeckes selbst, dann in den zahlreichen Reaktionen darauf, auch hier im Kommentarbereich von nachtkritik.de? Noch auf der vorgestrigen Pressekonferenz dachte Goeckes Vorgesetzte, die Hannoveraner Staatsopernintendantin Laura Berman, am Ende ihres offiziellen Statements zum Übergriff des Ballettchefs gegen eine Kritikerin darüber nach, wie sie künftig – Achtung (!) – "Künstlerinnen schützen" könne, vor Kritik. Denn die sei heute in ihrer "guten, verantwortungsvollen" Form "gefährdet", "polarisierende Äußerungen" erzeugten "mehr Aufmerksamkeit, mehr Klicks".
Marco Goecke hat dieser Art von Kritik-Kritik nach seiner Tätlichkeit noch einen weiteren Spin gegeben und in verschiedenen Varianten immer wieder denselben Kerngedanken zum Ausdruck gebracht. Nämlich, dass er der Kritikerin lediglich mit gleicher Münze zurückgezahlt habe, was sie selbst ihm zuvor angetan hätte: Sie habe ihn "auch jahrelang mit Scheiße beworfen", ihre Texte seien selbst "auf dem Niveau eines Scheißhaufens" etc. pp.
Den Fäkaltopos kennen wir schon von der Intendantin des Hamburger Schauspielhauses, Karin Beier, die sich vor zwei Jahren in einem Rundfunk-Interview zu der Äußerung hinreißen ließ, schlechte Kritiken klebten einem "wie Scheiße am Ärmel". "Scheiße" als Synonym für Kritik, geäußert von Repräsentant:innen honoriger Kulturinstitutionen in offiziellen Kontexten: Ganz offensichtlich hat sich das Verhältnis von Theater und Kritik in den letzten Jahren gravierend verändert.
Verachtung statt Diskurs
Natürlich ist Goeckes Übergriff nicht die erste Attacke gegen einen Rezensenten oder eine Rezensentin in der Theatergeschichte, historische Beispiele wurden dieser Tage fleißig zitiert. Lässt man deren moralische Einordnung und Bewertung (die ja bereits umfassend geleistet wurde) aber für einen Moment beiseite und analysiert die Vorfälle – unserem ureigenen Metier als Theaterkritiker:innen gemäß – auf ihren symbolischen Gehalt, lassen sich durchaus Verschiebungen erkennen.
Wie also hätte ich – wenn ich vor siebzehn Jahren im Parkett gesessen hätte – die Szene gedeutet, als der Schauspieler Thomas Lawinky während einer Aufführung am Schauspiel Frankfurt dem damaligen FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier den berühmten Spiralblock entriss und versuchte, daraus vorzulesen? Vermutlich als Versuch, die buchstäblich im Dunkeln verfassten, sich dem Zugriff des Schauspielers entziehenden Worte, die sich am nächsten Tag in der Zeitung zu einem öffentlichkeitswirksamen Urteil (über ihn) verdichten, ein Stückweit zu entmachten, indem er sie selbst ausspricht und der Lächerlichkeit preisgibt. Die Philosophin Judith Butler sähe hier vermutlich einen Akt der subversiven "Fehlaneignung" diskursiver Macht am Werk – dessen Grundlage natürlich die prinzipielle Anerkennung jener Diskursmacht ist.
Marco Goeckes Handlung lässt sich im semantischen Feld von "Diskurs" dagegen gar nicht mehr verorten. Wer sein Gegenüber bekotet, demonstriert nurmehr Verachtung – in größtmöglichem Ausmaß. Der Hannoveraner Ex-Ballettchef hat seiner Kritikerin, mit anderen Worten, ins Gesicht gerieben, was er von ihr hält: Das ist, sicher, ein nicht für möglich gehaltener Ausnahmefall.
Eine Kunst, die sich immunisiert
Auf einer anderen Ebene – nämlich der sprachlichen, die also im symbolischen Bereich verbleibt (und sich auch dort auf einem vergleichsweise zivilisierten Niveau bewegt) – ist die pauschale Herabwürdigung von Kritik allerdings durchaus salonfähig geworden. Deren vermeintlich mangelnde Qualität wird dort gern in einfachen Kausalketten aus ökonomischen Niedergangstopoi hergeleitet wird, namentlich der Medienbranche. "Anschreiben gegen den Verfall" – die Wendung, die dem Kurator, Dramaturgen und früheren Intendanten der Münchner Kammerspiele Matthias Lilienthal in den Sinn kam, als er im Dialog mit der Hamburger Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard über professionelle Theaterkritik nachdachte, hat ja inzwischen bereits Klassiker-Status. Deuflhard wiederum zeigt sich im selben Gespräch erleichtert über die neuen Möglichkeiten, die sich dem Theater dank Social Media bieten, Rezensionen, die sie "nicht passend" finden, auf den eigenen Kanälen gleichsam hinterherzukorrigieren. Der kritische Punkt liegt – um Missverständnissen vorzubeugen – selbstredend nicht im Gegenverkehr an sich. Was aufhorchen lässt, ist der Terminus "nicht passend".
In der Konsequenz verdichtet sich so das Bild einer Kunst, die sich gegen alles Nichtaffirmative immunisiert und abschottet. Ein anderer Text zur Theaterkritik auf dieser Seite beschreibt die Beobachtung, dass man als Konsumentin ästhetischer Ereignisse tatsächlich immer häufiger in Wertegemeinschaften eingeladen wird. Jüngstes Beispiel: die Pressekonferenz zur Auswahl des Berliner Theatertreffens 2023, dessen neues Leitungsteam nahezu sämtliche Entscheidungen – seien es Personal- oder Programmentscheidungen – tatsächlich aus eben jenen (und zudem häufig nicht explizierten) geteilten "Werten" heraus begründete. Wie dehnbar in solch einem Kontext das Label "nicht passend" ist – um in Deuflhards Sprachbild zu bleiben – bedarf keines überdurchschnittlichen Vorstellungsvermögens.
Dass das Gros der Theaterleute Kritiker:innen hoch respektabel begegnet und deren professionelle Meinung entweder tatsächlich schätzt oder es zumindest in angemessen professioneller Weise schafft, diesen Eindruck zu erwecken, steht hier wohlgemerkt in keinerlei Abrede. Worum es vielmehr geht, sind die signifikanten Verschiebungen im öffentlichen Diskurs.
Umkehrrhetorik von Täter und Opfer
Wenn der Schauspieler und Regisseur Benny Claessens die Verfasserin einer ihm nicht passend erscheinenden Rezension in den Sozialen Medien mit der Einlassung "Your time is over, Darling" adressiert, drängt sich der Eindruck auf, dass manche Akteur:innen gar nicht wissen, was die Institutionen eigentlich ausmacht, an denen sie tätig sind. Fehlendes Vorstellungsvermögen, dass Kritik auch dann aufschlussreich sein könnte, wenn sie einem nicht gefällt, ist das eine. Was indes tatsächlich maximal bedenklich stimmt, ist die augenscheinliche Abwesenheit des Bewusstseins, dass darüber, was in den von der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit finanzierten Institutionen stattfindet, auch aus einer unabhängigen Außenperspektive berichtet werden muss.
Eine der überraschendsten Erkenntnisse, die die Hundekot-Attacke und die Reaktionen auf sie zutage gefördert haben, besteht für mich darin, dass die offensiv geäußerte Rezensent:innen-Verachtung Künstlerinnen und Künstler augenscheinlich nicht davon abhält, professioneller Kritik gleichzeitig eine immense Macht über sich zuzuschreiben. Mindestens eine so weitreichende, dass sie sich im selben Atemzug mit der Abwertung der Kritik auch zu ihrem Opfer erklären – was ausbuchstabiert tatsächlich meint: zu einem Opfer systematischer Gewalt durch Theaterkritik!
Klar: Nicht jede und jeder vollzieht diesen Move in einer solchen Anschaulichkeit wie Marco Goecke mit seiner Umkehrrhetorik von Täter und Opfer. Aber die Gleichsetzung von physischer und verbaler Gewalt an sich tritt tatsächlich in erstaunlicher Virulenz zutage – und war in den letzten Tagen ein zentrales Diskussionsthema, zum Beispiel hier in der Kolumne von Wolfgang Behrens.
Auf dem Weg in die "Positivgesellschaft"
Was dagegen bereits vollends aus dem Blick geraten scheint, ist die Stufe davor – nämlich diejenige, die Kritik überhaupt mit Gewalt gleichsetzt: auch dies eine rhetorische Figur, die sich durch viele Reaktionen und Kommentare zieht, mitunter explizit, häufig aber vor allem subkutan, blindfleckig.
Gestützt werden solche Redefiguren von Äußerungen, mit denen auch Laura Bermans Statement ausklang: Schwindende Orte für Kritik, so die Argumentation, führten zu umso robusteren Methoden im Kampf um Aufmerksamkeit – nach dem Motto: Je böser der Verriss, desto höher die Klickzahl. Mal abgesehen davon, dass ich die These, Kritiken fielen heute tatsächlich "böser" oder "verletzender" aus als zur Hochzeit der "Großkritiker" in den 1990er und 2000er Jahren, für ziemlich steil und in letzter Instanz für falsch halte, stellt sich mir – auch und gerade eingedenk der konkreten Kritiken, die die Hundekot-Attacke getriggert haben sollen – eine andere Frage: Kann es sein, dass wir es mit einem Fall von dramatischer Filterblasenbildung zu tun haben, wo jedwede nichtaffirmative Äußerung per se als Angriff empfunden wird? Dass wir, in den Termini von Byung-Chul Han, geradewegs auf eine "Positivgesellschaft" zusteuern, in der Kritik – im Sinne von Systematik, Einordnung, Vergleich und Präferenzierung – an sich schon als Geste der Machtausübung delegitimiert und mit dem Label "toxisch" versehen wird? Und in der Kritik als Korrektiv einer aufgeklärten Öffentlichkeit verabschiedet werden soll?
Dass Marco Goecke einem User, der seine Attacke gegen die Kritikerin Wiebke Hüster scharf kritisierte, in einem inzwischen gelöschten Instagram-Post "Nazi" hinterherrief, würde diese Vermutung in fast schon grotesker Weise bestätigen.
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(Anm. Redaktion. Werter Thomas Rothschild, die Schlusswendung verwundert. Gerhard Stadelmaiers Rezensionen sind wie alle Texte der überregionalen Medien jahrelang in unseren Kritikenrundschauen zusammengefasst und mithin einer Leser*innenschaft auch über die FAZ hinaus zugänglich gemacht worden. Wo er Kritikwürdiges vorbrachte, wurde im in Redaktionsblogs kritisch begegnet. Das ist nicht "Bekämpfung", sondern eben: kritischer Umgang miteinander. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)
Hat eigentlich nk auch veröffentlicht, ob und wie Stadelmaier sich zu nak geäußert hat? - DAS ist dann kritischer Umgang miteinander, sonst ist es möglicherweise nur Vorführung des jeweils anderen vor anderen unter dem Label des kritischen Umgangs miteinander...
Sollten sich im Archiv von nk entsprechende Texte finden - wovon ich ausgehe!, wäre ich dankbar, würden sie hier nochmal verlinkt.
(Werte* KunstundFreiheit, wir Älteren in der Redaktion können uns tatsächlich nicht entsinnen, ob Gerhard Stadelmaier sich irgendwo einmal zu Nachtkritik geäußert hat. Vermutlich nicht im Print. Wir finden jedenfalls nichts. Aber Umgang heißt natürlich: Kritiker*innen kritisieren Kritiker*innen (was Gerhard Stadelmaier durchaus getan hat) und werden dafür eben von Kritiker*innen kritisiert. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)
https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4371&catid=315&Itemid=105
https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4578:redaktionsblog-zu-welchem-ende-erdulden-wir-gerhard-stadelmaiers-kritikertypologie-&catid=315&Itemid=100190
https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=7139:buchhinweise-august-2012-der-chor&catid=100:buecher&Itemid=86 (hier auch die Diskussion in den Kommentaren)
es gib keine Kritik der Müllabfuhr und keinen Applaus für sie. Aber die Ranking-Mode breitet sich überall aus, für Kaffeemaschinen, Software, Ärzte, Romane, Filme usw. Andreas Reckwitz hat das als Symptom der Gesellschaft der Singularitäten analysiert. Auch das Genre der Rezension breitet sich ausgehend von der Literatur in alle Bereiche aus. Aber für die Theaterkritik gibt es andere Begründungen.
Ästhetische Urteile (da kommt man an Kant nicht vorbei) sind keine allgemeingültigen Urteile über Tatsachen, sondern sie tun nur so, als ob sie allgemeingültig seien. Sie fordern Widerspruch und Diskussion heraus.
Zuschauer entscheiden gelegentlich über einen möglichen Theaterbesuch anhand von Kritiken, aber sie gleichen auch ihr Erlebnis eines Theaterbesuchs mit der Bewertung durch eine professionelle Kritik ab. Theateraufführungen diskutierbar zu machen, ist auch eine Begründung für Theaterkritik.
Kunst will Affirmation. Aber wenn es nur zustimmende Urteile im öffentlichen Diskurs gäbe, würde die diskursinitiierende Funktion von Kritik beschränkt. Man kann die alte Regel, Verrisse kurz, Hymnen lang, beherzigen, aber die Achtung vor den Künstlern sollte durch die Erlebenskomponente (d.h. den Ärger des Rezensenten) nicht völlig verdrängt werden.
Muss vermutlich bei Generationswechseln in begrenzten Bereichen so sein. Unterschied zwischen den Streithähnen im Kritikerstreit: Stadelmaier wusste das vermutlich, nk-Gründer nicht...
Es ist also eine Art Geschichtslosigkeit, die nicht als ERSTES benennen kann, was genau sie von den Vorherigen gelernt hat: Um etwas ablehnen zu können, muss man es ja zunächst einmal durch Aufnahme angenommen haben und um die Anteile, die dennoch zur Distanzierung von früheren Annahmen geführt haben, kennen... Für mich sieht jedenfalls so ein MITEINANDER im Umgang aus...
sich weiter zu entwickeln..
alle Anderen sollen doch lieber in die Blase der Eitelkeit gehen, aber nicht auf die Bühne, sorry..
warum
tummeln sich im Theater soviele psychisch labile Narzissten?? Auch unter Berühmtheiten? Die nicht wegen der Kunst dort stehen, sondern wegen der Bestätigung Ihrer umsicheren Person?? Really sad..
STINKT ZUM HIMMEL
Die Fäkalien-Affaire am Staatstheater Hannover verdeutlicht die laufende Radikalisierung des seit je komplizierten Verhältnisses zwischen Kunst und Kritik. Zu Geschichte und Gegenwart kultureller Übergriffe."
von Karin Cerny und Stefan Grissemann
(19. Februar 2023, PROFIL 8/2023)
"In diesem Kampf gibt es keinen Goliath mehr, hier tritt ein David gegen den anderen an. Theater und Medien, das sind zwei schwer Angeschlagene, die sich aufeinander stürzen. Beiden bleibt das Publikum weg, beide wissen nicht so recht, in welche Richtung sie noch gehen sollten."
Der Kritik bleibt freilich die Kritik-Qualität sichernde, mehr oder minder neutrale, non-klassistische Präsentationsplattform weg: Die regionale Tageszeitung, die Wochenzeitung, die Kulturnachricht als Teil von Tagesnachrichten als Weitergabe von Kritik durch unbeteiligte Dritte... Die indirekte Weitergabe macht Annahme von Kritik leichter und sichert eine gewisse ästhetische und ethische Wirksamkeit.
Dem Theater bleibt das - sozial breitgefächert repräsentative - Publikum weg, weil es sich zunehmend eher als staatspolitischer Repräsentant geriert, denn als sinn-fälliger Kunstraum, der breite gesellschaftliche Debatten wertungsfrei ästhetisch spiegelt und zur unangeleiteten Wertung durch Publikum bereitstellt. Die direkte Wahrnehmungsbelehrung durch Theater erschwert den Genuss des Publikums an sich selbst und der eigenen freiheitlichen Wahrnehmung. Warum soll es dann also - außer als merkmalreduzierte Sozialblase - da hin?