Wo die Köpfe rollen

28. Februar 2023. "Grand Guignol im Opernhaus" heißt unsere neue Kolumne. Von Regisseur und Puppentheaterkünstler Atif Mohammed Nour Hussein. Zum Auftakt gibt's eine Tour de Force durch 300 Jahre Hanswurstiaden und Kasperlekomödie, politisch und anarchisch. Puppenspielkunst als Piraterie an der Hochkultur.

Von Atif Mohammed Nour Hussein

28. Februar 2023. Wir klauen euch das hier jetzt alles. Nehmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Und alles, was wir hören und sehen können auch. Eure Paläste mögen verrammelt sein – doch, wo ein Wille, da ist ein Weg … Wir tragen es in unsere Kneipen, unsere Stuben, "umdüstert vom traulichen Dunkel des Tabakqualms" findet ihr uns: "Eine höchst anziehende Gesellschaft vor einer kleinen Bühne versammelt. Kutscher, Köchinnen, Kinder, Handwerksburschen, vorzüglich aber Mitglieder des Soldatenstandes und Studenten harren mit gespannter Neugier auf das Emporrollen des Vorhangs  …" (Anonym, Berliner Puppenspiel, 1835).

Neben einer Fülle an eigenen Erfindungen und Kreaturen, war das europäische Puppenspiel immer auch die buchstäbliche Piraterie an der Hochkultur.

Mozart-Arien als Gassenhauer

Prag, 1787. Wenige Wochen vor der Uraufführung des "Don Giovanni". Drinnen probt Mozart, unterstützt von Casanova höchstpersönlich. Also, angeblich. Draußen, unter den Fenstern lauschen freie Musiker und bringen binnen weniger Tage die "heiße Ware" unters Volk. Zur Premiere begleitet das Publikum im Oberrang sämtliche Arien summend … sehr zur Freude Mozarts, heißt es. Instant hits.

Es dauert nicht lang, bis erste Marionettentheater den "Giovanni" erobern. Oft auf die Höhepunkte gekürzt – wenig mehr als Estradenprogramme. Kaum ein Klassiker wird geschont: Goethes "Faust", Schillers "Carlos", Wielands Shakespeare-Übertragungen … die Liste der Puppen-Travestien ist endlos. Neben Familienunternehmen gründeten sich feste und fahrende Marionetten-Ensemble. Nie waren deren Aufführungen dem glitzernden Pomp des Adels und des reichen Bürgertums näher …

Verrat an Kasperl

Doch, offenbar, vergaßen die "Kleinkunstbühnen" dabei niemals ihre plebejische Herkunft. Die Stoffe, die sie sich eroberten, dienten nicht selten als Karikatur der herrschende Klasse – weniger als offensive politische Stellungnahme, eher als Selbstvergewisserung. Wenn der Obrigkeit eine Nase gedreht werden sollte, waren Kasper und seine Brüder Hanswurst, Punch, Guignol nicht weit weg. Nicht so elegant wie ihre italienischen Kollegen Pulcinella und Harlekin oder so melancholisch wie Petruschka, aber dennoch gewitzt, arrogant, nicht selten rüde auf den eigenen Vorteil bedacht, auch grausam, anarchistisch … bis Franz von Pocci kam, um Kasperl zu kultivieren. Was für ein Verrat!

Die "lustige Figur auf dem Theater" verkommt bei dem als "Kasperlgraf" namhaft gewordenen Münchner (1807–1876) zum Tölpel, zum Rassisten. Die "Naivität", mit der Poccis Larifari den "Wilden"begegnen muss oder den "Türken" ist nichts weiter als schlecht verborgene Verachtung gegenüber "Fremden". Musste Kasper ehedem noch schlauer sein als Mephisto, anmaßender als der Polizist, stärker als das Krokodil, so ist Poccis Kreatur, nur der Überlegenere, weil er von "hier" ist, ausgestattet mit den schlechtesten, billigsten Witzchen. Es reagiert nurmehr auf Oberflächen. Er muss nicht mehr die Qualitäten seiner Kontrahenten ergründen, um in dieser Welt zu siegen. – Papageno wusste noch, dass der Schwarze Monostatos nicht der Teufel sein kann, sondern ein Mensch sein muss.

Die schockierendste Bühnenshow der Welt

Paris, 1897–1962. Grand Guignol. Kaspertheater für Erwachsene. Die Gasse vor dem Theater mitten im Vergnügungsviertel Pigalle, die Rue Chaptal, ist voll mit hyperventilierenden Zuschauer:innen – und das sicher nicht (nur) wegen der einengenden Korsetts. Eher wegen der "schockierendsten Bühnenshow der Welt", einem allabendlich stattfindenden, nicht Wenige überfordernden Blutbad: "Bei der Sache mit dem Augapfel konnten die ersten Zuschauer nicht mehr. Sechs Leute", so berichtet der Autor Mel Gordon in seinem Buch "The Grand Guignol", "verließen den Raum, als eine Schauspielerin, die gerade ihr Auge verloren hatte, wieder auf der Bühne erschien – mit einem scheußlichen, roten Loch im Schädel ...". Apropos Schockerlebnis.

London, Sommer 1996. Waren Sie schon mal in London? In diesem Wachsfigurenkabinett, genannt "The London Dungeon"? Nein? Ja? Da wird zu jeder vollen Stunde eine öffentliche Hinrichtung während der Französischen Revolution nachgespielt. The Terror! Perfektes Bühnenbild. Marktplatz in Paris. Soundkulisse. Originalgetreu kostümierte Schauspieler:innen. Auftritt des Henkers. Die Guillotine ist präpariert. Das Opfer steckt schon in der Holzkrause. Das Todesurteil wird verlesen. Der Ausrufer zählt von zehn rückwärts … sechs, fünf, vier … drei, zwei … und … zack! ist es stockdunkel. Etwas Nasses, Warmes hat sie berührt, bespritzt … läuft über ihr Gesicht. Sie spüren die Feuchtigkeit durch den Stoff Ihrer Kleider. Sie können nichts sehen. Sie wagen nicht zu atmen. Sie wollen nicht, dass es wieder hell wird. Sie wollen nicht sehen, womit Sie bespritzt wurden. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Es wird Licht. Das können Sie trotz Ihrer zusammen gekniffenen Augen wahrnehmen. Sie müssen Ihre Augen öffnen, Sie wollen wissen … Und dann: Nichts! Ein paar Tropfen warmes Wasser in Ihrem Gesicht. Ein paar feuchte Flecken auf Ihrer Bluse … Unendlicher Spaß!

Zurück nach Paris. "Grand Guignol", irgendwo zwischen Mary Shelley und "Aktenzeichen XY ungelöst". Die menschliche Existenz scheint auf das Düstere, das Todesnahe reduziert. Das einst Obszöne wird das zu Feiernde. Indem das Töten vollständig ausgeleuchtet im Mittelpunkt steht, triumphiert das Leben in all seiner bizarr-lustvollen Grausamkeit über den Tod. Angst-Lust im Publikum zu provozieren, war eines der treibenden Motive der Inszenierungen. Der Erfolg maß sich an der Anzahl der Ohnmachten im Publikum pro Vorstellung. Eine Szene mit einer besonders realitätsgetreuen Bluttransfusion habe dabei den Rekord aufgestellt: 15 bewusstlose Besucher:innen.

Dabei war das "Grand Guignol" weit mehr als eine Erweiterung seiner hölzernen Kollegen und Vorläufer vom Jardin du Luxembourg. Deren Protagonist, Guignol, erfunden irgendwann zwischen 1804 und 1808 von Laurent Mourguet, war wohl der "Klassenbewussteste" seiner Art. Er wurde zum Sprachrohr eines ganzen Berufstands: der Seidenweber von Lyon (Mourguet war einer von ihnen).

Wie schreiende Kinder

Den Namen "Guignol" kannte in Frankreich jedes Kind: diese kleine Handpuppe mit Mütze und Fliege, der sein Haar zum Zopf gebunden trug wie seine menschlichen Vorbilder (eben jene Seidenweber von Lyon). Seine Abenteuer brachten im ganzen Land Kinder zum hemmungslosen Lachen, Weinen und Schreien. Und genau solche heftigen Reaktionen wollte der Gründer des "Théâtre du Grand Guignol", Oscar Méténier, früher Autor am "Théâtre Libre", auch bei Erwachsenen hervorrufen – egal, mit welchen Mitteln.

So wurde das Grand Guignol möglicherweise der erfolgreichste Gegenentwurf zum Mysterienspiel, zur deklamatorischen Comédie-Française und zum ausgeklügelten Prunk der Grand opéra. Schauen Sie heute ein splatter movie oder so manchen Tarantino, dann schauen Sie Grand Guignol.

Allerdings, eine unleugbare Realität sollte die Horrorshow einholen. Charles Nonon, der letzte Direktor erklärte nach erfolglosen Versuchen, seine frühere Bedeutung zurück zu erlangen, anlässlich der endgültigen Schließung des Theaters 1962: "Mit Buchenwald konnten wir nie gleichziehen. Vor dem Krieg glaubte jeder, dass die Geschehnisse auf der Bühne rein imaginär seien. Heute wissen wir, dass solche Dinge – und noch schlimmere – wahr sein können."

Fiese Münchner Puppen

München 1994. Erster Besuch im Puppentheater Museum. Böse Puppen hängen da. Fies. Empörend. Sorgsam verpackt. Gesichert. Unmöglich könnten sie noch Unheil anrichten. Hinten in den endlosen Weiten des Archivs. Doch vorn in den Vitrinen, da sind sie noch, Poccis "Wilde“ in Baströcken. Und deren Wiedergänger von Max Jakob, dem Gründer der Hohensteiner Puppenspiele. .

Prof. William Condee, Emeritus der Ohio Universitiy, benennt sie deutlich: blackface puppets. Und er konstatiert, dass diese Puppen der reinen Einbildungskraft (imagination) entspringen. "An imaginary person, place, or thing exists only in your mind or in a story, and not in real life." Eben so wie ihre angepinselten counter parts aus Fleisch und Blut in Schauspiel und Oper.

Rotkäppchen und der angenagelte Wellensittich

Erfurt, 1997. Theater Waidspeicher. Rotkäppchen … für Erwachsene. Ein Handpuppenspiel. Die Geschichte, wie wir sie kennen – mit einem kleinen Twist. Der Jäger ist über beide Ohren in die Großmutter verliebt. Die Großmutter missversteht seine tollpatschigen Avancen, widersetzt sich. Geht. Er, verstört, enttäuscht, nagelt wütend ihren geliebten Wellensittich an den Türbalken. Großmutter kehrt zurück, zieht Schlüsse. Entsetzt und voller Trauer fragt sie den Jäger, was das sollte. "Das war schon …", antwortet der abwehrend und trollt sich. Einer der schönsten, verwirrendsten Momente von Situationskomik den ich je im Puppentheater sah. Das Publikum stürzt sich flüchtend in Gelächter. Das Grausame seiner Tat verschwindet. Sorge mit der Großmutter. Empathie für den hilflos liebenden Jäger.

Angenommen wir töteten einander nicht im Park und nicht im Krieg, ließen einander nicht verhungern, vernichteten unseren Planeten nicht, stürben nur im Theater, ließen dort nur Sturzbäche von Blut sich ergießen und fielen unseren Sitznachbar:innen, nachdem Antigone, Ophelia und Julia sich aus ihren Theatergräbern erhoben, erleichtert weinend in die Arme – wie zutiefst politisch wäre dieses Theater.

 

Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.

Kommentare  
Kolumne Hussein: Dank und Nachfrage
Danke für diese Einführung in ein Theater von unten, der Text macht sich hörbar auf die Spur seines Gegenstands, kräftig und komisch.
(Leider habe ich die Anekdote aus Erfurt 1997 nicht verstanden: "Das war schon..." sagt der Jäger und meint damit was? Würde mich über eine Erläuterung freuen.)
Kolumne Hussein: Zustimmung und Antwort
@1. Eine Abkürzung von "Das war schon vorher da." (Ich hab den Wellensittich nicht angebracht.) So habe ich es verstanden. PS. Ich mochte den Text auch sehr.
Kolumne Hussein: Stimmt
@#1 Es ist genauso, wie 'Tim #2 es erklärt ...
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