Wer ist diese Frau?

5. März 2023. Vier nicht näher charakterisierte Figuren – A, B, C, M – sprechen in Sarah Kanes vorletztem Stück "Gier" gegeneinander an. In Zürich nimmt Christopher Rüping die Redewendung von den Stimmen im Kopf wörtlich – und schafft einen beeindruckenden Dialog aus Mimik und Worten.

Von Valeria Heintges

"Gier" am Schauspielhaus Zürich © Orpheas Emirzas

5. März 2023. Das Streichtrio spielt leicht verfremdet "Love will tear us apart" von Joy Division. Auseinandergerissen ist in Christopher Rüpings Version von Sarah Kanes "Gier" am Schauspielhaus Zürich aber nicht nur die Liebe. Sondern auch Text und Mimik. Den Text, den Kane auf die Stimmen A, B, C und M aufteilt, sprechen Maja Beckmann, Steven Sowah, Benjamin Lillie und Sasha Melroch. Kein Komma wird dabei weggelassen, nichts hinzugefügt, ganz wie es Kane verfügt hat. Doch die vier sitzen über lange Strecken in der ersten Reihe des Pfauen, man sieht sie nicht, nur wenn sie zum Sprechen aufstehen oder auf die Bühne gehen.

Verwunderung, Trauer, Wut

Was man aber sieht, auf einer großen Leinwand, 4,5 auf 4,5 Meter, ist das Gesicht Wiebke Mollenhauers. Sie sagt den ganzen Abend kein Wort, aber sie begleitet mit ihrem Gesichtsausdruck den Text. Dieses "Pulsieren zwischen Scham und Schuld", wie es einmal heißt. Mal kommentiert sie, mal demonstriert sie, zuweilen widersprechen die von ihr gezeigten Gefühle auch der Sprache. Sie macht das unfassbar großartig. Das Gesicht ist durchlässig, offen für jede Regung, eine riesige Projektionsfläche. Es zeigt Verwunderung, Trauer, Wut, Ärger, Erheiterung, Schmerz, Angst. Man kann die Augen nicht abwenden von dieser Schauspielkunst der Extraklasse. Fast immer schaut Mollenhauer ruhig und mit unbewegtem Kopf in die Kamera. Wenn sie dann den Kopf dreht, erschrickt man fast. Wenn sie aus dem Bild herausschaut oder gar ihr Haar löst oder geschminkt wird, bekommt das – so gegensätzlich zum stillen Schauen – eine ungeheure Bedeutung, wirkt wie ein Beben, ein Ausbruch.

Was dieses stumme Gesicht von den vier Stimmen zu hören bekommt, ist harter Tobak. Von sexuellem Missbrauch ist die Rede, an einem Kind, im Beisein des Vaters. Immer wieder geht es um Vergewaltigung, um Schmerzen, um Gewalt. Um Brutalitäten, die die Eltern einander zufügen, Traumata, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, bis keiner mehr weiß: Habe ich das erlebt, geträumt, gehört? Oder habe ich die Erinnerung meiner Mutter zu der meinen gemacht?

Gier OrpheasEmirzas uWiebke Mollenhauer © Orpheas Emirzas

Aber wer ist diese Frau, der wir so schamlos dabei zuschauen, wie sie oft leidet, sich selten freut, wie sie weint, lautlos schreit, wütet? Die eine lange, romantische Liebeserklärung bekommt, für die sich ihr Lover (Benjamin Lilie) wörtlich nackig macht? Er hört nicht auf mit den Beteuerungen, bis er weit über jede Grenze des Kitsches und der Glaubwürdigkeit hinausgeschossen ist.

Spielt Mollenhauer die Autorin selbst?

Hört sie nur die Sinfonie oder Kakophonie ihrer eigenen inneren Stimmen? Diese Sinfonie, die in Zürich auch in Musik übersetzt wird von einem Streichertrio (Jonathan Heck, Coen Strouken, Polina Niederhauser) und von Musiker Christoph Hart an Minikeyboard und den Reglern, der oft einen Rhythmus wie einen Herzschlag unter das Werk legt? Ist sie das Objekt der Begierde, der Sehnsucht? Zeigt sie – übermächtig und unerreichbar fern – einen unbändigen Wunsch nach Liebe? Oder ist das doch eine zu große Banalisierung der Kane'schen Wortkaskaden?

Gier Orpheas Emirzas 15Die vier von der Wort-Tankstelle: Sasha Melroch, Steven Sowah, Maja Beckmann, Benjamin Lillie; im Hintergrund Wiebke Mollenhauer © Orpheas Emirzas

Die schließlich wenden sich auch gegen Bedrohung von außen, muss der Mensch doch nicht nur seine Gedanken, seine Affen im Kopf bändigen, sondern auch noch mit Katastrophen von außen klarkommen. "Wenn ich hier sterbe, dann hat mich das Tagesprogramm im Fernsehen ermordet", heißt es bei Kane. Oder ist die Frau eine Autorin, die dem lauscht, was sie selbst geschaffen hat? Was sie oft nur kopfschüttelnd und missbilligend zur Kenntnis nehmen kann? Ist sie die Autorin Kane selbst, die sich – von Depressionen geplagt – in Therapie begeben und in Sitzungen ihre inneren Dämonen aufrufen muss? "Gier", uraufgeführt 1998, ist Kanes vorletztes Stück, bevor sie 1999, 28-jährig, nach mehreren Versuchen einer Selbsttötung erlag.

Die Dämonen sind gebändigt

Rüping ist klug genug, den Zuschauer:innen die für sie passende Antwort selbst zu überlassen. Denn es gibt viele Gründe, warum sich diese Frau schließlich erst die Sprachfähigkeit der anderen zunutze macht, um ihre Wut herauszuschreien. Als die ihr aber – nun zu schwarzen Gestalten geworden mit Pappmasken auf dem Kopf – zu sehr auf die Pelle rücken, steht sie auf und verlässt laut lachend die Bühne. Am Ende wird sie ihren Weg finden. Wohin, sei nicht verraten. Das Programmheft vermerkt einen herzlichen Dank an Helena Hefti Wenger "für das Eisbade-Coaching".

Lange hält Christopher Rüping die selbst gesetzte Spannung, kann er doch nicht nur mit Wiebke Mollenhauer auf starke Akteure setzen. Mit den Masken, mit Schattenspielen, mit einem Fernsehbildschirm als Hilfe für eine Art Text-Karaoke gelingen ihm großartige Bilder. Lediglich als Mollenhauer die Bühne verlassen hat und die vier ohne ihre Gefühlsübersetzerin auskommen müssen, geht der Text ein wenig baden, sprechen sie ihn, als wüssten sie nicht recht, was sie noch damit sollen. Die Autorin hat sich von ihrem Text emanzipiert, Sarah Kane ihre Dämonen gebändigt, die zu Therapierende ihre Therapie für beendet erklärt, das Team ein hoffnungsmachendes Zeichen gefunden. Wiebke Mollenhauer nimmt den tosenden Applaus in einer Außenstation vor einer Videokamera entgegen.

 

Gier
von Sarah Kane
Deutsch von Marius von Mayenburg
Inszenierung: Christopher Rüping, Bühnenbild: Jonathan Mertz, Kostümbild: Lene Schwind, Musik: Christoph Hart, Streichtrio: Jonathan Heck, Coen Strouken, Polina Niederhauser, Video: Emma Lou Herrmann, Live-Video: Wilf Speller, Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Moritz Frischkorn.
Mit: Benjamin Lillie, Maja Beckmann, Sasha Melroch, Wiebke Mollenhauer, Steven Sowah.
Premiere am 4. März 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch


Kritikenrundschau

"So beeindruckend die Inszenierung – die, zugegeben, da und dort Straffungen vertragen könnte – insgesamt war: Vor dem spektakulären Kaltbaden-Gag (man muss es fast so sagen) verblasst alles andere", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (online am 5.3.2023). In großartigen anekdotischen Momenten veranschauliche Rüping immer wieder, wie sich Menschen ver(b)rennen, wenn sie sich einander annähern wollen. "Etliche derartige Highlights akzentuieren die individualistische, bisweilen freilich etwas zerfasernde Jeremiade", so Kedves. "Mal berührt sie uns mit ihren Wogen des Leids, mal scheinen ihre toxischen Vibes die Aufführung selbst zu vergiften. Und wir träumen von einem Sommerschwumm im See."

"'Gier' erweist sich weniger als Plot, der den Geist fesselt, denn als Vexierspiel, in dem die einzelnen sprachlichen und optischen Momente durch die Vorstellungskraft erst in sinnhafte Zusammenhänge gebracht werden müssen", schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (6.3.2023). "Die sprachliche Fuge aber nimmt immer mehr Fahrt auf. Sie wird nicht nur von der Musik angetrieben, sondern auch von ihrem Anliegen: von der Liebe." Wenn man am Ende – nach dem Ende der Liebe – als Zuschauer "müde geworden" sei "von der eigenen geistigen Arbeit", halte der Abend eine "spritzige Pointe" bereit.

"Dass sich das Schauspielhaus Zürich, das zuletzt mit Diversitätsdebatten auf sich aufmerksam gemacht und noch den blutrünstigen Stoff der Nibelungen zum friedfertigen Narrativ umgedeutet hat, überhaupt mit dieser Dramatikerin beschäftigt, die ihrem Leben mit 28 Jahren ein Ende setzte, überrascht. Es überrascht dann aber nicht, dass Rüping und sein Team alles daran gesetzt haben, Kanes schwarzes Oratorium zu entschärfen", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (6.3.2023). Die Schere zwischen Kanes Sätzen und dem zunehmend theatral belebten Setting klaffe im Lauf des Abends immer weiter auf. Und beim Finale mit Eisbaden im Zürisee fragt Schulte sich: "Sarah Kane: War da was?"

Rüpings Umsetzung von Sarah Kanes "Gier" gehöre "zum Faszinierendsten, was man seit Langem auf dem Theater sah", findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (7.3.2023). Rüping nehme das Musikalische des Textes auf. In Mollenhauers Gesicht sehe man "detaillierteste Nuancen des Reagierens auf die Worte, die man hört, das Gesicht wird zum Spiegel der eigenen Emotion, es saugt einen auf, pure Faszination". Alles sei "eine Zumutung, alles ist Schmerz, aber ohne jede Larmoyanz".

Björn Hayer vom Freitag (7.3.2023) ist überwältigt. "Manche von Rüpings Bildern muten grotesk an, andere reichen so nah an das echte Dasein heran, dass es unsagbar wehtut. Schmerz und Verzweiflung werden physisch spürbar. Missen wollen wir diese wenig erbauliche Mixtur indes nicht. Eine solche Intensität, wie sie nur wenige Regisseure erzeugen können, erfordert nichts anderes als pure Hingabe."

Salomé Meier von der FAZ (8.3.2023) erlebte einen magischen Moment. Die Kritikerin ist beeindruckt von Wiebke Mollenhauer: "Ein Gesicht, so nackt und verletzlich und mit einer Mimik wie ein äußerst sensibler Seismograph."

Kommentare  
Gier, Zürich: Tief berührt
Ich bin noch immer tief berührt von der gestrigen Vorstellung am Nachmittag. Das Hören der Stimmen, wenn sie zu ihr sprechen und die Veränderung in der Mimik Wiebke Mollenhauers Gesicht von Wut, Schmerz,Trauer, Verletztheit, Lachen...und wiederum Wirkung auf die Zuschauenden...
Eine wahnsinnig beeindruckende schauspielerische Präsenz und Spannung die gehalten wird. Ich weiß nicht, wann ich im Theater so gefühlsmäßige Achterbahnfahrten und Nähe als Zuschauer erlebt habe.
Aus der Inszenierung und der Agieren aller Spielenden ist ein großer Zusammenhalt, eine tiefe Menschenliebe und Achtung, Offenheit und Mut spürbar. Wobei: eigentlich bei allen Inszenierungen von Christopher Rüping.
Gier, Zürich: Enttäuscht
Ich bin nach Zürich gefahren, weil ich Sarah Kane mag und gehört und gelesen hatte, dass die Inszenierung in Zürich sehr eindrücklich und gut gelungen sei. Dem war/ist nicht so, ich bin enttäuscht, fand den Abend über weite Strecken ehrlich gesagt eher langweilig. Die abschliessende Schwimmeinlage im See ist zwar spektakulär und zweifellos sehr mutig, aber mehr als ein Gag war das für mich nicht. Alle haben sich sicher viel Mühe gegeben, aber wirklich sensibel empfand ich den Umgang mit dem Text nicht und unter die Haut gegangen ist mir das Spiel auch nicht.
Gier, Zürich: Ein anregender Abend
Eine meiner Thesen lautet: Die Inszenierung ist nach dem Lesen des Programmhefts (5 CHF) besser zu verstehen. Zugänglicher.

Die Schauspielerin Wiebke Mollenhauer spielte eine beeindruckende Vielfalt an Emotionen, die sich an ihrem Gesicht, an einzelnen Bewegungen deuten ließen. Sie war mutig genug, ins kalte Wasser zu steigen.

Ob sie auf den Text von Sarah Kane in der Übertragung eines Anderen, auf das Spiel der weiteren Schauspieler:innen, der Musiker:innen oder ... reagierte, läßt sich für mich nicht verifizieren.

Die weiteren Schauspieler:innen hatten stimmlich zumindest am Beginn der Inszenierung eine Distanz zum Text, was mich irritierte. Benjamin Lillie spielte später am Abend zeitweise in Kongruenz mit dem Text eine Rolle, die eines verzweifelten Liebhabers.

Rassismus ist in der Inszenierung sowohl textlich als auch durch die Besetzung ein Thema.

Das Maskenspiel, das Christopher Rüping als Stilmittel auch in Brüste und Eier einsetzt, blieb mir unzugänglich. Es schien mir als Stilmittel eigenwillig genutzt worden zu sein.

Ich vermisste die direkte Ansprache des Publikums, ein Stilmittel, das der Regisseur in mehreren anderen Inszenierungen nutzte. (In der Einführung gab es dazu einen Ansatz: "Stellen Sie sich ein Gesicht vor, das Sie sehr gut kennen. ...")

Den m Programmheft formulierten Wunsch, Sarah Kane möge zum Kanon auf deutschsprachigen Bühnen werden, möchte ich aufgreifen und mir Crave in der Inszenierung einer FLINTA wünschen.
Gier, Zürich: Hat mir nicht gepasst
Der Text hat mir nicht gepasst. Absurdes Theater früher war interessanter.
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