Antigone in Austria

19. März 2023. Josephine Soliman, eine Antigone im Wien des 18. Jahrhunderts: Sie legte sich mit dem Kaiser an, um ihren Vater Angelo Soliman, einen ehemaligen Sklaven, der zum Star der höfischen Gesellschaft aufstieg, beerdigen zu können. Dead Centre fabriziert aus dem packenden Stoff einen drögen Abend. Was ist schiefgegangen?

Von Petra Paterno

Safira Robens und Johannes Zirner in "Katharsis" von Dead Centre am Burgtheater Wien © Marcella Ruiz Cruz

19. März 2023. Weshalb geht man ins Theater? Um Körper auf der Bühne zu sehen. Diesen Befund trifft das britisch-irische Theaterduo Dead Centre in seiner jüngsten Uraufführung am Wiener Akademietheater namens "Katharsis". Körper am Theater, wer will da widersprechen? Aber, Gegenfrage: Welcher Erkenntniswert verbirgt sich darin, das Allereinfachste, das auf der Bühne passiert, herauszustreichen, als handle es sich um ein Mysterium? Die Einsicht bleibt äußerst dürftig, und das Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners ist bedauerlicherweise bezeichnend für den gesamten Theaterabend. 90 Minuten lang soll auf der Bühne ja kein Fehler begangen, soll niemandem wirklich zu nahe getreten werden, das geneigte Publikum darf das Augenfällige abnicken. "Katharsis" fasst das Thema Rassismus mit Samthandschuhen an – durchaus verständlich, aber keineswegs zum Vorteil der Inszenierung.

Phantastische Lebensgeschichte

Dabei ist der Ausgangspunkt vielversprechend: "Katharsis" rückt Josephine Solimans vergeblichen Kampf um ein würdiges Begräbnis für ihren Vater Angelo Soliman ins Zentrum einer Auseinandersetzung um Rassismus, Macht und Repräsentation. Die Idee dazu stammt aus dem Roman "Unrast" der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Bush Moukarzel und Ben Kidd, die Dead Centre-Masterminds, nehmen in ihrer Theaterarbeit häufig Maß an der Wirklichkeit, verweben gern Fiktion mit Fakten.

Die Lebensgeschichte von Josephines Vater mutet so fantastisch an, dass sie kaum glaubhaft erscheint: Mmadi Make, geboren um 1720 auf dem afrikanischen Kontinent, wahrscheinlich im heutigen Nordostnigeria, wurde als Kind von Sklavenhändlern nach Europa verschleppt. Als Angelo Soliman wurde er in Wien zur Berühmtheit, es gelang ihm, sich aus der Abhängigkeit zu befreien, und er verkehrte mit bekannten Personen der höheren Gesellschaft. Mit seinem Tod am 21. November 1796 wurde er jedoch wiederum auf sein Äußeres reduziert: Sein Leichnam wurde beschlagnahmt, die Haut präpariert, Soliman öffentlich zur Schau gestellt.

Antigone-Splitter und mehrere Handlungsebenen

Moukarzel und Kidd erblicken in Josephine Soliman eine moderne Antigone. Mit einem Dialog zwischen Antigone und ihrer Schwester Ismene aus dem antiken Drama beginnt der Abend; Safira Robens und Katrin Grumeth sind bekleidet mit weißen bodenlangen Gewändern und spielen mit den Rücken zum Publikum. Nach nur wenigen Minuten schert der Schauspieler Ernest Allan Hausmann aus seiner Statistenrolle aus und erklärt launig, weshalb er lieber kleine Rollen spiele, weil er dann weniger zu tun hätte, was ihm wiederum Gelegenheit gebe, das Publikum zu studieren.

Katharsis 2 MarcellaRuizCruz uErnest Allan Hausmann und Johannes Zirner als Anatomen © Marcella Ruiz Cruz

Das Hin und Her zwischen Handlungsebenen, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben, erhebt das Regie- und Autorenduo in Wien zum dramaturgischen Prinzip. Nach dem Antigone-Anlauf wird die Bühne zum Anatomiesaal. Die Schauspieler:innen entnehmen einer Plastikleiche Innereien, welche die Akte gleichsam strukturieren: Kapitel eins ist das Herz, darauf folgen Lunge, Gedärme, schließlich die Haut und die Rekonstruktion des Leichnams. Die anatomische Lecture-Performance wird durchkreuzt von Szenen, die Josephine Solimans Kampf um das Begräbnis illustrieren sollen. Dabei trifft sie etwa auf den Musikus Mozart, einen Freund und Schachpartner des Vaters (von Philipp Hauß lässig porträtiert) und Habsburger-Kaiser Franz II (den Ernest Allan Hausmann als arroganten Schnösel darstellt).

Satz um Satz zum Abnicken

Die Szenen fließen ineinander, laufen parallel, Live-Kameras werden gewitzt eingesetzt, die Aufführung versammelt die bekannten Dead Centre-Stilmittel. Allerdings macht sich das Unternehmen inhaltlich so unangreifbar, und das fünfköpfige Ensemble agiert dermaßen unterspannt, dass es zu deutlichen Längen und Durchhängern kommt. An einer Stelle heißt es: "Anatomen benutzten Schwarze Körper, um zu beweisen, dass sich Menschen voneinander unterschieden, aber bewiesen in Wirklichkeit, dass wir alle gleich sind." Und so geht es in einem fort, Absatz für Absatz kann man eigentlich nur abnicken. Weit und breit kein weiterführender Gedanke, der der Komplexität des Sujets gerecht werden würde.

Nach Dead-Centre-Maßstäben ist "Katharsis" ein dröger Abend. Üblicherweise besticht das Autoren- und Regieduo durch scharfen Humor, offenbart das Komödiantische der Hochkultur wie das Ernsthafte der Popkultur. In "Alles was der Fall ist" (2021) gelang dem Zweierteam in Wien zuletzt eine gefinkelte Versuchsanordnung des Wittgenstein‘schen Denkens – irrwitzig unlogisch war das. Das Schlussbild von "Katharsis" gerät dagegen nur mehr pathetisch: In schummriges grünes Licht getaucht, findet auf der Bühne ein Begräbniszeremoniell statt. Dabei wird Angelo Solimans richtiger Name ausgerufen: "Mmadi Make!" Dabei soll es sich um eine Form von Katharsis handeln? Ach, wenn es nur so einfach wäre.

Katharsis
Von Dead Centre nach dem Roman "Unrast" von Olga Tokarczuk
Regie: Dead Centre, Bühne: Jeremy Herbert, Kostüme: Mirjam Pleines, Musik: Kevin Gleeson, Licht: Marcus Loran, Video: Sophie Lux, Dramaturgie: Alexander Kerlin, Sensitivity Reading & Beratung: Daniel Romuald Bitouh (afrieurotext.at).
Mit: Ernest Allan Hausmann, Safira Robens, Katrin Grumeth, Philipp Hauß, Johannes Zirner
Live Kamera: Julia Janina Várkonyi, Andrea Gabriel.
Premiere am 18. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Margarete Affenzeller vom Standard (19.3.2023) ist beeindruckt. Sie sah eine "gelungene Verbindung von Anatomie- und Sprechtheater". "Was trägt ein Körper mit sich, das über das Physiologische hinausgeht? Wem gehört er zu Lebzeiten und im Tod? Welchen Wert misst man ihm bei oder eben nicht?" Fragen wie diese werfe der raffiniert gebaute Abend auf.

"Die Produktion der irisch-britischen Kompanie Dead Centre streifte zwar unter die Haut gehende Themen (Rassismus, Aufklärung, Reaktion), bot spektakuläre Bilder, wurde vom Ensemble sowohl couragiert als auch cool gespielt. Aber es rührte nicht", schreibt Norbert Mayer in Die Presse (20.3.2023). "Stattdessen erging sich die Regie bei ihren Gags in Schleifen der Wiederholung." Einige Ansätze seien wirklich gelungen gewesen, "schade!", so Mayer. "Bei entsprechender Fokussierung wäre mehr drin gewesen, hätte man sich ein wenig an alte poetologische Regeln gehalten, zumindest ein retardierendes Moment eingebaut oder gut Gemeintes ein wenig gegen den Strich gebürstet."

Eine typische "Dead Centre"-Mischung aus Fakten, Reflexion, Didaktik, Trivia und Varieté-Tricks, mit einigen Längen, aber auch mit beträchtlichem Zauber, sah Ute Baumhackl von der Kleinen Zeitung (20.2.2023). "Der Tote wird auseinandergenommen, die per Video übertragene Untersuchung von Herz, Lunge, Gedärmen, Haut zu seiner 'letzten Vorstellung'". Am Ende "herzlicher Applaus für das von Ernest Allan Hausmann und Safira Robens angeführte Ensemble."

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