Quarantäne is over

26. Februar 2023. August Strindbergs "Totentanz" spielt auf einer Quarantäne-Insel, allerdings hundert Jahre früher als heute. Regisseur Kay Voges aber hat versucht, aus dem Ehedrama von Alice, Edgar und dem Vetter, der durch die Schleuse zu Besuch kommt, ein dystopisches Gegenwartsstück zu machen. 

Von Sophie Diesselhorst

Besuch droht: Kay Voges' "Totentanz" frei nach August Strindberg am Berliner Ensemble © JR Berliner Ensemble

26. Februar 2023. Corona ist over. In den Theater sitzen ja schon seit längerem fast keine Maskenträger:innen mehr. Aber nun hat Kay Voges die Pandemie auf der Bühne nochmal – ganz nebenbei – derart holzhammermäßig klischiert, dass man sich nach diesem nur anderthalbstündigen, aber sehr zähen Abend im Berliner Ensemble weder an die eigene Erfahrung erinnert fühlt noch eine irgendwie interessante Distanz dazu einnehmen kann. Stattdessen: mentale Vollblockade. 

Voges hat Strindbergs "Totentanz" inszeniert in einer Kanonrettungs-Kurzfassung von John von Düffel. Das Bühnenbild soll auf die legendäre Mystery-Serie "Lost" der Nullerjahre verweisen, die Personnage, also das sich in herzlichem Hass verbundene Ehepaar Alice und Edgar und der zu Besuch kommende Vetter Kurt, sitzt dementsprechend in einem Keller-Bunker mit versifftem Oberlicht, in dem allerlei veraltetes Kontrollgerät herumsteht und ein erratischer Timecode ab und zu Zeitsprünge andeutet. Was stets dazu führt, dass die Eheleute ihre langweilige Selbstzerfleischung als Paar unterbrechen für ein kurzes Automatenballett. Er (Marc Oliver Schulze) tritt verbissen in die Pedale eines Hometrainers, während sie (Claude de Demo) einen abgehacktem Ausdruckstanz exerziert und dazu ihre feuerrote Bubi-Perücke schüttelt.

Trauriges Fest zum Hochzeitstag

Wir treffen Alice und Edgar bei Strindberg an ihrem 25. Hochzeitstag an, in einem ehemaligen Gefängnisturm auf einer Quarantäne-Insel hausend. Keiner lädt sie mehr zu seinen Parties ein, was vor allem Alice bekümmert, eine ehemalige Schauspielerin, die für die Ehe ihre Karriere und im Endeffekt also auch ihr Sozialleben aufgegeben hat. Aber wenn man ihnen nur fünf Minuten zugehört hat, weiß man auch, warum.

Totentanz1 JR Berliner EnsembleEingeschlossen auf der Quarantäne-Insel, Zugang nur durch die Schleuse: "Totentanz" mit Marc Oliver Schulze, Gerrit Jansen und Claude De Demo © JR Berliner Ensemble

Claude de Demo sitzt auf einem Arztstuhl und rasiert sich die Beine mit lauten Schab-Geräuschen, Marc Oliver Schulze kommt von draußen durch die Schleuse herein, nimmt seine riesige Schutzmaske ab, atmet einmal tief das Gift von 25 Jahren ein, und los wird gezickt, tyrannisiert, geschrien, geschwiegen, von beiden Seiten, wobei Claude de Demo Strindbergs misogyne Figurengestaltung derart ergeben bedient, dass es ein ganz besonders großes Grauen ist. Aber auch die beiden Herren chargieren um die Wette.

Maximales Familien-Unheil

Als Katalysator des Unheils, also quasi als Superspreader, kommt Alices Cousin Kurt (Gerrit Jansen) zu Besuch, der erst wirkt wie die deplazierte Vernunft in Person ("Alles in Maßen!"), dann aber natürlich doch auch eine toxische Backstory hat. Zu dem Zeitpunkt, wo sie offenbart wird, ist in dieser Inszenierung allerdings das letzte Fünkchen Interesse an den drei Figuren restlos aufgebraucht.

Auch die Frage, warum dieses Ehepaar sich nicht vor 20 Jahren schnell wieder scheiden ließ, ist eingeschlafen. Deshalb an dieser Stelle keine weiteren Details. Den Stückverlauf können Sie bei Wikipedia nachlesen. Die zweite Hälfte, in der bei Strindberg die nächste Generation die Bühne betritt, ist bei von Düffel gestrichen. Einerseits schade, weil die ihren manipulativen Langweilern von Eltern vielleicht plausibel und/oder unterhaltsam die Meinung gegeigt hätten, andererseits: Wenn der Apfel nicht weit vom Stamm fällt...

Rutschendes Toupet

In der Rahmung der Inszenierung von seiten des Theaters wird auch Samuel Beckett als Referenz beschworen, der hier wohl als Pate des Loops fungiert hat, wenn die ganze große Langeweile für fünf Minuten nochmal von vorne anfängt, bevor der Bunker ins Black versinkt und das Bühnengeschehen es zum Glück endlich aufgibt einen Realitätsgehalt zu beanspruchen.

Kurz vor diesem erwartbaren Ende verliert Kurt im einzigen lustigen Moment des Abends plötzlich sein sehr gut befestigtes, also vorher nicht unbedingt als solches erkennbares Toupet, als er versucht, Alice zu küssen. Auch sie hatte kurz vorher ihren Rotschopf abgenommen, doch für Doppelbödigkeit ist's da schon viel zu spät.

 

Totentanz
von August Strindberg
Nach einer Bearbeitung von John von Düffel
Regie: Kay Voges, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Mona Ulrich, Musik/Geräusch: T.D. Finck von Finckenstein, Video: Voxi Bärenklau, Licht: Steffen Heinke, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Claude de Demo, Marc Oliver Schulze, Gerrit Jansen.
Premiere am 25. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

"Ein Kontrollpult mit lustig blinkenden Lichtern und die wuchtige Sicherheitsschleuse sorgen für ein Ambiente wie in der Kommandozentrale eines sowjetischen Atomkraftwerks in den frühen 1970er-Jahren", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.2.2023). Dass Kay Voges in diesem Setting Strindbergs Beziehungskatastrophen-Klassiker "Totentanz" mit der Popkultur-Dystopie der Fernsehserie "Lost" kurzschließe. passe bestens. Fazit: "Gleichzeitig sehr komisch, ziemlich grausam und bei allen comichaften Überhitzungen des frühen Pop-Dichters Strindberg natürlich auch sehr wahr."

Regisseur Kay Voges stelle eine atmosphärische Verbindung her zu rituellen Wiederholungsschleifen im Allgemeinen und zu Samuel-Beckett-Stücken wie "Endspiel" im Besonderen, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (27.2.2023). Aber "auf der Bühne erschließt sich das nicht zwingend". Und: "Sie sind – naturgemäß – langweilig, die rituell um sich selbst kreisenden Endspiele. Und wirklich abgrundtief spannend wird es zwischen De Demo und Schulze an diesem Abend nicht. (...) Da können selbst die knappen anderthalb Stunden lang werden, auf die John von Düffel den Strindberg-Text eingedampft hat."

"Ein Abend zwischen Boulevard und Bunkerspiel", so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (27.2.2023). Kay Voges sei ein Regisseur der wuchtigen technischen, organisatorischen und multimedialen Setzungen, nicht unbedingt der Schauspielführung. Gemessen daran falle diese Arbeit trotz des Bühnenbildaufwands seltsam bescheiden, "man könnte auch sagen: kleinkariert und zusammengefummelt aus". Die ausgedachten Seltsamkeiten seien "absurd und aus der Luft gegriffen sind. Kein Dialog entwickelt sich zwingend oder wenigstens logisch, entsprechend entstehen auch keine Figuren, sondern Varianten vorführende Sprechapparate, die seltsamerweise an gespielte Witze und Fernsehschwänke erinnern."

"Der rund 120 Jahre alte Strindberg-Text und der Mystery-Blockbuster der Nullerjahre stoßen einander zwar nicht ab, gehen aber eben auch keine wirkliche Beziehung miteinander ein", schreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (26.2.2023). Marc Oliver Schulze als Edgar und Claude De Demo als Alice "sticheln, zanken, demütigen sich und wünschen sich einander den Tod". Aber die Feinheiten in Strindbergs psychologischem Kammerspiel bleiben leider auf der Strecke. Dramaturgisch führe letztlich nichts wirklich zwingend zu irgendwas. Das sei das Problem dieses Abends: "Kay Voges pumpt ein bisschen Mystery hinein, ein bisschen Thrill, spendiert den Figuren grotesk-komische und unterhaltsam-schräge Momente, nimmt ihnen aber mit der Überzeichnung auch die Tiefe."

Auf der Bühne enstehe "aus den drei Denkansätzen nicht mehr, sondern weniger Substanz", so Barbara Behrendt auf rbb24 (26.2.2023). Strindberg werde "auf einzelne Motive und Kernfiguren reduziert, die vielschichtige Serie ebenfalls" und Beckett finde man nur, "wenn man weiß, dass man nach ihm suchen soll". Zu sehen sei eine "auf allen Ebenen gekünstelte und dadurch auch zähe Inszenierung, die das Publikum, trotz der grotesken Komik, gänzlich außen vor lässt".

 

Kommentare  
Totentanz, Berlin: Was ist Kritik?
Ich mochte den Abend auch nicht. Finde aber das Niveau der Beiträge hier noch erschreckender. Frau D, warum das alles? Geht’s hier wirklich nur noch um Urteil? Hätte gern eine KRITIK gelesen und nicht hingekritzelte Bekundungen. Bitte: analysiert, argumentiert, wägt ab und befindet es meinetwegen für nichtig — aber bitte mit ein bisschen guten Willen und ein bisschen nachdenken. Sonst kann man den Laden hier gleich zu machen…
(Ja, ein bisschen out of line — aber es ist echt frustrierend. Kein anderes Medium wird derart von Menschen beurteilt, die so offensichtlich keinen Bock drauf haben)
Totentanz, Berlin: Schade
Ich kann die Kritik total nachempfinden. Bei Voges gibt es immer eine schöne Idee, tolle Oberflächen und nichts mehr steckt dahinter. Woran liegt das nur? Da war ja eine fähige Dramaturgin am Werk, aber so inhaltslos, wenig bezüglich zu unserer Wirklichkeit und langweilig habe ich lange kein Theaterstück gesehen. Wirklich schade...
Totentanz, Berliner Ensemble: Leere
Theater zum Abgewöhnen? Die spannenden Inszenierungen des Berliner Ensembles begeistern mich immer wieder und nun das? Ein Abend voller Langeweile, ein Gähngesang, ein Uhrzeitschauen, wann naht das Ende einer langweiligen und belanglosen Inszenierung, die auch durch die “Erklärung “ im Programmheft mit gestylten Texten nur Leere hinterlässt. Freue mich auf das nächste spannende Theatererlebnis bei Euch.
Totentanz, Berlin: Blick aus Reihe 2
Sehr feines, präzises Spiel der Schauspieler in einem überraschenden Bühnenraum. Musste oft schmunzeln, darüber, wie sehr wir Menschen unendlich umeinander kreisen können, obwohl es eine Tür gibt, durch die man immer gehen könnte, aber es nicht tut.
Totentanz, Berlin: Gutes Theater, schlechte Kritik
Womöglich grassiert derzeit eine konkrete Angst vor gutem Schauspiel und gut gedachten und gut realisierten Theaterstücken. Warum bemüht sich eine Kritikerin nicht im Geringsten die Höhe dessen zu erreichen, was sie bewertet? Die Präzision und Lust der Überschneidung von Strindberg und Lost (eine sofort nachvollziehbare und sich eingelösende Idee), die Spielmöglichkeiten, welche sich daraus ergeben, welche ausgekostet und ausgelotet wurden, nicht nur das, sie wurden neu gesehen und grandios entwickelt, also die unglaublich gut gespielte Ebene des Kontakts zwischen den Figuren, das Bühnenbild und die schöne Kürze des Stücks... DANKE AN DAS ENSEMBLE! (...)

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(Der Kommentar wurde um eine Passage gekürzt. Bitte bleiben Sie sachlich.
Herzliche Grüße aus der Redaktion)
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