Die den Staat erschießen wollen

4. März 2023. Von verbitterten Männern, die sich radikalisieren und in den "Widerstand" gehen, erzählt Lukas Rietzschel in seinem Stück aus der ostdeutschen Provinz. Jan Jochymski inszeniert nah an der Bautzener Lebenswirklichkeit entlang. 

Von Matthias Schmidt

"Widerstand" von Lukas Rietzschel am Theater Bautzen, inszeniert von Jan Jochymski © Miroslaw Nowotny

4. März 2023. "So etwas macht man nicht, weil der Bus nicht kommt. Es reicht. Es reicht schon lange." Das sind die letzten Worte aus Lukas Rietzschels "Widerstand", einem fein beobachteten Schauspiel aus der ostdeutschen Provinz. Es erzählt von verbitterten Männern, die sich radikalisieren, die in den "Widerstand" gehen, die zu Gewalt greifen. Zunächst jagen sie "denen da oben" mit einer Gewehrattrappe per Post einen Schreck ein, schließlich will einer von ihnen, Frank, sogar "den Staat erschießen". Deutlicher als in seinem ersten Roman, "Mit der Faust in die Welt schlagen", bezieht Lukas Rietzschel in diesem Stück dagegen Stellung. Es reicht. Die große Qualität des Textes aber ist es, dass hier nicht kämpferisch oder gar belehrend doziert wird. Im Gegenteil, hier lotet ein Autor die Grenzen der eigenen Toleranzfähigkeit aus.

Der Vorabend in der Dresdner Frauenkirche

Was das bedeutet, zeigt Lukas Rietzschel bereit am Vorabend der Premiere am Theater Bautzen in der Dresdner Frauenkirche, wo er mit Uwe Tellkamp über die Grenzen der Meinungsfreiheit debattiert. Wo er klug argumentiert mit einem Gegenüber, das von den rund 500 Zuschauern streckenweise viel Beifall erhält: wenn Tellkamp gegen das Gendern wettert, wenn er die "Einheitsmeinung" der "Journalunken" kritisiert und dabei gerne (zum Beispiel in den Reimen, mit denen er stur die ersten Fragen des Abends beantwortet) übers Ziel hinausschießt.

Lukas Rietzschel hält dabei einiges aus und widerspricht in entscheidenden Momenten. Aber er hört eben auch genau zu, er argumentiert und betont, dass er glaubt, wir sollten andere Meinungen aushalten, solange sie sich Fakten nicht entziehen. Dass der Dialog möglich bleiben muss, dass Ausgrenzungen und Herabwürdigungen keine Lösung sind. Dass es die nach dem Abend in der Frauenkirche dennoch gab, etwa in "Fazit" bei Deutschlandfunk Kultur, wo Tellkamps Haltung als "Empörungsfolklore von zu kurz Gekommenen" verspottet wurde, zeigt, wie vorbildlich solche Versuche einer Debatte sind. Denn nicht nur in der Frauenkirche war förmlich zu greifen, dass viele, sehr viele Menschen im Land verunsichert sind, verängstigt, vielleicht sogar wütend. Flüchtlinge. Pandemie. Klimakrise. Krieg. Inflation…

Es reicht!, sagt Isabell

Lukas Rietzschel hat das früh erkannt, und im Grunde ist das auch das Thema von "Widerstand": Wie gehen wir damit um? Wie lange hören wir zu? Wie lange argumentieren wir? Wann wird ein Dialog unmöglich? Wann verlieren wir Menschen? Die Raffinesse des Stückes besteht darin, dass man die späteren Bösewichte zunächst als gute Menschen kennenlernt. Vor allem Frank, der, wie gefühlt alle im Dorf, seinen Job verloren hat, der als Versicherungsvertreter irgendwann niemanden mehr findet, den er noch versichern kann und der damit selbst ohne Sicherheit dasteht. Der Sätze sagt, die von Arthur Millers Willy Loman stammen könnten. Und der, nicht zuletzt, so gut er es eben kann, seine sterbende Frau Manuela pflegt.

Widerstand2 Hensel Dolata Krajewski Foto Miroslaw NowotnyAbhängen oder Widerstand? Ralph Hensel. Erik Dolata und Niklas Krajewski © Miroslaw Nowotny

Frank wird bei alldem immer wütender, zum Beispiel, weil der Bus nicht mehr kommt, und schließlich ist er bereit zu morden. Bis dahin haben alle Verständnis mit ihm, voran seine Tochter Isabell, die aus Leipzig ins Dorf zurückkommt, die ihm verzeiht, dass er ein Verhältnis hat, die seine Stimmung aufhellt, ihn mit Erinnerungen an "früher" zumindest kurzzeitig zu einem, wenn vielleicht nicht glücklichen, aber doch weniger verbitterten Mann macht. Und irgendwann doch nicht mehr anders kann als zu sagen: Es reicht!

"Vielleicht werden wir ja mal Speckgürtel!"

Jan Jochymski inszeniert den Text unspektakulär, mit Tendenz zu bieder, aber das Prinzip geht auf. Die weit offene Bühne, auf der das Ensemble in geradezu naturalistischen Kostümen und wenigen, die Räume und Orte aber ausreichend andeutenden Requisiten spielt, ist gerade im richtigen Maß dran an der Lebenswirklichkeit der Bautzener Zuschauer. Sie erkennen sich, ohne vorgeführt zu werden. Auf einer Berliner Bühne würde manche sie vielleicht als Karikaturen wahrnehmen, hier sind sie – ganz unironisch – Menschen wie du und ich.

Widerstand Adler Foto Miroslaw NowotnyZwischen Leipzig und dem Dorf: Maja Adler als Isabell © Miroslaw Nowotny

Bevor es gegen Ende lauter und emotionaler wird, kann Jochymski zudem auf die Komik vertrauen, die Rietzschels Stück innewohnt. Die Szenen mit Isabell, Franks Tochter, die in Leipzig Ärztin wurde und nun weder hier noch dort dazugehört, und ihrem Schulkameraden Sebastian gehören zum Komischsten, was seit Oliver Bukowski aus der ostdeutschen Gegenwartsdramatik zu hören war. Etwa, wenn Sebastian Isabell vorschlägt, den alten Bahnhof auszubauen, und sie ihn fragt, wer da denn wohnen soll. Sebastian: "Vielleicht werden wir ja mal Speckgürtel!" Streckenweise jagen sich diese Pointen, und irgendwann kommen sie im Publikum an. Es darf gelacht werden! Dass auch Wut als Reaktion bereitsteht, klingt zweimal kurz an, wenn einzelne Zuschauer Szenenapplaus versuchen, als Frank und seine Kumpels über die Politik herziehen. "Dazwischen sein ist nicht so einfach", hat Lukas Rietzschel mal gesagt. In diesem Stück, in dieser stimmungsvollen, die Szenen durch Musik trennenden Inszenierung geht diese Haltung auf.

Enttäuschungen aus 30 Jahren

Der Abend biedert sich weder plump an, indem er nur die Leipziger, die "Städter" zu einer Lachnummer macht. Die Tische aus alten Eisenbahnschwellen kaufen würden, und die, die sie herstellen, aus Dingen, die in ihrer Welt als Müll gelten, dennoch als Hinterwäldler beschmunzeln. Der Text moralisiert nicht, er hat Witz und Verständnis und zeigt einfühlsam die Enttäuschungen vieler aus den letzten 30 Jahren. Er zeigt facettenreich das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft – zum Beispiel Stadt und Land oder Dienstleistungsprekariat und Beamte –, und zugleich legt er den Finger in die Wunde. Sagt: "Es reicht!"

Da wäre eigentlich Schluss. Jan Jochymski setzt aber noch einen drauf. Er lässt Isabell die Wut-Sätze sprechen, die in Rietzschels Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" ein junger Nazi spricht. Jetzt richten sie sich offenbar gegen die Wutbürger: "Manchmal möchte ich auf alles einschlagen, richtig rein mit der Faust, bis alles blutet." Auf den ersten Blick passt das perfekt, auf den zweiten wirft es Fragen auf. Die, auf den dritten, im verdientermaßen großen Schlussapplaus untergehen.

Widerstand
von Lukas Rietzschel
Regie: Jan Jochymski, Ausstattung: Katharina Lorenz, Dramaturgie: Evelyn Günther, Regieassistenz: Simone Marwitz.
Mit: Ralph Hensel, Maja Adler, Erik Dolata, Katja Reimann, Niklas Krajewski.
Premiere am 3. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-bautzen.de


Kritikenrundschau

"Nun kann man dem Autor die jüngsten Krisen samt sächsisch vermasseltem Strukturwandel, die quasi seinem Sujet von der Genese bis zur Aufführung auf der Überholspur in die Quere kamen, nicht vorwerfen. Aber ein wenig mehr Analysesubstanz in die Tiefe täte dem Text schon gut", schreibt Andreas Herrmann in den Dresdner Neuesten Nachrichten (6.3.2023). "Wer am Wochenende aus diversen Gründen das Erlebnis abendlicher Zugfahrten in der Region genießen konnte, durfte durchaus bemerken, dass die Lage nicht ganz so trübe wie verstörend ist. Trotz horrender Nahverkehrspreise in dem durch zwei Verkehrsverbünde sinnfrei getrennten Ostsachsen ist ein Teil der Jugend quicklebendig unterwegs und diskutiert lautstark Herkunft, Gegenwart und Zukunft." Dass die Volksvertreter und Theaterleute samt Publikum diese Art von Bürgersprechstunde nicht wahrnähmen, bleibe ihr Problem. "Insofern wird dieser „Widerstand" trotz gutem Ansatz und veritabler Spieler sicher nicht sonderlich anhaltend oder gar nachhaltig wirken (können)." Auch das Spiel auf der nahezu leeren Bühne, in der jeder nur ein Requisit habe, wirke oft als "einsame Proklamation".

Ganz anders hat die Aufführung Rainer Kasselt wahrgenommen und schreibt in der Sächsischen Zeitung (6.3.2023): "In 'Widerstand' agieren Männer und Frauen, die sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sehen. Präzise beschreibt sie der Autor als widersprüchliche Charaktere, nicht als Hinterwäldler. Er will herausfinden, weshalb sich Menschen vom Staat abwenden, zu Gegnern werden. Wo ihr Frust, ihre Verbitterungen und Gewaltfantasien herrühren. Antworten hält Rietzschel nicht bereit. Er betont die Probleme." Regisseur Jan Jochymski erzähle das Stück klar und verständlich. "Er vertraut den meisterhaften Dialogen und Monologen. Die Tristesse der Verhältnisse lockert er mit Humor auf." Das Publikum danke mit langem Beifall für die "mutige, anspruchsvolle Aufführung". "Hinterher sieht man Zuschauer in kleinen Gruppen diskutieren. Besseres kann einem Theater nicht passieren."

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