Kolumne: Queer Royal - Über sensible und unsensible Theaterkritik
Blick auf Augenhöhe
21. Februar 2023. Wie sensibel oder unsensibel können Kritiken sein? Und welches Maß an Vorbildung sollten sie sich zur eigenen Verfeinerung abverlangen? In solchen Fragen gilt es, genau hinzuschauen: etwa auf das Beispiel eines Abends von Taylor Mac am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
Von Georg Kasch
21. Februar 2023. Was darf Kritik? Im Prinzip alles. Bejubeln, verreißen, beschreiben, die Meinung zwischen den Zeilen verstecken, Beteiligte erwähnen oder auch nicht erwähnen, kulturpolitische Debatten führen oder einen Abend zum Anlass nehmen, um über etwas ganz anderes zu schreiben. Kritik darf auch ignorant sein. Aber dann muss sie sich halt auch Fragen gefallen lassen (Hundekot allerdings ist keine Frage, sondern Gewalt).
Weil: Natürlich besitzen wir als Kritiker:innen eine Verantwortung. Wir lassen Menschen, die wir nicht kennen und kaum einschätzen können, einen Abend so wahrnehmen, wie wir ihn selbst filtern. Dazu müssen wir eine Auswahl treffen, uns auf wenige Szenen und Eindrücke beschränken, um auf begrenztem Platz ein Bild des Abends, eine Kontextualisierung und Wertung unterzubringen. Und das alles in einer Sprache, die unser Handwerk ist, unser Stil, unser Markenzeichen, die aber auch durch unsere Sozialisation geprägt wurde und wird.
Taylor Macs "HIR" in Karlsruhe
Vor wenigen Wochen hatte in Karlsruhe "HIR" Premiere, ein Stück von Taylor Mac. Taylor Mac – Pronomen: judy – hatte 2019 in Berlin und jetzt gerade bei den Lessing-Tagen in Hamburg mit judys "Show A 24-Decade History of Popular Music" für Furore gesorgt. In "HIR", 2014 entstanden, geht es um eine typische US-amerikanische Kleinfamilie. Als GI Isaac vom dreijährigen Auslandseinsatz zurückkehrt – unehrenhaft entlassen wegen Drogenmissbrauch und PTBS-Patient –, haben sich allerdings überall die Vorzeichen verkehrt: Sein Vater Arnold sitzt nach einem Schlaganfall zugedrogt und vernachlässigt in der Ecke, seine Mutter Paige schwingt autoritär das Zepter, und die Person, die er noch als Schwester kannte, heißt jetzt Max und ist ein junger Mann.
Taylor Macs absurde Komödie hat es durchaus in sich. Sie erklärt nichts, sondern jagt die Identitätsschlagworte durch den Mixer der Diskurstravestie. Schnell lösen sich die dualen Begriffe auf, für die Mac im Alltag und der Kulturgeschichte nicht lange suchen musste – Vater/Mutter, er/sie, Siedlung/Natur, Ordnung/Chaos, böse/gut etc. Es wird kompliziert: Darf man mit dem Vater, der jetzt sabbernd und geschminkt im Damennachthemd in einem Karton herumlungert, Mitleid haben, wissend, dass er vorher ein Tyrann war inklusive Gewaltausbrüche, Fremdgehen, Vergewaltigung? Oder mit Isaac, der sich nach einem zu Hause sehnt – aber beim Versuch, mal ein bisschen aufzuräumen und dem Vater das Leben zu erleichtern, automatisch patriarchale Strukturen erneuert? Was ist von dieser Mutter zu halten, die sich zwar vollkommene Progressivität auf die Fahnen schreibt, sie aber mit ähnlich tyrannischen Mitteln durchzusetzen versucht wie einst ihr Mann? Und was von Max, der hier der schlauste Kopf zu sein scheint, aber erstaunlich schnell auf den Dicke-Eier-Zug aufspringt, mit dem Isaac vorfährt?
Kritik ohne Sensorium
Man kann Taylor Macs Stück (das ich für großartig halte) blöd, flach, unlustig finden. Man kann auch an Jakob Weiss' Inszenierung der deutschsprachigen Erstaufführung rummäkeln, am aufgekratzten Daily-Soap-meets-Sitcom-Sprech im vollgemüllt-abstrakten Bühnenbild – oder sich von ihrem brachialen "Eine schrecklich nette Familie"-Witz mitreißen lassen.
Aber muss man in eine Kritik über ein Stück, in dem es um Genderfragen, Pronomen und einen trans Charakter geht, wirklich mit "Charlys Tante" einsteigen, wie es der Kritiker in der "Rheinpfalz" tut? Über Max heißt es dort: "Einzig die pubertierende Tochter Maxine, die dem häuslichen Elend durch eine dilettantische Geschlechtsumwandlung zu entgehen sucht, gehört als gewollter 'Trans-Mann' Max in das Raster der einschlägigen Gender-Diskussion, die hier allerdings nur vordergründig berührt wird". Vielleicht glaubt der Kritiker ja tatsächlich, dass Trans eine Verirrung ist oder eine Ideologie. Aber warum schreibt er es dann nicht?
Vielleicht ist es ihm auch einfach nur unterlaufen. Es ist ja nicht einfach mit der Sprache. Ständig ändert sich was, tauchen neue Begriffe und Selbstbezeichnungen auf. Anstrengend. Aber einer der wirklich tollen Sachen an unserem Beruf ist doch, dass man immerzu was Neues lernt. Natürlich ist es ärgerlich, wenn einem Fehler unterlaufen und man dafür angezählt wird. Passiert mir auch, selbst in queeren Begrifflichkeiten. Letzten Sommer etwa hatte ich in dieser Kolumne den Deadname von Ichj v. Dussel verwendet. Passiert. Ich hab's nach Hinweis korrigiert.
Selbstbezeichnung geht vor Fremdbezeichnung
Vermutlich ist auch dem (von mir sehr geschätzten) Kollegen in den Badischen Neuesten Nachrichten – der ziemlich angetan war von Stück wie Inszenierung – seine Formulierung über Max eher unterlaufen: "Die pubertierende Schwester Maxine ist per Hormonbehandlung auf den Weg in Richtung Männlichkeit, nennt sich Max und will auf keinen Fall mit geschlechtsspezifischen Pronomen angesprochen werden." Aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft ist das vermutlich sogar eine zutreffende Beschreibung. Aber sie objektifiziert queere Menschen und den Wunsch auf Selbstbestimmung. In allen marginalisierten Gruppen gilt: Selbstbezeichnung geht vor Fremdbezeichnung. Max, wiewohl eine Rolle, spricht von sich durchgehend als Mann.
Nun kann man als Journalist:in sagen: Meine Leser:innenschaft ist die weiße, heteronormative Mehrheitsgesellschaft, die muss ich nicht weiter mit solchen Perspektiven belästigen. Oder: Wir leben in einer heteronormativen Gesellschaft, die strukturell rassistisch, misogyn, ableistisch und klassistisch ist – warum sollte man das nicht so abbilden?
Materialien zur Weiterbildung
Aber man sollte sich schon auch klarmachen, aus welcher verengten Perspektive man dann schreibt. Wir alle, die wir uns mit Kunst und der Welt journalistisch auseinandersetzen, tun das vor dem Horizont unserer Identität, unserer Erfahrungen, unserer Bildung. Und wir verletzen damit die Würde derer, die wir derart objektifizierend beschreiben. Weil das Beschreiben nicht auf Augenhöhe geschieht, sondern von oben herab. Und weil wir – siehe oben – eine Verantwortung haben, wie Menschen und Vorgänge durch unsere Augen gelesen werden. Und die ist umso höher, je weniger Macht die Abgebildeten haben. Das gilt, natürlich, in erster Linie für das Interview und das Porträt, die beide Menschen ins Rampenlicht stellen. Aber eben auch für die Theaterkritik.
Natürlich kann man das trotzdem alles so schreiben, da kommt ja keine Sprachpolizei und entzieht einem die Journalismus-Lizenz. Nur stellt man sich damit vielleicht in eine Ecke, in die man nicht will.
Wer nicht in diese Ecke landen will, hat es im Zeitalter des Internet aber auch ganz leicht. Freundliche Menschen haben nämlich umfangreiches Material bereitgestellt, um angemessen über Lesben, Schwule, Bis (bljs.de), Trans und Inter (transinterqueer.org | Inter), Rassismus (oegg.de), Behinderung und Inklusion (leitmedien.de) zu sprechen und zu schreiben. Man muss sie nur nutzen.
Kolumne: Queer Royal
Georg Kasch
Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.
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