Folgenlos

19. Februar 2023. Franz Radziwill war ein Nazi. Luise Voigt gräbt sich durch die Zeit des Malers und packt dabei alles Mögliche rein: Vergangenheitsbewältigung, Medienkritik, Klimakrise. Kann das gut gehen, oder muss sich ein so vollgestopfter Abend in sich selbst verlaufen?

Von Jens Fischer

"Radziwill oder der Riss durch die Zeit" in der Regie von Luise Voigt am Oldenburgischen Staatstheater © Stephan Walzl

19. Februar 2023. Mal wieder urtümliche Nazis aus Norddeutschland im Fokus. In der Kunsthalle Emden wird gerade das Werk von Emil Nolde gefeiert und untersucht, ob es sich dabei um Nazi-Kunst handelt oder um Kunst eines Nazis. Am Staatstheater Oldenburg feiern Regisseurin Luise Voigt und Dramaturg Jonas Hennicke das Werk von Franz Radziwill, der sich wie Nolde der nationalsozialistischen Bewegung begeistert anschloss. Radziwill wurde offiziell NSDAP-Mitglied und profitierte davon – etwa indem er Bilder für die Marine malte und eine Stelle an der Düsseldorfer Kunstakademie zugesprochen bekam.

Aber nachdem entschieden war, nicht den Expressionismus als strahlend starke deutsche Kunst gegen den fein ziselierten Impressionismus Frankreichs zu behaupten, sondern lieber den Brutal-Heroismus zu fördern und alles andere als "entartet" zu verfemen, fielen Nolde und Radziwill aus all ihren wuchtig in Öl gemalten Wolken und verkrochen sich am Wattenmeer. Nolde in Seebüll, an der deutsch-dänischen Grenze, und Radziwill in Dangast am Jadebusen. Sie werkelten weiter und wurden bei der Entnazifizierung schnell durchgewunken. Nolde entfernte alles Antisemitische aus seinen Memoiren, Radziwill malte in alte Bilder neue plakative Symbole des Unheils hinein, wohl um als Mahner zu gelten. In der kalten, düster apokalyptischen Atmosphäre seiner Werke geht es ihm um die faszinierenden Möglichkeiten und erschreckenden Gefahren der Technik oder wie wir heute sagen würden: der Digitalisierung.

Hübsche Ziellosigkeit

Dabei scheint das Theater zu interessieren, ob die Ziellosigkeit der Generation Y derjenigen Radziwills entspricht und er als antimoderner Maler der Moderne gesehen werden kann. Jedenfalls stehen junge zappelige Schauspieler im Schlabber-Look dem pinselführenden Senior gegenüber. Für die performative Debatte wurde keine intime Raumsituation, sondern die große Bühne gewählt. Dort knüpft Voigts Team erstmal an den Ausstellungs-Boom mit digital animierten Bildern von Hieronymus Bosch, Vincent van Gogh oder Gustav Klimt an. Auf den projizierten Radziwill-Gemälden windet sich in Oldenburg nun Dampf aus den gemalten Schornsteinen, auf wellendem Wasser segeln Boote hin und her, Baumäste wackeln und Flugzeuge stürzen ab, was auch schön laut mit Lärmzuspielung unterstützt wird. Effektvoll ist das, sieht sehr schick aus und erfreut zudem mit einem 3-D-Effekt, wenn Teile der Bilder auf der Vorderbühnen-Gaze, Teile auf dem Hinterbühnenprospekt und den Kulissenelementen zu sehen sind.

Immersiv ist das aber leider nur fürs Ensemble. Es spielt in den Gemälde-Inszenierungen. Mal recht albern, wenn Darsteller mit einem Boot ins "Siel bei Petershörn" (1929) rollen, büschen Platt snacken und ein Bier ploppen lassen. Mal gnadenlos pathetisch, wenn die Radziwill-Figur auf dem überdimensional nachgebauten "Stahlhelm im Niemandsland" (1933) steigt und aus einem seiner Briefe vom Fronteinsatz zitiert. Wobei Thomas Lichtensteins liebevoll ironische Verkörperung des eigenbrötlerisch versponnenen Künstlers großartig ist – bis in den norddeutschen Akzent hinein. So berichtet er von "unheimlichen Kräften", die in der Welt walten. Von Geistern, die durch Risse der Wirklichkeit Bedrohliches ankündigen. Diese Bedrängnisse gestalte er, lasse das Unbekannte in vertrauten Szenerien aufbrechen, wobei die ihn umtreibenden Ahnungen den Bildern den geheimnisvollen Charme verliehen.

Radziwill 1 c Stephan WalzlThomas Kramer, Ksch. Thomas Lichtenstein und Darios Vaysi in der Gemälde-Inszenierung von Maria Strauch © Stephan Walzl

Da fällt der Regie sofort "Hamlet" ein, klar, der Dänenprinz ist so ein Typ Generation Y, sein Vater eine herausfordernde Geistererscheinung und die Zeit aus den Fugen. Was von einer Hamlet-Darstellerin im historischen Kostüm vorgetragen wird. Beim folgenden Blick in die Sterne fällt das Stichwort Klima, schon gibt jemand Trotzki, der von einer in den Kosmos übergreifenden Revolution schwärmt. Nebenher wird eine Szene vom Schriftstellerkongress 1959 in Bitterfeld nachgestellt, in der Heiner Müller beklagt, dass Sterne zu viel Energie verschwenden. Zeit, die Generation Y per Publikumsansprache zu beschimpfen, mache sie doch aus ihren Möglichkeiten nichts. "Bewegt doch mal was", ruft eine Schauspielerin. Dazu rollt ein Ball über die Bühne. Dann verbinden sich alle die Augen und absolvieren tastend einen Parcours mit fünf Stationen. Auf der Suche nach Zukunft: "Das Leben mit den Gespenstern" lautet die mühsame Verbindung zu Radziwills einleitenden Worten.

Gelangweilte Ratlosigkeit

So geht das immer weiter in diesem Assoziationstheater. In dem die Generation Y in gelangweilter Ratlosigkeit auch mal Lebensmittel gegen ein Radziwill-Werk klatscht. Folgenlos. "Der Zeitungsleser sieht die Welt nicht" (1950) ist Anlass, mal kurz das jämmerliche Kommunikationsniveau in den sozialen Medien zu kritisieren. Passend zur Jahreszeit gibt es auch eine Büttenrede des dem Radziwill-Kosmos entsprungenen Narren. Er verlockt das Publikum zum Applaus für sein schönes Oldenburg und sagt anschließend, es sei das erste NSDAP-geführte Land im ganzen Deutschen Reich gewesen: "Hey Oldenburg!" Betretenes Schweigen. Solche tollen Momente treffen auf Texte, die laut Programmheft beispielsweise von Giorgio Agamben oder Alexander Kluge stammen, deren akademische Poesie aber schon lesend schwer zu verstehen ist und auf der Bühne gar nicht funktioniert. Während vom eigentlichen Protagonisten herzlich wenig zu erfahren ist. Und wenn, dann sagt er gern Weisheiten wie: "Das wahre Wunder ist die Wirklichkeit."

Deduktives Theater

Um dem Publikum doch noch etwas Aufregendes mit nach Hause zu geben, wird versucht, als investigatives Theater zu reüssieren. In einem eingeblendeten Dokumentarfilm der Tochter Radziwills ist zu erfahren, dass dessen Freundschaft zu seinem jüdischen Kunsthändler zerbrach, als er dort in Naziuniform auftauchte. Ergänzend werden die Beziehungen zu den Nazis der Region angedeutet, unter anderem dem Vater von Ulrike Meinhof. Und nun kommts: Im Playback wird die 1982 aufgezeichnete Audiodatei eines bisher unveröffentlichten, dem Theater zur Erstnutzung überlassenen Interviews nachgespielt und des Öfteren unterbrochen, um Vorder-, Unter-, Hintergründe zu erläutern. Interessant. Und dann sagt Radziwill, Juden seien ein "unruhiges Volk" und nicht unschuldig an ihrer Verfolgung. Dass der Künstler offen antisemitisch war, sei bisher nirgendwo publiziert worden, heißt es. Seine Selbstinszenierung als naiver Mitläufer hat das Staatstheater nun widerlegt? Fragwürdig. Läuft es nicht eher Gefahr, wie die Darsteller selbst problematisieren, einen alten, senilen Mann vorzuführen, dem bei wachsender Demenz vielleicht ein paar verdrängte, vergessene oder irgendwoher erinnerte Ansichten auf die Zunge purzeln? Die lobenswerter Weise um Einschätzung gebetene Tochter soll gesagt haben, das sei nicht der Mann, den sie kenne.

Schade ist vor allem, dass für diesen angeblichen Enthüllungs-Coup die Auseinandersetzung mit der Aktualität des Werks von Franz Radziwill ziemlich vernachlässigt wird. Die Aufführung verzettelt sich inhaltlich, wirkt konfus, während sie optisch höchst opulent daherkommt. Keine gute Kombination.

Radziwill oder der Riss durch die Zeit
Bilder, Texte und Originaltöne arrangiert für die Bühne von Luise Voigt und Jonas Hennicke, Regie: Luise Voigt, Bühne & Kostüme: Maria Strauch, Videographie: Stefan Bischoff, Sounddesign: Frederik Werth, Licht: Sofie Thyssen, Dramaturgie: Jonas Hennicke.
Mit: Julia Friede, Thomas Kramer, Fabian Kulp, Ksch. Thomas Lichtenstein, Rebecca Seidel und Darios Vaysi.
Premiere am 18. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater.de

In einer früheren Version dieses Textes stand, Franz Radziwill habe die Düsseldorfer Kunstakademie geleitet. Er hat dort jedoch lediglich gelehrt. 


Kritikenrundschau

"Die Regisseurin Luise Voigt ist auch Medienkünstlerin. Sie inszeniert Radziwill und seine Kunst auf der Bühne spektakulär, mit einer ausgefeilten Projektionstechnik", sagt Christine Gorny auf Bremen 2 (20.2.2023). "Im Stück erfährt man viel über den Künstler und sein Leben. Radziwill wird grandios verkörpert von Thomas Lichtenstein." Die Inszenierung sei eindrucksvoll, habe viele liebevolle Einfälle, oft Witz und meistens großes Tempo. Es gebe lediglich ein paar Längen im philosophisch-soziologischen Teil, die den Schwung etwas bremsten.

"Einiges bleibt rätselhaft, anderes wird übererklärt, Zitate von Josua bis Hamlet werden zur Veredelung bemüht, ein Hölderlin schwebt aus dem Schnürboden, Soundeffekte werden von den Akteuren mickymausend umgesetzt, Verkleidungen wechseln rasch, Geräusche kommen fast ununterbrochen vom Band, Moritaten und Choräle werden gesungen – kurz: Man merkt, dass sich beim Zustandekommen dieser Radziwill-Revue jeder Beteiligte einbringen durfte", schreibt Bernd Eilert in der FAZ (20.2.2023). "Verstimmt ist man deswegen nicht, denn unterhaltsam sind die Bemühungen trotz mancher Moralpredigt immerhin."

Kommentare  
Radziwill, Oldenburg: Bravo
Bravo, Jens Fischer, eine klasse Rezension! Sie haben sich nicht blenden lassen, sondern auf den Punkt gebracht, was der Inszenierung anzukreiden ist. Mittels dem Lebenswerk des Franz Raziwill wichtigtuerische aus dem Kontext genommene und damit zu Halbwahrheiten verkümmerte philosophische Aussagen von Vertretern unserer Spezies zusammenzukramen, gleichsam als würde man Papierschnipsel auflesen, dieses als von den Bildern inspirierte Gegenwartssicht der modernen Theaterintellektuellen zu verkaufen, enlarvt sich bei genauerer Betrachtung als Dünnbrettbohrerei. Wieder ein Beispiel von: Ich habe eigentlich selber nichts zu sagen, aber tue alles für viel Anerkennung. Macht des Theaters...? Verantwortung des Theaters? Welche Geschichte unserer Geschichte soll eigentlich erzählt werden? Ich möchte sagen: "Schweigt und lasst den Verstand zu Worte kommen!"
Und wieder geht das ewige Dilemma auf. Die Menschen lassen sich gewaltig auf die Reise mitnehmen, applaudieren frenetisch in dem Irrglauben, einer großartigen Sache beizuwohnen. Die Verbeugung des Teams vor dem Publikum gleicht dem "Lächeln des großen Verführers"...Wen man sich darunter vorstellen mag. Fehlt lediglich das gemeinsame Marschieren...
Bemerkt die Theaterleitung nicht, dass sich genau der Mittel bedient wird, die zu kritisieren sich die Verantwortlichen des Abends aufschwingen? Die Theaterveranstaltung ist ein Jammer, die Franz Raziwill, seinem Leben, seiner Sicht auf unsere Spezies, seinem Sein in den Strukturen seiner Zeit nicht gerecht wird. Ort, Zeit, Bedingungen beachten! Und sich Zeit nehmen, seine Bilder zu betrachten. Sie sind tiefer als die Wichtigtuerei der Theatermacher!!!
Und immernoch ist die Zeit aus den Fugen.
Mögen Sie weiterhin ein aufmerksamer Zeitgenosse bleiben.
Alles Gute!
Radziwill, Oldenburg: Kokolores
Vergleichen Sie gerade ein begeistert applaudierendes Premierenpublikum mit aufmarschierenden Nazis?
Und ist Michael Laages, dessen fast euphorische Kritik dieses Abends ich heute morgen im Deutschlandfunk hörte, dann ein Propagandist und Nazi-Ideologe, oder wie ist das zu verstehe?!
Bitte um Aufklärung und Stellungnahme, Herr Doktor!
Klingt für mich nach Kokolores!
Radziwill, Oldenburg: Wider die Immersion
Dass Fischer hier von „Assoziationstheater“ spricht, mag zutreffend sein. Doch das Prädikat „Deduktives Theater“ ebenso wie die Parallele zum „Ausstellungs-Boom mit digital animierten Bildern“ sind weit hergeholt und wenig zutreffend, denn sie übersehen die Gratwanderung, die dieser Abend geleistet hat.

Auf findige Weise generiert das von Voigt und ihrem Team erarbeitete Stück Assoziationen, die dem Publikum den Künstler Franz Radziwill vorstellen und hierzu auf künstlerisch ausgeklügelte Weise den Blick anderer – visuell und auditiv – einblenden und manchmal auch ganz rhizomatisch ineinanderprojizieren. Hierbei – das hat Fischer vortrefflich erkannt – werden Voigt und ihr Team nicht „immersiv“. Denn läuft Immersion nicht immer auch Gefahr, die Zuschauenden einzulullen? Doch die Gefahr des Einlullens besteht hier nicht eine Sekunde. Im Gegenteil die Arbeit bietet eine Mehrperspektivität an, die einzig imstande ist, der Ambiguität des Künstlers wie auch der Ambivalenz der NS-Zeit gerecht zu werden.

Der Theaterabend bietet eindrucksvolle Visualisierungen (Analoges mündet in Virtuelles und vice versa) und sensibilisiert das Publikum, genau hinzusehen. Es ist ein Sehen, das alles andere als ‚deduktiv‘ ist. Gerade die Neopren-Optik von Maria Strauchs Kostümen oder die Vorderbühnen-Gaze und die darauf sichtbar werdende visuelle Doppelung bei der Inszenierung einer unveröffentlichten Tonbandaufnahme sorgen für eine vortrefflichen Verfremdungs-Effekt. In diesem Zusammenhang darf man auch die Inszenierung des Otto-Dix-Porträt übergehen. Dieses wird nicht nur projiziert, sondern erscheint auch leibhaftig auf der Bühne. Der Abend bietet einen Denkraum an, der weder den Inhalt noch die Schauspieler:innen oder Zuschauer:innen zur Vereindeutigung verleitet. Von Nachlässigkeit geschweige denn ‚Vernachlässigung‘ gibt es nicht die geringste Spur!
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