Videobotschaft von der Front

13. März 2023. Es ist die letzte Ausgabe des Festivals. Der (Kriegs-)Realität trotzen Künstler:innen bei "Radar Ost" mit starken Positionen. Das "So-tun-als-ob" mit bitterem Beigeschmack: Auch mitten aus dem Kriegsgeschehen heraus wird hier performt. Düstere Utopien, bleierne Erkenntnisse, aber Mitleid ist nicht angezeigt. Auch ganz neue Seiten der Realität schreibt das Festival.

Von Sophie Diesselhorst

 

"Ha*l*t" von Left Bank Theatre Kyiv bei "Radar Ost" am Deutschen Theater Berlin © Arno Declair

12. März 2023. Die russische Armee hat in der Nacht vom 8. auf den 9. März so massive Raketenangriffe auf die Ukraine gestartet, dass der Krieg mal wieder ganz oben in den deutschen Nachrichten stand. Auch in der Hauptstadt Kyiv wurde Luftalarm ausgelöst. Am Abend des 8. März wurde am Deutschen Theater Berlin das Festival Radar Ost mit der Uraufführung einer seit der russischen Invasion im Exil arbeitenden Theatergruppe eröffnet: "Ha*l*t" vom Left Bank Theatre Kyiv ist eine Koproduktion mit dem DT, wo die Inszenierung erarbeitet wurde. Die * stehen für die zwei Buchstaben "Me", die aus "Hamlet" herausgefallen sind – dem Stück, das eigentlich ab dem 24. Februar 2022 am Left Bank Theatre erarbeitet werden sollte. Der Krieg kam dazwischen und zersprengte die Kompagnie in Soldaten und geflüchtete Künstler:innen. Auf der Bühne suchen sie nun danach, sich wieder zu vereinigen und dem Geschehen in ihrer Heimat die Stirn zu bieten.

Eine Sinnkrise, größer als die von Hamlet

Sie probieren es zunächst mit Realitätsverweigerung: "Ha*l*t" beginnt als Publikumsgespräch nach einer imaginären Aufführung. Die Darsteller*innen befinden sich in einer alternativen Realität, in der kein Krieg wütet und sie ganz normal in Kyiv ihren "Hamlet" gespielt haben. "So tun als ob" bekommt so eine ganz neue, bittere Bedeutung. Natürlich halten sie das Theater-Spiel nicht lange durch. Und genau das ist Thema des Abends: Wie der Krieg nicht "nur" Leib und Leben der Ukrainer:innen bedroht, sondern auch Theatermenschen, vor allem Schauspieler:innen, nicht nur die materialle, sondern auch die immaterielle Arbeitsgrundlage entzieht, sie in so tiefe Sinnkrisen stürzt, dass selbst Oberzauderer Hamlet damit nicht konkurrieren kann.

RadarOst2023 Halt 1 ArnoDeclair uWie der Krieg auch die Kunst bedroht: Kateryna Kisten, Iryna Tkachenko, Maryna Klimova, Oleksandr Sokolov, Oleh Stefan in "Ha*l*t" © Arno Declair

Jeder Versuch, Shakespeare zu spielen, wirft sie unmittelbar auf sich selbst und ihre Situation zurück und zwingt sie dazu zu performen statt zu spielen, reduziert sie auf ihre Staatsangehörigkeit. Vom deutschen Publikum droht der mitleidige Blick auf die "armen Ukrainer:innen", so dass sie lieber gleich offensiv eine kleine parodistische Folklore-Schau anstimmen, bei der sofort das erste Volkslied von einer geträllerten Melodie zu einer geschrieenen Klage mutiert. Im Hintergrund ein Wald aus roten Tannenbäumen, wie einem Alptraum entstiegen. Und die Alptraumstimmung lässt sich auch nach dem "Aufwachen" des Ensembles nicht wegwischen – als DT-Zuschauerin denkt man an das Edgar-Allan-Poe-Zitat, mit dem Regisseur Sebastian Hartmann stets seine Inszenierungen eröffnet: "All that we see or seem / Is but a dream within a dream."

Welch Luxus, das selbstbewusst postulieren zu können, welch Misere, da hineingeworfen zu sein wie diese kraftvollen, nuancenreichen Schauspieler:innen, die tapfer darum kämpfen, weiterhin einen Sinn in ihrer Arbeit zu sehen und ihn sich am Ende abholen von einem Darsteller, der den Fortinbras spielt, aber nicht in Berlin auf der Bühne, sondern per Videobotschaft von der Front, denn er ist mittlerweile Soldat: Seine Präsenz auf der Leinwand macht die Kriegsrealität absolut unleugbar, doch seine Botschaft ist eine hoffnungsvolle, denn trotz Soldatenuniform als einzig möglichem Kostüm nimmt er seine Aufgabe ernst, ist er für einen Moment lang Fortinbras, der norwegische Prinz, der nach Hamlet kommt, mit dem das Stück endet, in eine – immerhin – ungewisse Zukunft hinein.

Auch die Kunst ist eine Waffe

Von einer "Art Front" ist bei der Festivaleröffnung die Rede, davon, dass auch (Theater-)Kunst eine Waffe ist, mit der die ukrainische Kultur verteidigt wird. "Ha*l*t" geht an die Art Front und nimmt das Publikum gleichzeitig mit in die bittere Erkenntnis, um welchen Preis die Künstler:innen hier kämpfen, wie sehr es sie verbraucht, über nichts anderes sprechen zu können als den Krieg. Beim vorigen "Radar Ost"-Festival 2021 waren sie zu Gast mit Bad Roads, wo es auch schon um diesen Krieg ging, aber damals hatte er noch nicht das ganze Land erfasst, war es also noch eine freiwillige Entscheidung, sich damit auseinanderzusetzen.

Auch die Arbeit des Belarus Free Theatre ist geprägt von der politischen Realität, in diesem Falle in der Lukaschenko-Diktatur. Die Truppe probierte jahrelang zwischen Minsk und London und spielte in Minsk an geheimen Orten. Seit 2021 befindet sie sich geschlossen im britischen Exil und hat mit "Dogs of Europe" nach dem Roman von 2017 des (ebenfalls im [österreichischen] Exil lebenden) weißrussischen Autors Alhierd Bacharevič ihre nach langen Jahren erste in physischer Kopräsenz erarbeitete Produktion vorgelegt, Premiere war in London, Deutschlandpremiere nun beim "Radar Ost"-Festival.

Tour de Force durch den russischen Imperialismus

Im Jahr 2017 schreiben Schüler:innen einer belarussischen Dorfschule ihre Nachrichten an die Zukunft und verbuddeln sie in einer Zeitkapsel. Im Jahr 2049 findet ein Geheimagent die Zeitkapsel und schlägt so einen Bogen in die Vergangenheit, bevor im Roman ein neuer Eiserner Vorhang heruntergegangen ist zwischen einem autoritären russischen "Neuen Reich" und einem "Staatenbund europäischer Länder". Der Agent ist auf der Suche nach der Identität eines geheimnisvollen, in Berlin verstorbenen Mannes, der wahrscheinlich ein belarussischer Dichter war. Die Zeitkapsel bietet keine Auflösung, aber immerhin die Erkenntnis, dass es auch einfach keine Auflösung gibt. Und damit endet eine Tour de Force durch eine von russischem Imperialismus geprägte erfundene Zukunft, die gleichwohl erschreckend prophetische Parallelen zu unserer Gegenwart hat.

Die Reise durch Orte und Zeiten wird mithilfe von Videoprojektionen an die Bühnenhinterwand vollzogen, durch die Animationen geistern, die aussehen wie von Kinderhand gezeichnet und die Videobilder beleben. Das Ensemble spielt nicht nur, sondern ertanzt sich jede neue Dimension der Romanhandlung zur Live-Musik von Mark & Marichka Marczyk (Balaklava Blues) mit wummernden Elektro- und Livebeats und lautem, schneidenden Gesang. Zuweilen verschwimmen die Ebenen, weiß man als Zuschauerin nicht genau, ob man sich gerade auf dem Feld befindet mit dem Agenten oder in einer metaphorischen Exkursion.

RadarOst2023 Dogs of Europe 2 LindaNylind ujpgExkursion durch einen Kontinent: "Dogs of Europe" von Belarus Free Theatre © Linda Nylind

An denen hat die Gruppe einen Riesenspaß, wenn zum Beispiel in einer Trinkszene am Bühnenrand liebevoll und aufwändig laute Gluckgluckgluck-Geräusche erzeugt werden oder im großen russischen Angriffskrieg nicht nur an der Hinterwand im Video alles im Feuer versinkt, sondern auch zahllose rote Stoffbänder durch die Luft fliegen wie Pfeile. Das eindruckvollste, alle Sinne adressierende Bild der Inszenierung kommt gleich zweimal, wenn die Spielerinnen mit aufgeschlagenen Büchern auf die Bühne treten, deren Seiten in Brand stehen, und diese Bücher dann zuklappen, dass die Funken sprühen und einem im Zuschauerraum minutenlang der Rauch in die Nase beißt.

Es bleibt die Dunkelheit der Geschichtslosigkeit, denn dass es in der Mission des Agenten keine Auflösung gibt, liegt natürlich daran, dass es im "Neuen Reich" kein Vorher gibt, dass fast alle Beweise für eine weiter zurückreichende Geschichte vernichtet worden sind, bis auf die Zeitkapsel, die zwar am Ende keine spektakulären Erkenntnisse birgt, aber trotzdem wie ein prophetischer Akt des präventiven Widerstands wirkt.

Es gefriert das Blut in den Adern

"Slava Ukraini" rufen Darsteller:innen und Publikum beim Schlussapplaus, und die ukrainische Flagge wird hochgehalten in Solidarität – wie sowieso bei jeder Gelegenheit, die das Festival bietet, so auch nach dem Gastspiel aus Georgien, "Medea s01e06" von Paata Tsikolia, wo daneben noch die georgische und die EU-Flagge stehen; gerade erst vor ein paar Tagen wurde das Bild einer Frau ikonisch, die der Polizei bei den Protesten in Tiflis gegen ein (von der georgischen Regierung mittlerweile fallengelassenes) "Agentengesetz" nach russischem Vorbild die EU-Flagge entgegenhielt wie ein Schild.

Medeas Heimat Kolchis liegt im heutigen Georgien. Von heutigen Nationalisten wird sie zur Georgierin erklärt und vereinnahmt. Tsikolias "Medea s1 e6" löst sie aus einer dubiosen Heldinnenrolle heraus und porträtiert sie als Kämpferin und Mörderin, als Täterin und Opfer. Ihr Charisma wird verkörpert von einem stummen Chor aus sechs Tänzerinnen, die unabhängig vom machthabenden Patriarchat ihr eigenes Narrativ spinnen und in tiefen Schlaf verfallen, sobald Medea Kolchis verlassen hat. Brutaler als der abwesende Vater verkörpert der überanwesende, seine Schwester geradezu stalkende Prinz Absyrtus dieses Patriarchat, ein Loser, der seine Komplexe auf die starke Schwester projiziert und entweder nur nervig oder bedrohlich daherkommt, so dass man Medea den Bruch mit der Heimat nur eilig wünschen kann. Wie sie ihn dann vollzieht, indem sie ihren anderen, kleinen Bruder, das ihr vertrauende, sich an sie klammernde Kind umbringt, vor den Augen ihres Vaters, um diesem eine Lektion zu erteilen – es lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.

MedeaMedeas1e6 Juda Khatia Psuturi uMedea: Kämpferin und Mörderin, als Täterin und Opfer © Juda Khatia Psuturi

Die Inszenierung wird beim "Radar Ost"-Festival ohne Bühnenbild gespielt, das im Zoll hängenblieb, und vermag gleichwohl zu fesseln in ihrer stringenten Dramaturgie, mit einem starken Ensemble, das den Mythos ganz nebenbei ins Social Media Zeitalter verlegt, wo die Royal Family in Kolchis für Views über Leichen geht. Auch davon befreit Medea sich, wenn sie am Ende ihr Smartphone weggeworfen hat und auf der "Argo" gen Griechenland fährt, wo ihre Geschichte dem bekannten griechischen Mythos zufolge furchtbar weitergehen wird. Die Inszenierung konserviert sie nun aber im Moment des Flehens darum, von weiterem Leid verschont zu bleiben. Hält die Möglichkeit offen, dass die Orientierung gen Westen Gutes bringen kann. Und gibt einer der größten Frauenfiguren im "westlichen" Theaterkanon eine Biografie. Wo in "Dogs of Europe" Bücher verbrannt wurden, wird hier ein neues geschrieben.

Artists in Exile oder at War

"Artists at Risk" war das Motto des vorigen "Radar Ost"-Festivals, viele der Artists at Risk vom Herbst 2021 sind jetzt Artists in Exile oder gar at War. Eine weitere ukrainische Gruppe an der "Art Front" ist das Dakh Theatre, von dem zwei musikalische Arbeiten in Berlin gezeigt werden, eine davon in einem Kyiver Bunker entstanden, die andere im französischen Exil. "Danse Macabre" lässt sich auch auf Youtube als Stream von einer der Vorstellungen in Frankreich nachschauen. Das Internet ist ein zunehmend wichtiger Ausspielort, schließlich sind nicht nur die Künstler:innen verstreut, sondern auch ihr Publikum. In Berlin bot das Festival den Communities aus den Gastländern Ukraine, Belarus, Georgien und Slowenien wertvolle Bezugspunkte, mit den eingeladenen Arbeiten und einem umfangreichen Rahmenprogramm mit Lesungen, Party und einer Meme-Ausstellung

RadarOst2023 DanseMacabre 3 OleksandKosmach u"Danse Macabre" von Dakh Theatre © Oleksand Kosmach

Einige der eingeladenen Künstler:innen waren nicht zum ersten Mal zu Gast: Es ist ein Verdienst des 2018 von Birgit Lengers gegründeten Festivals, dass es Arbeitsbeziehungen vertieft und neue gestiftet hat, auch jenseits des Festivals. Nun ist nach der letzten Ausgabe Zeit für Neues – die designierte DT-Intendantin Iris Laufenberg hat angekündigt, "Radar Ost" nicht fortzusetzen. Hoffentlich gilt das nicht auch für den Blick in die produktiven Theaterländer und -szenen, die das Festival in fünf sehenswerten Ausgaben ermöglicht hat.

Radar Ost Festival
8.3. bis 12.3.2023
Festivalkuratorin: Birgit Lengers, Produktionsleitung und Co-Kuratorin Rahmenprogramm: Alina Aleshchenko.
Projektleitung Christine Drawer Technische Leitung Marco Fanke Festivalkoordination Marie Speckmann

Ha*l*t
Kooperation mit dem Left Bank Theatre, Kyjiw/Ukraine für RADAR OST 2023
Regie: Tamara Trunova
Premiere am 8.3.2023

Dogs of Europe
nach dem Roman von Alhierd Bacharevič
Eine Produktion des Belarus Free Theatre, Belarus/Großbritannien
Regie: Nicolai Khalezin

Medea s01e06
von Paata Tsikolia
Gastspiel des Royal District Theatre, Tiflis/Georgien
Koproduktion mitGRTN - Georgian Regional Theatre Network
Regie: Paata Tsikolia 

www.deutschestheater.de/programm/a-z/radar-ost-2023

 

Mehr zum Thema:

Hier finden Sie Interview, Inszenierungen und Berichte zu unserem Ukraine-Schwerpunkt.

Unser Theaterbrief aus Georgien skizziert die Theaterlandschaft am Kaukasus und diskutiert auch die Produktion "Medea s01e06".

 

Kritikenrundschau

Das "Radar Ost"-Festival ist für Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (€ | 13.3.2023) "in diesem Jahr ein einziges bitteres, wütendes Manifest". "Wenn die etwas inflationäre Rede vom Theater-Empowerment, der Selbstermutigung mit Mitteln der Kunst, irgendwo ihre Berechtigung hat, dann hier – trotz der öfter arg wuchtigen Ästhetik der Theateraufführungen mit voller Pathosdröhnung und Extra-Ausrufezeichen."

Christine Wahl hält im Tagesspiegel (13.3.2023) das Statement von DT-Intendant Ulrich Khuon fest, dass "Kunst einerseits weniger, auf einer anderen Ebene aber auch mehr könne als Politik – nämlich die Wirklichkeit 'überformen' und so andere Reflexionsräume schaffen (...)". In der Produktion "Ha*l*t" würden "Fragen um Sein, Kunst und Gewissen" gestellt, "die Namen im Krieg Getöteter gerufen, schuldbewusst die eigene Kunstausübung dagegengehalten"; "Dogs of Europe" zeige eine "vollendete Dystopie".

Ein "sehr ehrlicher Festivalauftakt" sei mit "Ha*l*t" gelungen, berichtet Barbara Behrendt auf rbb|24 (11.3.2023). Das Stück "wirkt nachdenklicher, verlorener" als eine korrespondierende Arbeit, die jüngst an der Schaubühne zum Kiewer "Hamlet" lief. Hier bei Regisseurin Tamara Trunova "kriecht der Krieg übers Unterbewusstsein herein. Die Inszenierung ist jedoch auch verklausulierter, sperriger und extrem wortreich. In der deutschen Übertitelung zudem schwer zu entschlüsseln." Das Stück vom Belarus Free Theatre "Dogs of Europe" wiederum wirke ohne Kenntnis des zugrundeliegenden Romans "allzu kryptisch", die "energetische, körperliche, emotionale, auch pathetische Theatersprache" verbinde diese Produktion mit der Formensprache von "Ha*l*t".

"Der Weg der Bewusstseinswerdung bis zum völligen Begreifen, dass Krieg herrscht in der Ukraine und dass man nicht im eigenen Theater, sondern im Exil ist, wird durch eine kluge dialogische Situationskomik greifbar gemacht. Das Einbrechen einer komplett neuen, nicht fassbaren Realität, die jegliche Normalität außer Kraft setzt, wird gerade dadurch nachvollziehbar“, schreibt Katja Kollmann von der taz (13.3.2023) zu 'Ha*l*t'. 'Dogs of Europe' von Alhierd Bacharevič beschreibt die Kritikerin als schnellatmiges Gesamtkunstwerk.

Susanne Burkhardt von Deutschlandfunk Kultur (13.3.2023) resümiert: "Fünf Tage im Zeichen des Krieges und der Solidarität mit der Ukraine. Das war Radar Ost 2023. Mit Akteuren, die eine deutliche Botschaft haben, die von ihren Erfahrungen erzählen wollen und müssen. Manchmal etwas zu laut, zu pathetisch, überfordernd, aber dabei eben auch eindringlich und berührend. Ein wichtiger Blick in eine Richtung Europas, die wir zu lange zu wenig beachtet haben."

"Man muss hoffen, dass dieses Festival in Berlin, das für Osteuropa die Exilhauptstadt geworden ist, auch unter einer neuen Intendanz fortgesetzt wird", resümiert Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.3.2023) die vorerst letzte Ausgabe von Radar Ost. Ein Höhepunkt: die Produktion "Dogs of Europe" vom im Londoner Exil lebende Belarus Free Theatre.

 

Kommentare  
Radar Ost, Berlin: Medea-Collage
"Ha*l*t", die Reflexion über Kunst in Zeiten des Krieges, stellt ihren suchenden Charakter ganz offensiv aus. Stilmittel werden ausprobiert und verworfen, Wege beschritten, die sich als Sackgassen herausstellen, die Ebenen zwischen ausgefallener Produktion und Meta-Diskurs immer wieder gewechselt. Ein in sich geschlossener Abend entsteht daraus natürlich nicht, die Fragen und Zweifel stehen im Mittelpunkt.

Mit dem Worst Case-Szenario, zu dem Putins Angriff auf die Ukraine führen könnte, befasst sich „Dogs of Europe“ nach dem mittlerweile in Belarus Roman verbotenen Roman von Alhierd Bacharevič: Diese Dystopie beschreibt ein russisches Imperium, das sich neben der Ukraine auch Belarus, die Mongolei, Korea und Finnland einverleibt hat. An der Westgrenze zu Polen teilt eine neue Mauer den Kontinent, die EU ist in sich zerstritten und auseinandergebrochen, besteht 2049 nur noch als loser Völkerbund. In diesem tiefschwarzen Szenario droht dem europäischen Kontinent ein Verfall der Kultur, brennende Bücher flackern auf der Bühne.

In einem Mix aus Fantasy und Politthriller springt das 16köpfige Ensemble des Belarus Free Theatre zwischen den Zeiten und Orten hin und her. Die Compagnie agierte nach dem Verbot in Belarus zunächst im Untergrund und lebt mittlerweile im Exil, die aktuelle Produktion kam vor einem Jahr im Barbican Centre/London heraus. „Dogs of Europe“ ist ein dreistündiger Abend, der vor Theatermitteln geradezu überbordet. Von Volkstanz bis Rap, von Live-Video bis Slapstick fährt die Gruppe in schnellem Tempo vieles auf und springt zwischen den Handlungsebenen. Dementsprechend schwer ist es trotz Übertiteln, dem Plot zu folgen.

Etwas Komik und Leichtigkeit brachte das Royal District Theatre aus Tiflis, das dem Radar Ost-Festival seit der ersten Ausgabe 2018 verbunden ist, mit nach Berlin. Auch dass das Bühnenbild im Zoll hängen blieb, konnte das Ensemble nicht beirren. „Medea s01 e06“ ist ähnlich wie Christa Wolfs Roman „Medea. Stimmen“ als Collage mehrerer Stimmen angelegt, die über die Prinzessin und Kindsmörderin sprechen. Während die Titelfigur (gespielt von Ekaterine Demetradze) oft stumm bleibt, nimmt sich ihr Bruder Absyrtus (Sandro Samkharadze in leuchtendem Rot) um so mehr Raum. Er zieht über sie her, führt sie vor und mischt sich auch immer wieder mit frechen Sprüchen ins Publikum.

Rätselhaft bleibt die Rolle der stummen Tänzerinnen, die Medea und ihre Gegner auf der notgedrungen leeren Bühne umkreisen. Leider gab es nur am zweiten Gastspiel-Abend eine Einführung. Der Kontext, aus dem die Georgier ihre Medea-Version erzählen, erschließt sich erst, wenn man Hintergrundtexte wie z.B. Esther Slevogts Nachtkritik-Reportage über eine Tiflis-Reise im Herbst 2022 kennt: Paata Tsikolia und sein Team setzen der „Medea“-Rezeption in ihrer georgischen Heimat, die dort zum Beispiel mit einem 2007 am Hafen von Batumi als Symbol des Nationalstolzes gewürdigt wird, ihre Version des Mythos entgegen: „Die identitätsstiftende Funktion, die Medea für georgische Nationalisten und das aktuelle Selbstbild Georgiens hat, stört ihn schon lange“, berichtete Slevogt.

Die Abschluss-Produktion „Danse Macabre“ der Dakh Daughters beginnt gewohnt punkig, wird dann zur Totenmesse für die Opfer von Vergewaltigung und Krieg. In dieser 2022 im französischen Exil entstandenen Arbeit, die vor wenigen Wochen bereits bei den Lessingtagen in Hamburg zu sehen war, irren die Musikerinnen und Schauspielerinnen mit Rollkoffern zwischen Grablichtern umher und erzählen von ihrem Schmerz über Flucht und Verlust von Angehörigen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/03/09/radar-ost-2023-deutsches-theater-kritik/
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