Linie 1 - Grips Theater Berlin
Monument neu angestrahlt
31. März 2023. "Linie 1", das Berlin-Musical, der Überklassiker des Grips Theaters, in seiner Uraufführungsinszenierung seit 1986 fast 2000 mal gespielt, "Linie 1" von Volker Ludwig mit der unvergänglichen Musik von Birger Heymann – wird neu inszeniert! Am Grips. Tim Egloff hat die Aufgabe übernommen. Wie viel Erneuerung wagt er?
Von Stephanie Drees

31. März 2023. Es gibt diese Momente, in denen sich die Türen zum eigenen Erinnerungsraum auf einen Schlag weit öffnen. Die ersten schwermütigen Takte, das Saxofon deutet das musikalische Thema an, Maria muss nur He – du – ey du singen – und die Bilder sind wieder im Kopf: Als man das erste Mal dieses Musical, Pardon, diese "musikalische Revue" gesehen hat. Vielleicht war man sehr jung beim ersten Mal, vielleicht etwas weniger jung beim zweiten. Viele Figuren, in dieser U-Bahn, auf den Straßen Berlins, sind in der eigenen Erinnerung ähnlich laut und weniger bunt. Ein Grauschleier liegt über ihnen. Die eigene Erinnerung ist natürlich ein bisschen unzuverlässig, trotzdem fühlt sie sich an, als betrete man nach vielen Jahren mal wieder die Wohnung einer alten Freundin, die vor kurzem renoviert hat: Die Farbe an der Wand frischer, ein paar neue Möbel, ein neues Raumgefühl, ein wohlbekanntes Raumgefühl.
Sparsamer dosierte Melancholie
Maria, eine Zufallsbekanntschaft der Protagonistin, beginnt, sich die Last von der geschundenen Seele zu singen: "Du bist schön auch wenn du weinst", dieses berühmte Balladen-Solo voll rührig-pathetischem Weltschmerz, das tiefer geht, als man im ersten Moment merkt. Schließlich geht's um die Schönheit des melancholischen Optimismus. "Aber deine Trauer wird vorbeigehn, det weeß ick, det kann ick dir ansehn." Nuria Mundry singt Marias Part an diesem Abend im Berliner Grips Theater, sie berlinert im Text weniger als Ilona Schulz in der Uraufführung 1986. Sie reduziert das Selbstmitleid, alles wirkt ein wenig zurückgenommen, sparsamer in der Spielweise – trotz der Wucht des Lieds, das, wie viele dieser eingängigen und rundgeschliffenen Songs, eine stimmliche Herausforderung ist. Vielleicht ist die Figur auf ihre Weise nun auch näher am Jetzt, etwas weniger stereotyp. Mehr showing, weniger telling.
Die Wilmersdorfer Witwen trauern noch immer dem Führer nach und die Begegnung mit einer Linken haut sie um: das Grips-Ensemble im Bühnenbild von Marian Nketiah © David Baltzer
Es dürfte einigen Menschen an diesem Abend so gehen: Natürlich liegt der Abgleich mit den früheren Versionen der "Linie 1" nahe. Die meisten werden das Stück nicht zum ersten Mal erleben. Und so sieht es beim Blick nach rechts auf die andere Zuschauertribüne auch aus: Viele singen mit, Erwartung liegt in der Luft. Hermann, ein Berliner Freiluft-Fred-Astaire am Imbissstand, der über das Lebenswerte am Leben sinniert (hier gespielt von Linie-1-Urgestein Dietrich Lehmann, allen Ernstes seit der Uraufführung 1986 durchgängig dabei), hat bei seinem Auftritt 'nen Lauf. Ebenso die "Wilmersdorfer Witwen". Nicht weniger gallig sind sie, immer noch so rassistisch-verbohrt, immer noch trauern sie der Zeit nach, als ein Führer ihnen den Weg wies.
Renovierung statt Neuinszenierung
Es sind vor allem diese Szenen, in denen klar wird, welcher Spagat hier passieren soll: Nicht weniger als eine "Neuinszenierung" der weltberühmten "Linie 1" hat das Grips für diesen Abend versprochen. Die Revue über das Panoptikum Großstadt – die geteilte Großstadt – und die Einzigartigkeit dieses Berliner Lebensgefühls zwischen Hedonismus, Härte und dem großen Freiheitsversprechen, hat auch das Grips weltberühmt gemacht. Und seinen Erschaffer, Volker Ludwig, der auch mit weit über Achtzig noch nach der Premiere auf die Bühne kommt und die Standing Ovations mitnimmt. Verdient, keine Frage.
Trotzdem: Regisseur Tim Egloff hatte mit dieser Renovierung alles andere als eine leichte Aufgabe. Er bewegt sich nicht nur in der Geschichte dieses Stücks, er bewegt sich in einem großen, selbstreferentiellen Kosmos. Vom Grips selbst wurde "Linie 1" über die Jahrzehnte weiterentwickelt, seiner Zeit angepasst, vielleicht in kleineren Dosierungen – aber, doch, ja. Die "Linie 1" ist ein kulturgeschichtliches Monument. Monumente fasst man eher vorsichtig an. Mitgehangen, mitgefangen.
Vielleicht kann man für diesen Abend auch deswegen nicht wirklich von einer "Neuinszenierung" sprechen. Aber: Der neue Anstrich ist an vielen Stellen fein gearbeitet. Die Kostüme von Mascha Schubert glänzen im wahrsten Sinne in allen Farben der 1980er: Glitzerfummel, Overknee-Stiefel, Pink, Pink und nochmals…, Blousons, Karottenhosen, Vokuhilas, Goldkettchen. Kostüme und Bühne thematisieren den heutigen Blick auf die Dekade, kommentieren ihn fast.
Helena Charlotte Sigal als Provinzgirl Natalie begegnet Eike N.A Onyambu (Bambi) in Berlin © David Baltzer
Das ist einer der klügsten Kniffe dieser Inszenierung, neben der Konzentration auf genau choreographierte Gruppenszenen, mit vielen Freeze- und Haltepunkten, in denen die Körper dieser Stadtgestalten mitunter mehr erzählen als die Texte. Die musikalischen Arrangements sind mitunter jazziger, moderner, pointierter. Und klar: Die Band "No Ticket" kann es. Auch das reduzierte Klassiker-Bühnenbild mit fahrbaren Sitzreihen und großer Stadt-Showtreppe bildet einen schönen Kontrast zum Trubel des Geschehens.
In der Spur
Die Hauptfigur, das unbedarfte Girl Natalie aus der Provinz, darf etwas weniger großäugig durch die Story stolpern, nach und nach Stärke entwickeln. Helena Charlotte Sigal hat mit dieser Figur relativ wenig Spielraum, nutzt ihn aber. Ihr Großstadt-Gegenpart, der abgeklärte Lebenskünstler Bambi, wird von Eike N.A Onyambu mit gewitzter Weisheit aus dem wohlsituierten Herzen gespielt, da ist weniger Macker-Camouflage auch im Spiel nötig. Kategorie: Faust-aufs-Auge-stimmig.
Das Ensemble ist etwas diverser, die Lebenswelt der jüngeren Generation aber recht sparsam ins Gesamtgefüge eingeflossen. Zwei männliche gezeichnete Figuren dürfen im U-Bahnwagen kurz Show-Knutschen, das türkische Ehepaar muss sich weiterhin stumm von besorgten Berliner Bürgern anpöbeln lassen. Sie tauchen auf.
Natürlich ist auch das spannend an dieser Revue und teilweise erschreckend: Wie sehr sich ästhetische, soziale und gesellschaftspolitische Markierungen ihrer Zeit im Heute spiegeln. Aber an dieser Stelle ging es nicht weiter. Die "Linie 1" bleibt in ihrer Fahrspur.
Linie 1
Musikalische Revue von Volker Ludwig
Musik von Birger Heymann und der Rockband NO TICKET
Regie: Tim Egloff, Bühne: Marian Nketiah, Kostüme: Mascha Schubert, Choreographie: Bahar Meriç Musikdramaturgie: Thomas Keller Musikalische Leitung: Matthias Witting, Musikalische Beratung: Hachfeld, Dramaturgie: Tobias Diekmann.
Mit: Helena Charlotte Siga, Eike N.A Onyambu, Nuria Mundry, Dietrich Lehmann, Ariane Fischer, Katja Hiller, Daniel Pohlen, Sarah El-Issa, Jens Mondalski, Christian Giese, Marcel Herrnsdorf.
Die Band NO TICKET: Michael Brandt (guit), Thomas Keller (sax), Axel Kottmann (bass), Thilo Brandt (drums), Matthias Witting (keys).
Premiere am 30. März 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.grips-theater.de
Laut Chronik des Grips Theaters wurde Wolfgang Kolneders Uraufführung von "Linie 1" bis zur Absetzung im Januar 2023 insgesamt 1.969 mal gespielt. In einer ersten Fassung der Anmoderation war fälschlicherweise von "mehr als 2000 Aufführungen" die Rede.
Kritikenrundschau
"Egloffs Inszenierung hat bei aller Quietschvernügtheit etwas Behutsames: eine linientreue 'Linie 1'", findet Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (31.3.2023). "Am Ur-Text hat sich so gut wie nichts geändert, da ist Volker Ludwig vor", so der Kritiker. "Ins Auge knallen die kreischend bunten Zirkuskostüme, die Mascha Schubert dem Zug-Personal verpasst. Das ist neu und für ältere Fahrgäste irritierend. Es fällt auch sofort auf, dass Regisseur Tim Egloff Tempo macht, die Pointen forciert, auf Komik setzt und kein Problem hat mit Klamauk."
Die Neuinszenierung mäandert aus Sicht von Cora Knoblauch von RBB24 (31.3.2023) "zwischen einer liebevollen 1980er-Jahre-Hommage und totaler Zeitlosigkeit. Absurd erscheint heute der Gedanke, dass sich die Menschen in der U-Bahn hinter ihrer Zeitung verschanzen und Natalie ihrem Johnny nicht einfach eine Whatsapp-Nachricht schickt."
"Schon deutlich begeisterter als enttäuscht" berichtet André Mumot in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (30.3.2023) über diese Premiere. "Erstaunlich wenig" sei gegenüber der Uraufführung verändert worden. Das Stück sei "schlanker" geworden; man habe "eher daran gearbeitet, dass es ein bisschen frischer wird, ein bisschen lebendiger und nachvollziehbarer in der Figurenzeichnung". Auch an die Musik und ihre Arrangements sei "mit viel Liebe und Genauigkeit" herangegangen worden. Den 80er Jahren werde hier "ein Denkmal gesetzt", der Abend sei auch "ein Fest der 80er-Jahre-Kostüme".
"Tim Egloff macht in seiner Neuinszenierung aus dem Musical einen bunten Comicstrip, sozusagen das 1980er-Westberlin in der gekonnt nachkolorierten Version," schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (2.4.2023). "Weil an den Textzeilen des inzwischen 85-jährigen Grips-Gründers und Theater-Patriarchen Volker Ludwig keine Silbe geändert werden durfte (es gibt sie noch, die gute, alte Werktreue!), verlegt sich Egloff auf schwungvolle Arrangements und die Freuden der Ausstattung."
Die Neuinszenierung komme "flotter, witziger und bunter daher", schreibt Jakob Hayner in der Welt (6.4.2023). "Der Hingucker des Abends sind die fast 200 Kostüme von Mascha Schubert, die noch den letzten Hipster vom Hermannplatz vor Neid erblassen lassen dürften. So bunt, so schrill, so lässig können die 80er gar nicht ausgesehen haben."
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Aber sind Sie dabei ganz eventuell zu einer Wilmersdorfer Witwe geworden?
Ohne den Nazismus freilich, aber mit demselben festen Willen, dass alles so bleiben möge, wie es angeblich immer schon war.
„Was nach uns kommt ist Schiete,
denn wir sind die Elite.“
Es gibt sie noch, die guten Dinge.
Das Grips Theater reagierte und beauftragte Tim Egloff mit einer Neuinszenierung. Doch keine Angst: das Denkmal ist unangetastet, wurde nur etwas modernisiert. Der Cast ist diverser, „Bambi“ wird von Eike N.A. Onyambu gespielt und toll gesungen, einem PoC-Schauspieler, der in dieser Spielzeit am Grips sein erstes Engagement nach dem Studium antrat. Bunter und knalliger als in der Urinszenierung sind die Kostüme von Mascha Schubert, die sich in einer Hommage an den Modegeschmack der 1980er Jahre austoben durfte.
Geblieben sind die Zeitungen, hinter denen sich die Pendler damals verschanzten, und der Zigaretten-Qualm: beide Attribute unterstreichen: die Revue spielt nicht im Hier und Jetzt, sondern im untergegangenen Frontstadt-Biotop. Auch alles andere, was „Linie 1“ zum Kult machte und ich vor einigen Jahren ausführlich beschrieben habe, ist natürlich noch da: der warmherzige Grundton, mit dem hier vom Überleben im Großstadtdschungel gesungen wird, der kabarettistische Witz von Hits wie den „Wilmersdorfer Witwen“, die ihr Berlin verteidigen und andere Balladen, die auch in der 1978. Aufführung von einigen im Publikum mit nostalgisch leuchtenden Augen mitgesungen wurden.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2023/05/09/linie-1-neuinszenierung-grips-theater-kritik/