Das Ereignis - Berliner Ensemble
Ein Leben und einen Tod zur Welt bringend
19. Februar 2023. Laura Linnenbaum gibt drei Schauspielerinnen Raum, um die Worte der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux zwischen Erde und Dreck in die Welt zu drücken. Die textnahe Inszenierung einer mühseligen Suche.
Von Stephanie Drees
19. Februar 2023. Der Titel "Das Ereignis" ist natürlich pure Lakonie. Die schmale, autofiktionale Erzählung von Annie Ernaux beschreibt die alptraumhafte, tief in der Realität verhaftete Odyssee einer jungen Frau, die schwanger ist – und einen Abbruch dieses Zustandes will. Sie möchte kein Kind. Als Erste aus Ihrer Herkunftsfamilie hat sie es an die Uni geschafft. Einige Stufen des sozialen Aufstiegs sind genommen, sie könnte den Klassensprung schaffen. Aber nicht als unverheiratete Frau mit Kind. Es ist das Jahr 1963 in Frankreich, Abtreibungen sind gesetzlich verboten. Sie passieren natürlich trotzdem.
Einen Weg finden
Die Ich-Erzählerin sucht verzweifelt nach Hilfe. Nach jemandem, der dieses Ungeborene aus ihrem Körper entfernt. "Die Vorstellung abzutreiben, machte mir keine Angst. Ich hielt es, wenn auch nicht für einfach, so doch für machbar. Ich musste nur dem Weg folgen, den eine lange Reihe Frauen vor mir gegangen war", sagt Pauline Knof auf der Bühne des Berliner Ensembles. Der Weg wird sie nach vielen Demütigungen zu einer Engelmacherin und zum Abort auf der Toilette ihres Wohnheimes führen. Er wird sie fast das Leben kosten. Das ist im Großen und Ganzen die Geschichte.
Knof ist eine von drei Annies in diesem reduzierten Erzähltheater. Eine Frau in der Mitte ihres Lebens, zu Anfang des Abends steht sie da mit sauber gestecktem Haar, eine cremefarbene Bluse in die Culotte gesteckt. Sie berichtet, sie ergänzt, korrigiert hier und da die Erzählung der anderen. Zwei weitere Annies stehen neben ihr: Da ist die junge Frau von damals, Nina Bruns spielt sie. Und es gibt ein weiteres, ein drittes Ich, verkörpert von Kathrin Welisch.
Trockener Humor und Grausamkeit
Die Dritte tanzt von Anfang an mehr aus der Reihe als die beiden anderen. Kommentiert, flirtet – mal verbal und körperlich – mit dem trockenen Humor, der diesen Text durchzieht und die zeitweilige Ausweglosigkeit der Geschehnisse erträglicher macht. Auch die zwei anderen Annies stehen da zunächst ganz in Beige. Die Ältere im Jackett, die Jüngere im schmalen, sittsamen Rock. Auf dem Bühnenboden liegt fruchtbare Erde. Die Frauen werden ihre Unbeflecktheit damit im Laufe des Abends selbst besudeln und sich nach und nach aus ihren Konformitätsuniformen schälen, in Unterwäsche weitermachen, Dreck im Gesicht. Neben ihnen stehen zwei große Spiegel. Wenn Nina Bruns als junge Annie vor einem kniet und sich – in der Hoffnung, dass sie zu einer Fehlgeburt führt – Petersilie in ihren Mund stopft, sieht sie auch das Bild des "gefallenen Mädchens" einer Umgebung, die vor allem Missachtung für sie parat hält. Der Spiegel ist aber auch selbstermächtigend: Diese Frauen können den Blick im Laufe des Abends zurückwerfen, ihre Veränderung annehmen. Kein allzu subtiles Bild – aber nicht ohne Wirkung.
Bei Annie Ernaux ist das ein literarischer Kniff: Es gibt dieses Ich, diesen "Ort", wie Ernaux es nennt, auf verschiedenen Erzählebenen. Das eine Ich erlebt unmittelbar, sinnlich, drastisch und ungeschönt. Das andere spiegelt sich, untersucht sich mit ethnografischer Genauigkeit. Ein weiteres reflektiert das eigene Schreiben. Die Autorin wohnt in diesem Text, eine Etage über ihren Figuren – und geht, während sie auf sie schaut, mit sich und den Lesenden ins Gespräch.
Tiefe Textnähe
Wie soll man so einen Text auf die Bühne bringen? Regisseurin Laura Linnenbaum bleibt mit ihren drei – starken – Schauspielerinnen ganz nah dran. Die Worte sollen den Raum füllen, das Überzeitliche des Textes markieren und auf das Heute verweisen. Es ist kein schlechter Einfall, das Zwiegespräch aufzugreifen, den Ball permanent zwischen den drei erzählenden Figuren in der Luft zu halten. Laura Linnenbaum trug mit (Nachwuchs-)Auszeichnungen und diversen Einladungen zu renommierten Festivals lange das Etikett des vielversprechenden Talents. Heute ist ihre Regiehandschrift ausgereifter, markanter. Mehr davon hätte diesem Abend gutgetan. So sehr eine ernsthafte, tiefe Auseinandersetzung mit Ernauxs Text erkennbar ist, so sehr fehlen – vor allem in der ersten Hälfte – Regieeinfälle, die über das Illustrative hinausgehen, die Inszenierung selbst zum Hauptwerk machen.
Und dann gibt es Momente, in denen die Energie der drei Schauspielerinnen diese Schwäche überstrahlt. Das passiert nicht, wenn sie im Stroposkoplicht Müllsäcke voller Erde aufreißen. Es passiert in den leisen Momenten. Zum Beispiel, wenn alle drei Annies zusammenrücken, verschwitzt und verdreckt, und die Worte durch ihre Körper fließen lassen, sie in die Welt pressen, sich seelisch nackt machen. "Ich hatte in der Toilette des Wohnheims gleichzeitig ein Leben und einen Tod zur Welt gebracht. Zum ersten Mal fühlte ich mich als Glied in einer Kette von Frauen, die die Generationen miteinander verbindet", sagt Kathrin Wehlisch. Die Worte hallen nach.
Das Ereignis
nach dem Roman von Annie Ernaux
Aus dem Französischen von Sonja Finck
In einer Bühnenfassung von Laura Linnenbaum und Amely Joana Haag
Regie: Laura Linnenbaum, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Michaela Kratzer, Musik: David Rimsky-Korsakow, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Nina Bruns, Pauline Knof, Kathrin Wehlisch.
Premiere am 18. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
Ernaux besteche durch eine radikal nüchterne, immer selbstkritisch bohrende Sprache, mit der sie die damals strafbare Handlung als persönliche, gesellschaftliche und literarische zugleich analysiere, schreibt Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (19.2.2023). "Ein starker, tiefschürfender Abend, der noch besser wäre, wenn am Ende nicht doch noch auf die Tränendrüse gedrückt würde."
Christine Wahl vom Tagesspiegel zweifelt, ob dieser Text auf der Bühne gut aufgehoben ist. Sicher jedoch nicht auf der des Berliner Ensembles, wo er auf Laura Linnenbaums Neigung zu plakativer Bildsprache treffe. "Geht es im Text darum, wie die Protagonistin zu Beginn ihre Unterhosen auf erhoffte Regelblutspuren untersucht, muss Nina Bruns tatsächlich einen Schlüpfer nach dem anderen unter ihrem Rock hervorziehen, inspizieren und auf eine Wäscheleine hängen." Und weiter: "Gerade der erkenntnisstiftende Mehrwert von Ernaux` tastender Schreibbewegung, in der sich die Autorin ihr damaliges Ich über dessen Versprachlichung überhaupt erst erschließt und es der gesellschaftlichen Einordnung zugänglich macht, geht hier leider in plakativer Behauptungsdramatik verloren."
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