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Theater Konstanz: Protest gegen Sorokin-Lesung angekündigt

22. Februar 2023. Für kommenden Samstag, den 25. Februar 2023, ist ein Protest gegen das Festival "Let's Ally: Recht auf Frieden" am Theater Konstanz angekündigt. Grund ist die Einladung des russischen Autors Vladimir Sorokin zu einer Lesung seiner Groteske "Das weiße Quadrat". Der Protest werde aktuell von 30 überregional vernetzten Aktivist:innen getragen, teilt die ukrainische Initiatorin Diana Kostenko auf Nachfrage von nachtkritik.de mit.

Diana Kostenko studiert an der Universität Konstanz Biologie und hat am Theater Konstanz im November 2022 ihr eigenes Projekt "Dialog über Sprachen, Patriotismus und Sex" realisiert. In einem Offenen Brief legt sie ihre Gründe für den Protest dar. Darin heißt es unter anderem: Das Theater Konstanz verwende den tragischen Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine "als Werbeträger, um ein russisches Buch über Russland eines russischen Autoren zu bewerben. Unabhängig davon, wovon dieses Buch handelt, benutzt das Theater ukrainische Opfer und Tote, um die Popularität russischer Kultur noch weiter zu stärken."

Der Schriftsteller Vladimir Sorokin ist ein prominenter Kritiker des Putin-Regimes und lebt seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Exil in Berlin. Zu seiner konkreten Rolle erklärt Kostenko auf Nachfrage von nachtkritik.de: "Jahrzehntelang wussten die Menschen nichts über die Ukraine, weil Russland alle unsere Versuche, unsere Kultur zu zeigen, blockiert und sie als unsere eigene bezeichnet hatte – ein klares Beispiel für kulturelle Aneignung. Auf diese Weise hat Russland die ganze Welt davon überzeugt, dass es uns nicht gibt." Es gehe in ihrem Protest "also nicht um Herrn Sorokin selbst oder seine Erzählungen über den russisch-ukrainischen Krieg. Die Frage ist, warum die ganze Welt ihre Stimme über die der anderen stellt. Warum hat die westliche Gesellschaft uns nie zugehört? Warum wollte die westliche Gesellschaft immer russische Stimmen auf ihren Bühnen haben?"

Das Theater Konstanz reagiert auf den Offenen Brief in einer eigenen Stellungnahme: "Das Theater Konstanz verurteilt den russischen Angriffskrieg. Wir geben ukrainischen Künstlerinnen eine Stimme. Wir möchten mit Kunst den gesellschaftlichen Dialog befördern. Und stehen für das Menschenrecht auf Frieden ein", heißt es darin. "Wir versuchen mit unserem künstlerischen Programm ein breites Publikum anzusprechen, Grenzen abzubauen, anstatt sie zu errichten. Daher gibt es an diesem Wochenende Vorstellungen mit englischen Übertiteln, Redebeiträge in ukrainischer Sprache, ein Gespräch in russischer Sprache mit deutscher Übersetzung." Vladimir Sorokin sei einer "der schärfsten und profiliertesten Kritiker des Putin-Regimes", die Textauswahl für seine Lesung "fiel bewusst auf diese Mediensatire, da sie die politische Propaganda Putins aufdeckt".

Werke von Vladimir Sorokin werden des öfteren an deutschsprachigen Bühnen aufgeführt, zuletzt etwa am Schauspielhaus Graz (Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs in der Regie von Blanka Rádóczy) oder am Staatstheater Mainz (Ljod – Das Eis – Die Trilogie in der Regie von Jan-Christoph Gockel). Seine Groteske "Das weiße Quadrat" hat Sorokin dem zur Entstehungszeit unter Hausarrest stehenden Regisseur Kirill Serebrennikow gewidmet.

(chr)

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Kommentare  
Protest Konstanz: Zum Heulen
Die Initiative von Frau Kostenko ist so intelligent, wie wenn Polen oder Russen während des Zweiten Weltkriegs eine Lesung von Bertolt Brecht oder von Thomas Mann im Exil hätten verhindern wollen. Muss man wirklich eingehen auf Forderungen von Menschen, die ohne jeglichen politischen Verstand reagieren wie Automaten? Es ist zum Heulen, um derer willen, die dem Krieg Widerstand entgegensetzen und vor allem um der Ukrainer*innen willen, die sich mit gutem Grund von Frau Kostenko nicht repräsentiert sehen.
Protest Konstanz: Freue mich auf Sorokin
Ich freue mich auf Vladimir Sorokin! Was Diana Kostenko angeht - da hat Thomas Rothschild (#1) bereits alles gesagt.
Protest Sorokin-Lesung: Bevormundung
Und wenn die Worte auch wie Asche... wir müssen leider alle die Liberalität verteidigen gegen diesen Mißbrauch scheinbar politischer Argumente im alltäglichen Konkurrenzkampf.
Protest Konstanz: Durchschaubare Aktion
Ich finde es eigentlich ein wenig leichtfertig, einer ohne Mühe als Cancel Culture zu durchschauenden Aktion einen so großen Raum zu geben. Auf diese Weise kann Frau Kostenko ihren "Offenen Brief" noch breiter streuen, als sie es ohnehin schon tut. Im Tagesspiegel hat Bernhard Schulz in der vergangenen Woche einen wichtigen Satz geschrieben: "Nicht die Kultur Russlands gehört auf die Anklagebank, sondern Putin und sein Regime. Wer das durcheinanderbringt, spielt nur der Propaganda des Kreml in die Hände, der von der Vernichtung Russlands durch den Westen faselt." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Protest Konstanz: Repräsentation
Ich bin recht erstaunt, dass Herr Rothschild für sich in Anspruch nimmt, einen Überblick über die Meinung der Ukrainer:innen zu diesem Thema zu haben und zu wissen, wie viele davon sich von Frau Kostenko nicht repräsentiert sehen. Fast alle der Ukrainer:innen, mit denen ich in Kontakt bin, haben eine ähnliche Meinung zu diesem Thema wie Frau Kostenko. Ich bin aber als Deutscher nicht einmal ansatzweise in der Lage, für diese Menschen zu sprechen.
Außerdem sagt Diana Kostenko ja selbst, dass es nicht um Herrn Sorokin oder seine Ansichten ginge (so wie ich es verstehe, sind die ja absolut ähnlich zu denen der Ukrainer:innen), sondern darum, dass wir bereits viele, viele Jahre russischer Kultur zugehört haben - und viel zu wenig ukrainischer.

Ich weiß nicht, aber ich kann Menschen, deren Land derzeit angegriffen wird, deren Familien und Freunde unter Beschuss stehen und sterben, durchaus verstehen, dass sie sich von so etwas verletzt fühlen - nochmal, nicht von Sorokin an sich, sondern von der Einladung russischer Künstler:innen. Sie haben jedes Recht, dagegen zu protestieren und ihre Meinung dazu hörbar zu machen. Und so wie ich es verstanden habe, ist hier ein friedlicher, stiller Protest vor der Spiegelhalle geplant. Es geht nicht um das Ersticken von fremder Kultur, sondern genau das Gegenteil - den Kampf dagegen. So interpretiere ich jedenfalls diesen Brief.

Ich bin mir unsicher, ob man Frau Kostenko und den beteiligten Ukrainer:innen direkt eine geminderte Intelligenz, ein Fehlen von politischem Verstand und ein "Automaten"-Dasein unterstellen sollte, wie Herr Rothschild es tut. Ich möchte in solchen Zeiten lieber zuhören, und zwar beiden Seiten, statt als Europäer und Deutscher wieder einmal zu meinen, es besser zu wissen als die Opfer dieses Krieges - oder gar persönlich zu werden.

Lasst uns doch diskutieren, ohne direkt eine der beiden Seiten persönlich anzugreifen.
Protest Konstanz: Ergänzung
Ich möchte noch ergänzen, dass ich mit "Kampf dagegen" in meinem Kommentar oben den Kampf gegen das Ersticken anderer Kulturen meinte, selbstverständlich nicht den Kampf gegen eine Kultur.

Außerdem hat Oksana Dovgapolova für die ukrainische Heinrich-Böll-Stiftung einen interessanten zu dieser Thematik veröffentlicht, den ich nur extremst empfehlen kann. Ich glaube, er hilft, den offenen Brief von Kostenko und der ukrainischen Community in Konstanz besser zu verstehen. Bitte lesen!
https://ua.boell.org/en/2022/07/07/two-russias-variety-turn-mariupol-drama-theatre
Protest Konstanz: Steiler Satz
In dem auf nachtkritik stehenden offenen Brief (wo ist er eigentlich noch veröffentlicht?) kann man folgenden steilen Satz lesen:
"Vladimir Sorokin ist Teil der russischen Kultur, Teil des kulturellen Krieges."
Auf der Seite des Konstanzer Theaters wird Sorokin so zitiert, und irgendwie klingt das ganz anders:
"Am 24. Februar 2022 ist der Panzer des ‚aufgeklärten Autokraten‘, den Putin all die Jahre trug, abgefallen. Die Welt hat das Monster erblickt, wahnhaft, gnadenlos. Ganz allmählich war das Ungeheuer gewachsen, berauscht von absoluter Macht, imperialer Aggressivität und Gehässigkeit, angetrieben vom Ressentiment gegenüber dem Ende der UdSSR und vom Hass auf die westlichen Demokratien. Fürderhin wird Europa es nicht mehr mit dem vorigen Putin zu tun haben. Sondern mit einem neuen. Mit dem es keinen Frieden mehr geben wird.“
Protest Konstanz: Taktlos
Am Jahrestag des neuerlichen russischen Überfalls auf die Ukraine (der Krieg dauert ja viel länger als seit dem Februar 22) eine Friedensveranstaltung zu machen und einen russischen Künstler als „Main-Act“ einzuladen (ungeachtet der Wertschätzung und Achtung vor dem Werk von Vladimir Sorokin und dessen politischer Haltung) ist nicht nur grenzenlos taktlos, sondern zeugt auch von der, in Deutschland weit weitverbreiteten, fehlenden Sensibilität und fehlendem Verständnis der Situation.
Dabei gäbe es so viele Ukrainische Autor*innen, die man um Stimme und Präsenz bitten könnte.
Anzunehmen aber ist, dass diese im Gespräch streitbarer und direkter das Thema Krieg und Frieden angehen würden.

Insofern kann ich es absolut verstehen, dass seitens der ukrainischen Aktivist*innen dieser Vorgang als verletzend und die Realität missachtend wahrgenommen wird.

Übrigens, werter Herr Rothschild, finde ich Ihre Haltung, den Polen vorzuschreiben wen diese, im zweiten Weltkrieg, in ihrer Sache sprechen lassen sollten oder nicht, genauso vermessen bzw kolonial gedacht wie die Haltung einen russischen Künstler bei einer dem Frieden in der Ukraine gewidmeter Veranstaltung auftreten und sprechen zu lassen.

So lange russische Soldaten brandschatzend, mordend und vergewaltigend ein freies Land überfallen, muss die Stimme den Opfern und den Verteidigern gegeben werden.
Protest Konstanz: Gefährlich
Ich finde den offenen Brief, gelinde gesagt, irritierend. Wäre Sorokin ein 'Putin-Getreuer', würde ich den Brief verstehen. Und Frau Kostenko vollumfänglich Recht geben. Ich verstehe auch, dass die Ukrainer:innen möchten, dass ihre Kultur endlich gehört wird. Die indirekte Forderung, dass erst mal nur noch ihre gehört werden soll, dagegen nicht. Ein kritischer, entlarvender Blick eines russischen Künstlers auf sein Heimatland, muss nicht nur auch Platz haben, sondern kann auch zu einem tieferen Verständnis über die Machenschaften Russlands führen.

Soweit ich das der Ankündigung vom Theater Konstanz entnommen haben, findet auch die ukrainische Kunst Gehör:

'Der LET´S ALLY-Samstag, 25.02., startet in der Spiegelhalle am Hafen um 15.30 Uhr (Einlass ab 15 Uhr) mit der Eröffnung der Kunstinstallation „Theory Of Protection“ der ukrainischen Künstlerin Daria Koltsova.

Um 16.30 Uhr folgt eine Live-Videoperformance mit der Schauspielerin Snizhana Vuzhva (Dnipro/Ukraine) unter dem Titel: „Snizhana – Stimme aus dem Krieg“.

Es geht also nicht um entweder/oder. Sondern um 'auch'. Die Ukrainische Kultur soll gehört und gezeigt werden. Sichtbar gemacht werden. Aber nicht um den Preis, dass die kritische russische Kultur verbannt werden soll. Putin zu kritisieren und zu hinterfragen, erforderte, und erfordert noch immer, Mut, auch für russische Künstler:innen. Soll dieser Mut jetzt 'belohnt' werden, indem die Künstler:innen nicht nur in Russland ihre Kunst nicht mehr zeigen und ausüben können, sondern hier auch nicht mehr? Ein gefährlicher Weg, den Frau Kostenko und ihre Mitaktivist:innen da fordern.
Protest Konstanz: Komplexität
In diesem Kontext fällt mir auf:

Für mich scheint es auf den ersten, zweiten und dritten Blick so gut und richtig, wenn sich auch Russ*innen öffentlich deutlich gegen den Ukraine-Krieg und die Regierung Putin positionieren und diese Verbrechen anprangern, dass ich wohl über die Komplexität dieses gesamten Themenkomplexes für Menschen aus der Ukraine noch viel zu lernen habe.
Protest Konstanz: Kunstfreiheit
Lieber Eastend, wer sind denn Ihrer Meinung nach DIE Ukrainer:innen? Ich glaube kaum, dass man hier eine einheitliche Haltung unterstellen darf. Viel wichtiger ist es in meinen Augen, dass die Kulturinstitutionen selbst Haltung bewahren und sich nicht vereinnahmen lassen.

Überspitzt gesagt: Was die Ukrainer:innen denken, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Das Theater Konstanz (dem ich in keiner Weise nahestehe) zeigt Haltung, indem es einem erklärten Putin-Kritiker ein Forum bietet. Welche Staatsangehörigkeit dieser besitzt sollte nach meinem Dafürhalten nicht die geringste Rolle spielen.

Leider ist in der öffentlichen Debatte gerade ein problematischer Trend zur Hypersensibilität zu finden. Was aneckt, verstört oder in irgendeiner Weise provokant oder anstößig ist soll nach dem Ruf vieler gecancelt werden. (Jüngst wieder bei der Debatte um das Münchner Metropoltheater, dem ich ebenfalls in keiner Weise nahestehe.) Ich bin nachdrücklich dagegen, alles Unliebsame zu canceln. Kunst entsteht schließlich nicht zuletzt aus Reibungen, aus dem Impetus diskussionswürdig zu sein, oder es zumindest sein zu dürfen. Feuer frei auf mich, der ich mich als überzeugten "Linksgrünversifften" bezeichnen würde, aber um die Kunstfreiheit steht es nicht besonders gut bestellt wie mir scheint. Die Kostenko-Petition ist ein Symptom dieser Entwicklung.
Protest Konstanz: Eigene Weltsichten
Lieber Mustafa (#11) - Warum "Feuer frei"? Sie denken doch klug. Theater brauchen steile Thesen, Rabiatheit und unbequeme Themen. Und auch Quatsch. Letzteres kommt in diesem Fall von Frau Diana Kostenko.
Wir müssen uns Standpunkten öffnen, die die eigenen Weltsichten herausfordern. "Hypersensibilität" brauchen wir da nicht.
Protest Konstanz: Sensibilität
Liebe:r Mustafa, genau darauf zielte meine Anmerkung ab: Es gibt nicht DIE Ukrainer:innen, im Gegensatz dazu wie Herr Rothschild es für sich in Anspruch nahm. Ich glaube, wir als Nicht-Ukrainer:innen können gar nicht beurteilen, wer sich von Frau Kostenko repräsentiert sieht und wer nicht.
Ich halte Ihren Satz "Was die Ukrainer:innen denken, ist in diesem Zusammenhang unerheblich" für äußerst, ÄUSSERST befremdlich. Das Land dieser Menschen wird gerade angegriffen, durch Russland, es wird bombardiert, 8000 Zivilist:innen sind tot, es wurde vergewaltigt, verschleppt und ermordet. Ich denke, was die Ukrainer:innen derzeit in diesem und in jedem anderen Zusammenhang denken, ist mehr erheblich als alles andere. Wenn wir hier in Deutschland bombardiert werden würden, würden sie sich dann auch selbst "Hypersensibilität" vorwerfen? Woher mag denn diese "Hypersensibilität" der Ukrainer:innen kommen, frage ich mich?
Außerdem ist dieser offene Brief keine Petition, sondern ein offener Brief und eine Mitteilung, dass protestiert wird, so lese ich das jedenfalls.

Natürlich besteht Kunst aus Reibung und daraus, diskussionswürdig zu sein. Aber guess what? Genau das ist symbolisiert gerade dieser Protest der Ukrainer:innen gegen die Lesung - es ist eine Diskussion darum entstanden, ob es wirklich taktvoll ist, am Jahrestag des Angriffkrieges ausgerechnet einen russischen Autoren als Main-Act einzuladen, wie Wojtek Klemm so treffend schreibt. Eine Diskussion, in der es auch um deutsche Ignoranz und Privilegiertheit geht, die wir nur allzu lang gegenüber osteuropäischen Ländern haben walten lassen - nicht nur gegenüber der Ukraine.

Ich glaube, darum es geht doch vor allem um Folgendes: Dass diese Einladung ausgerechnet zum Jahrestag des Krieges erfolgt ist. Da kann ich jede:n Ukrainer:in verstehen, die das als puren Hohn ansieht. Ich bezweifle, dass dieser Protest stattfinden würde, wenn Sorokin an einem anderen Tag eingeladen worden wäre.

Ansonsten möchte ich es so halten wie "Bochumerin": Dieses Thema ist so unfassbar komplex, dass wir als Deutsche und Europäer:innen gut daran tun würden, höchste Sensibilität und ein Verständnis walten zu lassen. Denn die fehlt in Deutschland - wie Herr Klemm auch schreibt - leider in noch sehr großen Teilen. Und das bereits für viel zu viele Jahre. Bochumerin hat recht - da haben wir noch viel zu lernen.

Übrigens halte ich mich selbst ebenfalls für "linksgrünversifft" und glaube, dass unsere Gesinnung, wie wir sie in Deutschland einschätzen, relativ wenig zu dieser Sache tut.
Protest in Konstanz: Einschränkung
Liebe:r Eastend,

ich muss vielleicht einschränken bzw. Ihnen in einigen Punkten entgegenkommen: Tatsächlich ist der offene Brief, so fordernd er auch sein mag, keine Petition. Außerdem tut unsere persönliche politische Couleur in der Tat nichts zur Sache – man hat nur in der Anonymität des Netzes bisweilen das Bedürfnis, sich von gewissen Leuten klar abzugrenzen. Und ganz gewiss ist das Thema komplex und auch ich will nicht negieren, dass es in diesem Themenkomplex einer erhöhten Sensibilität bedarf.

Was die Ukrainer:innen denken ist auch nicht per se unerheblich, das sei auch ganz deutlich gesagt. Wohl aber sollte es nicht der einzige Gradmesser sein. Dass einige/viele/ein paar Ukrainer:innen sich durch den Auftritt eines russischen Künstlers unwohl fühlen, darf für eine Institution keine rote Linie darstellen, sodass dieser Künstler wieder ausgeladen werden muss. Das gilt besonders, wenn dieser Künstler eine so eindeutige Haltung hat. Wenn die Haltung stimmt, aber die Staatsangehörigkeit nicht, kann das kein Grund für Zensur sein. Das müssen dann diejenigen, die sich unwohl/angegriffen fühlen aushalten und zwar auch am Jahrestag der russischen Invasion. Das ist Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit.

Und wenngleich das ein sehr theoretisches Szenario ist: Ja, auch wenn mein Heimatland von Macht X überfallen würde, muss es Künstler:innen aus X selbstverständlich erlaubt sein, in Drittländern ihre Kunst zu präsentieren. Das ist ja, bezogen auf die aktuelle Situation, zum Glück auch weitestgehend die gelebte Realität. Selbstverständlich werden in Deutschland und auch Stücke russischer Dramatiker gespielt und russische Künstler:innen engagiert.

Natürlich zeugt die Reaktion der Ukrainer:innen vom Reibungspotential der Kunst. Meine Meinung dazu ist nur, dass Veranstaltungen wie diese Lesung auf keinen Fall in vorauseilendem Gehorsam abgesagt werden dürfen. Dann gibt es eben die Diskussion im Anschluss an die Lesung. Toll, Theater als Forum, in dem Meinungen aufeinanderprallen (was sie in diesem Fall inhaltlich ja ehrlich gesagt überhaupt nicht tun).

Allgemein gesprochen und losgelöst von dem konkreten Fall:
Ich wünsche mir oft, dass Kunst noch viel mutiger und kontroverser gemacht und darüber gestritten wird. Sonst bleibt Kunst, zumal Theater, nur noch eine Blase. Was auf der Bühne propagiert, gesagt und getan wird entspricht der Haltung aller Anwesenden auf der Bühne und im Saal bzw. bewegt sich in deren Meinungsspektrum. (Analog auch in anderen Kunstgattungen.) Natürlich tut die Kontroverse weh, aber Kunst ist eben auch Erfahrungsraum der Demokratie. Hier dürfen auch Dinge gesagt werden, die man sonst seinem Gegenüber nicht sagen würde. Hier dürfen Rollen (so es welche gibt) verschiedene Haltungen der Gesellschaft verkörpern und deren Argumente reproduzieren (so es welche gibt). Hierüber kann man dann in der Realität diskutieren. NACHDEM das Kunstwerk zur Diskussion gestellt wurde.

Nichts für ungut und herzliche Grüße!
Protest in Konstanz: Lernen
Liebe:r Eastend,
jetzt habe ich den von Ihnen verlinkten Artikel von Oksana Dovgopolova gelesen. Irgendwann wurde ich stutzig (ich glaube bei „Louvre“) und habe ihn auch mal in den Google-Übersetzer gegeben.
Ist Ihnen aufgefallen, dass einige Passagen des Offenen Briefes von Diana Kostenko eine sehr große Ähnlichkeit aufweisen, um es vorsichtig auszudrücken? Da wäre eine Namensnennung im Brief, ähm, hilfreich gewesen und es hätte Ihre Verlinkung gar nicht gebraucht... Das nur nebenbei.

Sie haben recht, wir müssen viel lernen – aber wir müssen auch unsere eigene Haltung dazu finden und behaupten. Und das Canceln bestimmter Personen aufgrund ihrer Herkunft kann nicht angehen. Und so sollte es auch sein – was immer man von den Stimmen im Einzelnen hält.
Ich habe den Eindruck, dass die Debatte um unser Verhältnis zur Ukraine, deutsche Fehler und die Suche nach einer Positionsbestimmung Deutschlands im Sinne der Ukraine seit dem Kriegsausbruch vor einem Jahr sehr vielstimmig und kontrovers geführt wird.
In dem offenen Brief klingt es ein bisschen so, als würden ukrainische Stimmen hierzulande nicht veröffentlicht und gehört werden. Das ist schlicht falsch.
Protest in Konstanz: Chance vertan
Die Aktivist*innen haben mit ihrer Aktion mein vollstes Verständnis, da sie hiermit eine wichtige Debatte eröffnen. Schaut man sich deren Ankündigung an (https://www.instagram.com/p/Co-YsWoKhv4/?utm_source=ig_web_copy_link), so erfährt man, dass ein stiller Protest geplant ist, bei dem Teilnehmende dazu eingeladen werden, sich mit alternativen Programmpunkten zu beteiligen. Das hat nichts mit "Cancel Culture" zu tun. Denjenigen, die sie schreckhaft hinter allem vermuten, ist wohl eher Hypersensibilität vorzuwerfen.

Ich verstehe übrigens nicht, warum das Theater Konstanz sich dagegen entschieden hat, einfach nochmal Frau Kostenkos Abend "Dialog über Sprachen, Patriotismus und Sex" mit in das Programm aufzunehmen. Ich habe die Vorstellung damals gesehen und glaube, dass hier eine Chance vertan wurde, künstlerisch beeindruckenden und kraftvollen ukrainischen Stimmen an Ort und Stelle die Bühne zu geben.
Protest in Konstanz: Artikel
@ Stephan Thiel, ja das ist mir aufgefallen, und genau deshalb habe ich den Artikel auch verlinkt. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Dovgapolova eine der 30 überregional vernetzten Aktivist:innen sind, von denen Diana Kostenko spricht. Sie und ihr Artikel sind ja keine Unbekannten in der ukrainischen Szene. Vielleicht kommen deshalb ihre Passagen in dem Brief vor?
Vielleicht könnte man Diana Kostenko auf Instagram fragen, Martha Jansen hat es ja verlinkt.
Protest in Konstanz: Nochmal Artikel
Oh, ich sehe gerade, sie wurde schon auf Instagram gefragt, und sie hat geantwortet:
"Hi! It is defo part of the text. I personally know Oksana Dovgopolova and I have her full support on the topic, and permission to use parts of her article for the open letter"

Also wäre es vielleicht nur besser gewesen, im Brief darauf hinzuweisen.
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