Mit rotem Vorhang und Erfolgsgarantie

19. März 2023. Berlin in den 1920er/30er Jahren, das zieht auch fast hundert Jahre später noch: Wenn "Cabaret" auf dem Spielplan steht, dann kommen die Leute. Regisseur Calixto Bieito, der sich einst als Skandalnudel einen Namen machte, arbeitet nicht gegen den Popularitätsfaktor des Musicals an.

Von Thomas Rothschild

Gábor Biedermann, Paula Skorupa, im Hintergrund das Ensemble von "Cabaret" am Schauspiel Stuttgart © Toni Suter

19. März 2023. Es ist einer der Fälle, in denen die Verfilmung deutlich erfolgreicher wurde als die literarischen Vorlagen. Christopher Isherwoods "Mr. Norris steigt um" und "Leb wohl, Berlin" erschienen 1939, als das Deutsche Reich, Österreich, das Sudetenland und Polen für die Amerikaner weiter entfernt waren als es Russland und die Ukraine für die Deutschen heute sind. 

Bühnenhit meets ehemaligen Skandalregisseur

Isherwood hatte von 1929 bis 1933 in Berlin gelebt, aber seine Interessen lagen auf anderem Gebiet als beim Aufstieg Hitlers. Als dieser an die Macht kam, emigrierte der Engländer, der seine Homosexualität erst Jahre später öffentlich machte, auf Umwegen in die USA. Dort wurden seine im Berlin der 20er und frühen 30er Jahre spielenden Bücher mitsamt all dem, was die Geschichte ihnen hinzugefügt hatte, zu einem Musical gemacht, das von 1966 bis 1969 am Broadway lief. Anfang der 70er Jahre wurde es mit Liza Minelli erfolgreich verfilmt und wird auch heute weiterhin gerne im Theater gespielt, weil es das Publikum zuverlässig anzieht. In Stuttgart hat es nun Calixto Bieito inszeniert.

Der gebürtige Spanier gehört, im Sprech- wie im Musiktheater, zu den fleißigsten Regisseuren unserer Gegenwart. Einst galt er als Skandalnudel. Heute lässt sich konstatieren: die Besonderheit von Bieitos Stil besteht darin, dass es keine Besonderheit gibt. Er probiert immer wieder Neues aus, und seine szenischen Ansätze unterscheiden sich ebenso sehr voneinander wie die Stücke, die er sich wählt, von Purcells "Fairy Queen" bis zu "Bernarda Albas Haus", von "Parsifal" bis zu Horváths "Italienischer Nacht". Diesmal ist es das seltene Exemplar eines Musicals, das, in der Tradition von Joan Littlewood, Entertainment im emphatischen Verständnis mit einer politischen Botschaft verknüpft. Die allerdings wird mehr angedeutet als ausgeführt.

Ein Musical, das nicht auf sängerische Virtuosität setzt

"Cabaret" erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem amerikanischen Schriftsteller Cliff Bradshaw und der englischen Sängerin Sally Bowles. Das Stück beginnt zu Silvester 1931. Im Hintergrund betreten also die Nazis die Bühne, und ihre drohende Machtergreifung sprengt die Figuren und Liebespaare des Musicals am Ende auseinander. 

Dass Bieito am Schauspiel Stuttgart nicht mit den Musicals aus der Konserve, mit bis in die kleinsten Details lizenzierten Inszenierungen konkurrieren würde, war zu erwarten. Das müsste schon am Budget scheitern und an der Tatsache, dass der Regisseur nicht mit professionellen Sänger*innen arbeitet, sondern mit Schauspieler*innen, deren Kompetenz auf den Gebieten von Gesang und Tanz, nun, sagen wir: begrenzt ist. Das gehört aber zum Konzept und rückt "Cabaret" eher in die Nähe von Aufführungen der Brecht/Weill-Kollaborationen als von Musicals US-amerikanischer Provenienz. Hervorgehoben sei dennoch Elias Krischke als Conférencier, der tatsächlich singen kann und Joel Grey aus dem Film nachzueifern scheint.

Cabaret 5 ToniSuter uElias Krischke als Conférencier © Toni Suter

Zum Glück wurde beim Orchester nicht gespart. Es sitzt, kostümiert, auf einem Podium, das auf halber Höhe des Raums zwischengezogen ist, und sorgt musikalisch für Masse. Darunter findet das Cabaret statt, seitenverkehrt auf einer nach vorne in den Zuschauerraum verlängerten Bühne. Hinter dem roten Vorhang, der sie abschließt, sitzt im Halbdunkel das Cabaret-Publikum. 

Es ist nicht ganz klar, ob dieses Szenario eine Rekonstruktion aus der Realität der frühen dreißiger Jahre sein soll, eine Parodie oder eine Persiflage. Jedenfalls bietet die Inszenierung an, was man mit dem Begriff Cabaret (im Unterschied zum Kabarett) verbindet, und wer nackte Haut, Unterwäsche und die Kunstform liebt, für die sich der doppeldeutige Begriff "Travestie" eingebürgert hat, kommt auf seine Rechnung. Man könnte auch auf die Idee verfallen, dass, was da nach fast hundert Jahren reanimiert wird, eher von Verklemmtheit zeugt als von sexueller Befreiung.

Schwaches Libretto, starke Musik

"Cabaret" lebt – auch in Bieitos Fassung – von der Musik. Das Libretto leidet, genauer besehen, über weite Strecken an einer Belanglosigkeit und einer "Lustigkeit", die dem Stoff nicht angemessen scheint. So bleiben auch die im Grunde tragischen Liebesgeschichten zwischen Cliff Bradshaw und Sally Bowles sowie Fräulein Schneider und Herrn Schultz Fragmente. Wo der, teils deutsch, teils englisch gesprochene Text durchzuhängen droht, füllen Bieito und Juanjo Arqués mit einfacher Choreographie auf. 

Am Schluss wetteifern der Titelsong und andere Lieder des Musicals miteinander, darunter das Lied vom Miesnick, das der mittlerweile ausgegrenzte Jude Schultz – berührend durch seine scheinbare Unbeholfenheit: Michael Stiller – zuvor gesungen hatte. Das Orchester versinkt. Aus dem Graben ist ein Trommelwirbel zu hören. Blackout. Der Rest ist Geschichte.

Großer Jubel. Und kein Hauch von Skandal. Das Schauspiel Stuttgart, kein Zweifel, hat ab sofort einen Publikumsmagneten auf dem Programm.

Cabaret
Musical von Joe Masteroff (Buch), John Kander (Musik) und Fred Ebb (Gesangstexte)
nach den "Berlin Stories" von Christopher Isherwood
Regie: Calixto Bieito, Musikalische Leitung und Einstudierung: Marcos Padotzke, Nicholas Kok, Bühne: Calixto Bieito, Helen Stichlmeir, Kostüm: Paula Klein, Licht: Rüdiger Benz, Choreographie: Juanjo Arqués, Gesangscoach: Philipp Büttner, choreographische Assistenz: Daura Hernandez Garcia, musikalische Assistenz: Antonio Palesano, musikalische Dramaturgie: Barbora Horáková Joly, Dramaturgie: Ingoh Brux, Musiker:innen: Nicholas Kok, Sebastian Kiefer, Eckhard Stromer, Judith Goldbach, Karoline Höfler, Stefan Großekathöfer, Philipp Tress, Anne-Maria Hölscher, Janina Rüger-Aamot, Sabrina Buck, Johanna Hirschmann, Fabian Beck, Eberhard Budziat, Heike Rügert, Angela Weiß, Ruth Sabadino.
Mit: Elias Krischke, Paula Skorupa, Inga Krischke, Gábor Biedermann, Valentin Richter, Anke Schubert, Michael Stiller, Marietta Meguid, Klaus Rodewald, Boris Burgstaller, Carla Baumgartner, Marco Ciullo, Stella Covi, David Hegyi, Luis Hergón, Lara Sophie Neuser, Felipe Ramos, Ronja Sahra Steinacher.
Premiere am 18. März 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Es könnte der neue Spielplankracher werden", schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (20.3.2023). "Dabei war es durchaus riskant, ein Musical wie 'Cabaret' zu stemmen und sich auch gegen die ikonische Verfilmung behaupten zu wollen." Bieito hole so Einiges an Stimmtalenten aus dem Stuttgarter Ensemble heraus. "Die Regie zeigt, wie zwei Paare, besagtes junges und ein älteres, vor dem Hintergrund der anbrechenden NS-Zeit scheitern, wie ihre Liebe zerbricht." Und abgesehen von "von verzichtbaren Animierspielchen mit dem Publikum hat Bieitos 'Cabaret'-Version durchaus Charme und Härte zugleich". 

"Der Conférencier ist eine Karikatur, die mit eiskaltem Frohsinn den Ton angibt." Das sei der Grundton in Calixto Bieitos Inszenierung, in der jeder Song Schmerzen im Ohr verursache, so Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (20.3.2023). Die Lust an der Verkleidung habe deutlich Vorrang vor Sanges- und Tanzkünsten. "Die moralischen Verstrickungen zeigt der Abend dann doch ziemlich eindringlich. Und damit knüpft Bieito an seine beeindruckende Inszenierung aus dem Jahr 2019 von 'Italienische Nacht' von Ödön von Horváth über die präfaschistische Stimmung in Deutschland an."

"Absolut Sehenswert!" findet Karin Gramling vom SWR 2 (20.3.2023) diese Arbeit. "Die ironische Distanz zum wilden Treiben und viel Humor lassen die Stuttgarter Inszenierung von 'Cabaret' sehr frisch wirken." Bieito schaffe "eine gelungene Version von 'Cabaret' auch ohne Musicaldarsteller. So wirbelt etwa der herausragende Schauspieler Elias Krischke als Conferencier mit unglaublicher Energie über die Bühne, egal ob im Smoking oder im Goldglitzerfummel."

"Calixto Bieito langt zu", schreibt Roland Müller im Südkurier (22.3.2023). Früher galt er als Skandalregisseur, doch diese Zeiten seien vorbei. "Der Katalane ist in seiner klassischen Phase angekommen." Für den Beginn findet Bieito jedenfalls ein schlagendes Bild. Und "im raschen Wechsel der Szenen lässt er die Politik dann doch rein."

Begeistert schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (23.3.2023) über ein hier zu bestaunendes "allgemeingültiges Manifest für Toleranz und Vielfalt menschlichen Seins": Regisseur "Bieito macht eine lange Zeit erst einmal eine rasante Nummernrevue, die er im zweiten Teil wie von Zauberhand verdichtet, er pfeift weitgehend auf die ohnehin nicht sonderlich geistreichen Dialogtexte. Er feiert das Theater und die Selbstbehauptung seiner Bewohner."

Kommentare  
Cabaret, Stuttgart: Die Regie ist das Problem
Die "Lustigkeit", die Sie bemängeln, kommt von der Inszenierung - Bieito streicht im ersten Teil die ganze Bedrohlichkeit der Nazis, er streicht viel Dialog, etwa zwischen Clifford Bradshaw und dem Nazi Ernst Ludwig, zwischen Cliff und Sally Bowles. Der Aufstieg der Nazis wird im Libretto immer wieder angedeutet, aber Bieito kapriziert sich nur aufs Sexuelle. Er reduziert den Schriftsteller Clifford Bradshaw, der in jeder Inszenierung dieses Stücks seine Schreibmaschine wie ein Heiligtum bei sich trägt, hier aber nie was schreibt, auf einen Touristen, eigentlich eine Randfigur. Man kann die Liebesgeschichten durchaus ernst nehmen, man muss sich nicht drüber lustig machen wie Bieito. Beide sind im Libretto zu Ende erzählt.

"Ich inszeniere dieses Musical, um zu zeigen, dass das, was damals in Berlin passiert ist, jetzt auch hier passieren könnte", sagte der Uraufführungsregisseur Harold Prince 1966 - jeder Stadttheaterregisseur versteht, dass genau das heute wichtig ist! Warum geht man in der deutschen Kritik automatisch davon aus, dass das Material eines Musicals schlecht ist, aber der berühmte Regisseur, der sich herablässt, ein Musical zu inszenieren, der ist gut?! Wo sind die SS-Ledermäntel, die Judensterne, um zu zeigen, wo es hinführt? Sam Mendes schickte den Conférencier zum Schluss in den Gasofen, in der bahnbrechenden "Cabaret"-Inszenierung, die von 1998 bis 2004 am Broadway lief. In der richtigen Inszenierung bringt dieses Stück die Zuschauer zum Verstummen, hier lachen wir die meiste Zeit. Sehr schade.
Cabaret, Stuttgart: Danke für den Einwand
Liebe(r) Emcee, Sie haben recht, und ich danke Ihnen für Ihren Einwand und Ihre Ergänzungen. Ich kenne weder die Broadway-Inszenierung von 1966 noch jene von 1998. Ich kann nicht beurteilen, was auf das Konto des jeweiligen Regisseurs und der jeweiligen Dramaturgen geht. Bei anderen Rezensionen hat man mir gelegentlich den Vorwurf gemacht, dass ich, besserwisserisch, auf vorausgegangene Inszenierungen eingehe, statt mich auf das aktuell Gesehene zu beschränken. Dennoch: die Alternativen zur Stuttgarter Aufführung, die Sie loben, scheinen mir bedenkenswert. Allerdings: Judenstern und Gasofen wären bei einem Stück, das im Jahr 1930 angesiedelt ist, anachronistisch. Vielleicht darf man auch darauf vertrauen, dass ein Publikum von 2023 sie bei diesem Stoff mitdenkt. Das gilt für "Cabaret" ebenso wie für "Professor Bernhardi" oder für "Professor Mamlock". Das Lachen ist mir nicht von vornherein verdächtig und es muss nicht auf Kosten der (politischen) Ernsthaftigkeit gehen - Lubitschs "Sein oder Nichtsein" oder Benignis "Das Leben ist schön" sind dafür starke Belege -, aber dass Calixto Bieito sich hat verführen lassen, dem Affen Zucker zu geben, damit dürften Sie recht haben. Offenbar war da auch niemand, der ihn darauf hingewiesen hat.
Cabaret, Stuttgart: So viele Fragen
Ich schließe mich dem Erstkommentator an - warum spielt man Cabaret, wenn man dann fast alles Dialoge streicht. Die Szenen sind so absurd heruntergekürzt, dass sie maximal als Stichwortgeber herhalten für das nächste Lied. Was aber leider auch nicht optimal ist, weil, nächste Frage: Warum spielt man ein Musical, wenn die Hälfte der Darstellenden nicht singen kann?
Es braucht vielleicht keine Hakenkreuz-Armbinden, um klar zu machen, worum es geht. Aber wenn während "Der morgige Tag ist mein", dem (eigentlich) gruseligen Kontrapunkt zur vorherrschenden Nachtklub-Stimmung, die Hochzeitsgesellschaft uninteressiert die Bühne verlässt, und die zwei Nazis als verlorene Verliebte zurück bleiben, ist auch hier nichts von der Bedrohlichkeit der Zeit zu spüren. usw usw.
Über die queere Besetzung der Cabaret-Girls, die bei diesem Musical Standard ist, sich hier aber irgendwie der Lächerlichkeit preisgegeben anfühlt, möchte ich gar nicht sprechen.
Es ist im Großen und Ganzen einfach sehr gewollt und dann aber doch nicht wirklich durchgezogen. So ist trotz aller Striche der Abend absurd langatmig. Elias Krischke als Conferencier spielt sich einen Wolf und macht seinen Job grandios, bleibt hier aber auch das Einzige wirklich Interessante oder Erinnernswerte.
Ansonsten Standing Ovations zur Premiere. Ist halt am Ende wahrscheinlich trotzdem immer noch Cabaret...
Cabaret, Stuttgart: Verschenkt
T.R. hat eine herrlich treffende Formulierung gefunden: "Man könnte auch auf die Idee verfallen, dass, was da nach fast hundert Jahren reanimiert wird, eher von Verklemmtheit zeugt als von sexueller Befreiung." Und Calixto Bieito versteht offensichtlich bei "Cabaret" unter doppeltem Boden, dass oben das Orchester spielt und unten die Schauspieler*innen.
Cabaret, Stuttgart: Alternative
Emcee weist auf die Broadway-Inszenierung von Sam Mendes hin, die ich mir daraufhin angesehen habe https://www.youtube.com/watch?v=IOs82ubFyFQ
und tatsächlich jagt die - vor allem am Ende - Schauer über den Rücken, die verhindern, dass man allzu gut gelaunt nach Hause geht, im Ohr immer noch die Titelmelodie als heitere Situationsbeschreibung. Aber sehen Sie selbst!
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