Der Busch zwischen den Zehen

16. März 2023. Thomas Langhoffs berühmte Inszenierung "Die Übergangsgesellschaft" ist als Signaturstück der Wende in die Theatergeschichte eingegangen. Die Aufzeichnung von 1990 beschließt jetzt den DDR-Schwerpunkt der Reihe "Der historische Stream". Die Wiederbegutachtung fördert allerdings nicht nur das Selbstverständnis der DDR-Gesellschaft, sondern auch das bedrohliche Potenzial ihrer blinden Flecken zu Tage.

Von Atif Mohammed Nour Hussein

Signaturstück der Wende: "Die Übergangsgesellschaft" von Volker Braun, 1988 am Maxim Gorki Theater Berlin von Thomas Langhoff inszeniert

16. März 2023. Sie gilt als eine der großen Inszenierungen der späten DDR: Volker Brauns Tschechow-Überschreibung "Die Übergangsgesellschaft". Eine Ansicht der bleiernen Zeit, ein Stagnationsbild. 1988 am Maxim Gorki Theater Berlin aufgeführt, während der kalte Sound von "No Future" die Straßen und Hinterhöfe erfüllte, während die Häuser grau und grauer wurden, während die Jugend längst mit dem Staat und seinen Erlösungsversprechen abgeschlossen hatte. Die Bürgerbewegungen klopften schon an die Tür, in Polen wirkte die freie Gewerkschaft Solidarność als Fanal im Untergrund. Sie war 1982 verboten worden, dem Jahr als Volker Braun sein Stück schrieb.

Abgesang mit blinden Flecken

Die 1990 entstandene Fernsehaufzeichnung der Inszenierung von Thomas Langhoff ist ein Dokument der Vorwende- und der Nachwendezeit zugleich, ein Bild der verblassenden Zukunftshoffnungen, die sich mit dem Versprechen des Sozialismus verbanden. Eigentlich ein Abgesang. Es ist deutlich zu sehen, wie die Fernsehfassung die Bühnenfassung kommentiert, wie sie noch einmal in sich selbst hineinhört, nach Antworten sucht. Und wie bei jedem Dokument sind der Inszenierung zahlreiche Spuren eingeschrieben, nicht zuletzt solche, derer man sich seinerzeit kaum bewusst war, sichtbare Flecken, blinde Flecken.

Zum Ende des ersten Drittels ist da plötzlich diese unpassende Selbstzuschreibung. Man lamentiert über den Niedergang der Industrie, der Städte, der Kultur und der Dichter Anton (Uwe Kockisch, hier ganz Heiner Müller) konstatiert: "Wir werden zur Dritten Welt, wir merken es nicht, wenn uns nicht der Busch zwischen den Zehen wächst." Lakonisch fragt der Betriebsleiter Walter Höchst (Klaus Manchen) zurück: "Wir werden unsere eigenen N****, meinst du?" Kurzes, affektiertes Auflachen von Olga (Monika Lennartz)…

Es ist irritierend zu sehen, wie die Drastik dieses Bildes, dieser Kurzschluss gleichzeitig Ausdruck von Sprachlosigkeit und Selbstverliebtheit zu sein scheint. Später, zu Beginn des letzten Drittels flüchtet sich Walter in einen autoritären Albtraum. Mit wenigen groben Pinselstrichen wird er zum Anarchisten, Faschisten, Übermenschen. Reißt alle anderen Figuren mit sich und die Inszenierung kippt – von heute aus betrachtet – ins Peinliche, ins Anmaßende.

Dünner antifaschistischer Mantel

Die Sprache, die Volker Braun benutzt, die gesamte textliche Konstruktion und die spielerische Umsetzung sind sicher nicht rassistisch intendiert. Und dennoch komplett unreflektiert. Kurz bevor Walter nochmals, wiederholt das N-Wort fallen lässt, degradiert er Wilhelm, erklärt ihn zum Abschaum. Der ehemalige Revolutionär taugt nurmehr zum Schuhputzer. Anton wird von Walter gezwungen, Dr. Bobanz, der als der "jüdische Fabrikant“ herhalten muss, zu töten – den Juden zu töten. Ist das der dünne zivilisatorische, antifaschistische Mantel, der nach fast 40 Jahren DDR endgültig zerrissen wurde?

Die eben noch zaudernde, träumend um sich selbst kreisende Gesellschaft stilisiert sich zum Opfer der Verhältnisse, behauptet von sich, die Unterdrückten zu sein, zum Tod durch Arbeit verurteilte Versklavte, Schwarze. Die auf Zuckerrohrplantagen "zerschnitten“ werden. Unvermittelt steht da Albert Hetterle in blackface-Maskerade. Führt einen Chor der "Beleidigten und Erniedrigten“ an und lässt das Spiel mit kitschiger Absurdität und wirrem Pathos aus dem vorher gezimmerten Rahmen fallen.

Schau, Bruder, wir sind Dir gleich!

Diese theatrale Anmaßung hat einen Geburtsfehler. Einen unbewussten. Es ist nicht die Verteidigung des Willens zur Kolonisierung und der damit verbundenen Aufforderung zur absoluten Unterwerfung und auch nicht der Ruf nach deren Aufrechterhaltung, den der Kapitalismus beständig in die Welt brüllt. Es ist die Anmaßung, solidarisch zu sein, durch eigenes Erleben gleichsam empathisch zu sein: Du, Schwarzer Bruder, wir sind Dir gleich. Schau, unsere Haut ist Schwarz, wie Deine. Wie ein Streben nach Authentizität – zumindest gedanklich. Am Ende ist sie dann eben nur – im besten Falle – eine geborgte.

Und dann sind da auch diese vielfachen seltsamen Echos: Taboris "Kannibalen" sind plötzlich zu hören, Genets "Zofen", Fugards Bruderpaar aus "Blood Knot", Heiner Müller sowieso … Ulrich Khuon beschrieb Theater mal als "das verfügende Nachdenken über den Anderen“. Doch das ist die "Übergangsgesellschaft" gerade nicht – im Gegenteil. Es ist eher eine Nabelschau.

1968 erläuterte Volker Braun anlässlich der Uraufführung seines Stückes "Hans Faust“: "Das Hauptaugenmerk dieser Version ist, dass sie die anderen Versionen so sehr vergessen muss, wie die alte Praxis der Gesellschaft von unserer 'vergessen', überwunden wird." Die Technik der totalen transformativen Überschreibung funktionierte offenbar nicht mehr für die "Übergangsgesellschaft". Tschechow und seine apathischen Figuren müssen sichtbar bleiben, anarchisches Aufbegehren nur im Theater(t)raum. So ist es leichter zu übersehen, dass xenophobe, rassistische, antisemitische Feuer aller Orten in der DDR schon zu brennen begonnen haben.

Es scheint, als wären Volker Braun und Thomas Langhoff aus der Verzweiflung über eine verblendete, selbstverschuldet gescheiterte, in Teile zerborstene Gesellschaft in eine Falle getappt. Insofern ist die Inszenierung und die unbedachte Verwendung rassistischer Mittel beispielhaft für Vieles in der DDR. Im Zweifelsfall: Übertünchen, Verstecken, Beschweigen…

Spezifische Wendung

Vielleicht noch zu einem verwirrenden Element, das sich sowohl in Stück als auch Inszenierung versteckt und möglicherweise ein Schlüssel sein könnte, warum sich der ehemalige "Revolutionär Wilhelm Höchst" so affirmativ in die Rolle des Schwarzen Versklavten stürzen kann. Dem in der DDR philosophisch geschulten Autor Volker Braun müsste das Folgende bekannt gewesen sein: Karl Marx und Friedrich Engels definierten das Proletariat als das revolutionäre, emanzipatorische Subjekt der Geschichte. Eine spezifische Wendung, die der Begriff Proletariat erhielt und ihn von einer moralischen zur wissenschaftlichen Kategorie machte, war die Annahme, dass das Proletariat an der Spitze des historischen Fortschritts stehen und die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft aufgrund ihrer inneren Widersprüche zum Einsturz bringen würde.

Das "Kommunistische Manifest" von 1848 enthielt neben dem historisch-materialistischen Credo, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften eine Geschichte der Klassenkämpfe gewesen ist, auch eine Analyse der revolutionären Funktion des Proletariats. Entstanden durch die Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse der Bourgeoisie, werde das Proletariat die bürgerliche Gesellschaft in einem revolutionären Prozess beseitigen. Marx und Engels sprachen im "Manifest" von der "Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat" (MEW 4: 474). Kurz: Die Proletarier erlangen ein Bewusstsein ihrer klassenspezifischen Situation, werden so zu dem die Geschichte dauerhaft prägenden revolutionären Subjekt.

Lincoln, eiserner Sohn der Arbeiterklasse

Allerdings, diese Position eigenmächtig zu erlangen, sprachen Marx und Engels den versklavten Schwarzen, vor allem in den Amerikas, explizit ab. Sie ignorierten konsequent deren selbstermächtigte Beteiligung an den frühen Arbeitskämpfen in den USA. Mehr noch – Marx schrieb, im Namen des Zentralrats der Internationalen Arbeiterassoziation, anlässlich der Wiederwahl zum Präsidenten einen Gratulationsbrief an Abraham Lincoln. Darin heißt es: "[Wir] betrachten es als ein Wahrzeichen der kommenden Epoche, daß Abraham Lincoln, dem starksinnigen, eisernen Sohn der Arbeiterklasse, das Los zugefallen ist, sein Vaterland durch den beispiellosen Kampf für die Erlösung einer geknechteten race und für die Umgestaltung der sozialen Welt hindurchzuführen. […] Wenn Widerstand gegen die Macht der Sklavenhalter die maßvolle Losung Ihrer ersten Wahl war, so ist Tod der Sklaverei! der triumphierende Schlachtruf Ihrer Wiederwahl." (MEW 16)

Diese Ignoranz des oft als "Nebenkonflikt“ konstruierten Befreiungskampfes der Schwarzen in den Amerikas und später der Kolonialisierten auf dem afrikanischen Kontinent teilten auch viele innerhalb der intellektuellen Elite in der DDR, zu der Volker Braun, wenn auch als "angepasster Oppositioneller", zweifellos gehörte. Schwarze Menschen, Menschen of Color als gleichberechtigt zu betrachten, fiel offensichtlich schwer – trotz aller "internationaler Solidarität". Die überregulierte, freiheitsbeschneidende "Behandlung der Gastarbeiter:innen" in der DDR mag ein weiteres Indiz dafür sein. Umso leichter war deshalb, offenbar, die albtraumhafte Selbstdegradierung der Figur des Wilhelm Höchst.

"Jetzt machen wir aus und warten wie es weitergeht."

 

AtifMNHusserin privatAtif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur, Szenograf, Puppenbauer, Autor und nachtkritik-Kolumnist.



 

Die Übergangsgesellschaft
von Volker Braun
Geschrieben 1982. Uraufführung 1987, Theater Bremen, Regie Torsten Fischer. DDR-Erstaufführung, Maxim Gorki Theater, Berlin 1988, Regie: Thomas Langhoff.
Erstsendung der Aufzeichnung, DFF, November 1990.

Der Stream der Aufzeichnung vom 17. März 2023, 19.30 Uhr bis 18. März  2023, 19.30 Uhr beschließt den DDR-Schwerpunkt der Reihe "Der historischen Stream". 

www.nachtkritik.plus

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Kommentare  
Essay "Übergangsgesellschaft": Frühe Ignoranz
Leider haben wohl Intellektuelle in der DDR nie die komplexen Anmerkungen über die Hinderungsgründe bei der Umsetzung des Kommunistischen Manifestes gelesen, sonst hätten sie auch niemals ohne Einschränkung über die finale Eroberungs-Macht des Proletariats - wo auch immer und welcher Abkunft auch immer - parlieren können...
Insofern muss man das Einsetzen der Ignoranz bei ihnen schon eher ansetzen, nämlich bereits beim Lesen von Marx selbst... Das unterschied DDR-Intellektuelle von DDR-Intelektuellen,mit allen angenehmen wie unangenehmen persönlichen Konsequenzen - aber man weiß es nicht. Bis heute nicht.
Stream Übergangsgesellschaft: Bühne und TV
Wie nah sind die Dialoge der TV-Aufzeichnung von 1990 an der Theater-Premierenfassung von 1988 (v.a. zu den Themen Reisefreiheit und DDR-Systemkritik)?
Stream Übergangsgesellschaft: Für immer
Ich danke Ihnen von Herzen für die Zeitreisen und bitte Sie inständig,
"Die Rundköpfe und die Spitzköpfe" für immer zugänglich zu machen.
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