Die Geister, die die Welt bedeuten

1. April 2023. Jede Theatervorstellung ist eine Geisterbeschwörung. Umso mehr, wenn die Hauptfigur ein Toter ist: Nona Fernández hat Molières "Eingebildeten Kranken" überschrieben und Antú Romero Nunes bringt ihren Text mit einem komödiantisch hochgestimmten Ensemble zur Uraufführung.

Von Eva Marburg

"Molière – der eingebildete Tote" von Nona Fernández nach Molière, in der Regie von Antú Romero Nunes am Theater Basel © Lucia Hunziker

1. April 2023. "Mesdames et messieurs", kreischt der Zeremonienmeister auf der Vorbühne und stampft mit seinem goldenen Schnörkelstab: "Le Malade imaginaire!" Der Vorhang hebt sich und wir sehen ihn, den berühmten eingebildeten Kranken von Molière: im weißen Schlafrock und mit Zipfelmütze hockt er auf einem Stuhl mit Loch, kackt und hält uns deklamierend vor, wie schrecklich teuer die ganzen Einläufe und Abführmittel in den vergangenen Monaten waren, während er mit der Klistierspritze wedelt.

Dann wird tatsächlich gekackt bis der Arzt kommt. Erst köttelt es scheppernd in die Metallschüssel, dann plörrt es im Strahl, dann entlädt sich ein feuchter Pups und klatscht, quer über die Bühne fetzend, gegen die Wand. Die Dienerin Toinette (Dramaturgin Elena Manzo, die bei der Premiere für die erkrankte Barbara Colceriu einsprang) wird gerufen. Sie muss hier aufwischen und die Schüssel, in der die Scheiße bis zum Überlaufen schwappt, elegant von der Bühne befördern, ohne sich zu übergeben. Im Publikum macht sich begeistertes und ungläubiges Gelächter breit, denn sonst bekommt man ja eher selten zu sehen, was auf der Palette der Fäkaleffekte im Theater so alles möglich ist.

An den Knöpfen der Schauspielkunst gedreht

Mit dieser genüsslich zelebrierten Scheiß-, Furz-, und Dünnpfiff-Orgie beginnt also am Theater Basel die Uraufführung von "Molière – der eingebildete Tote" der chilenischen Autorin Nona Fernández, die einem der berühmtesten Theatermacher Europas gewidmet ist. Der spielversessene Regisseur Antú Romero Nunes nutzt die Geschichte von Jean Baptiste Poquelin alias Molière, um einen Blick in ein Theater vor unserer Zeit zu werfen. In ein Theater des Ablachens – in dem mit Pantomime, Körpereinsatz und akrobatischen Einlagen; mit Gesang, Stimmverstellung und Dialekten so lange an den Knöpfen der schier unerschöpflichen Schauspielkunst gedreht wird, bis das theatrale Vergnügen permanent wird.

Tote3 c Lucia Hunziker uMolière (Jörg Pohl) auf dem Toilettenstuhl © Lucia Hunziker

Wie sich später herausstellt, ist die erste Szene ein "Spiel im Spiel", also eine Aufführung der "troupe" von Molière. Nun passiert das, was gleichzeitig ein Mythos der Bühne und vermeintlich der Traum aller Schauspieler*innen ist, nämlich auf der Bühne zu sterben. Molière in der Rolle des eingebildeten Kranken stirbt während er spielt, die Vorstellung wird abgebrochen, das Publikum solle doch bitte die Eintrittskarten bis zum nächsten Mal aufbewahren. Die Kulissen krachen herunter, die "troupe" verlässt laut weinend die Bühne, doch Molière bleibt als Geist auf der Bühne zurück – er kann nicht glauben, dass er tot ist. Er könne doch nicht sterben, er sei doch hier der Autor, Regisseur und Schauspieler, ohne ihn laufe doch bitteschön gar nichts. "Mon Dieu!"

Das Problem mit dem Monsieur Baron

Wunderbar spielt Jörg Pohl diesen in Eitelkeit und Verantwortung verstrickten Künstler, der nicht loslassen kann. Erst der Geist seiner ehemaligen Geliebten, Weggefährtin und Förderin Madeleine Béjart kann ihn von seinem Dasein im Jenseits überzeugen. Annika Meier in ständig wechselnden Kostümen zieht hier in der Rolle als untote Schauspielerin alle Register der vor Einfallsreichtum nur so sprudelnden Darstellungskunst. Denn selbst im Tod, das ist eine der vielen witzigen Pointen, kann das Paar nicht aufhören zu schauspielern, zu improvisieren und sich gegenseitig zu spielerischen Höchstleitungen anzustacheln. Bis einer sagt: "Jetzt hör doch mal auf mit dem Quatsch! Wir müssen das Problem lösen!"

Das Problem ist nämlich der Monsieur Baron (angelehnt an die typischen Verräterfiguren Molières), der sich hier wie ein falscher Tartuffe in die Theatergruppe einschleicht. Er inszeniert eine Séance, in der der Geist Molières ihm angeblich einflüstert, dass die Rechte und Tantiemen der "troupe" notarisch an ihn übertragen werden sollen. Nicht zu vergessen die monströse goldene Uhrenkette, die der Autor einst vom Sonnenkönig geschenkt bekam.

Der "echte" Geist Molières steht nun neben dem Hochstapler, beschimpft ihn als "Impulsgrab" und "Betonungsmaschine" und brüllt verzweifelt: "Ich hab das nicht geschrieben, das ist nicht von mir!" Doch so sehr er auch auf den "dramaturgischen Salat" seines Widersachers hinweist: niemand kann ihn oder Madeleine sehen oder hören, sie sind tot, dazu verdammt, auf den Brettern der Bühne zu wandeln, ohne noch etwas ausrichten zu können. "Man kann doch nicht aus dem Nichts kommen und einen dramatischen Strang mit fremden Ideen bewerfen!"

Vom Wein und dem Theater

Wie der tote Regisseur hier aus dem Jenseits unerbittlich versucht, in das Geschehen einzugreifen, um die Kontrolle über sein Werk nicht zu verlieren, erweist sich nicht nur als fantastisch geschriebener Komödienstoff, sondern liefert auch eine schöne Theaterphilosophie: Jede Aufführung ist letztlich eine Geisterbeschwörung. Die Bühne ist, wenn man so will, ein Reich der Untoten. Im Theater konfrontieren wir uns immer wieder neu mit den Geistern der Vergangenheit und hoffen, dass sie uns etwas zu sagen haben.

Tote2 c Lucia Hunziker uAnnika Meier als Molières Mätresse und Mäzenin Madeleine Béjart © Lucia Hunziker

Am Ende geht natürlich, wie immer bei Molière, alles gut aus. Irgendwann entdeckt das Geisterpaar, das es von Besoffenen gesehen wird, was Anlass zu einigen großartigen Besoffenenszenen gibt, Sie können es sich ja denken. Aber wie sich hier einmal Thomas Niehaus sturzbetrunken abmüht, eine auf Kopf gedrehte Weinflasche zu entkorken, wie ihm das sogar gelingt, wie er den rauspladdernden Wein aufzuhalten versucht und dann in der entstehenden Pfütze mehrmals ausrutscht und wieder hochschnellt, nur um dann kopfüber in ein Tablett mit vollen Gläsern zu schlittern – das ist sagenhaft große Schauspielkunst.

Der Wein und das Theater kommen am Ende nicht umsonst zusammen. "Der Gott Dionysos gab uns die Begabung, über uns und das Leben im Theater zu lachen", und das gelingt hier mit den durchweg fantastischen Darsteller*innen aufs Schönste.

 

Molière – der eingebildete Tote 

Von Nona Fernández nach Molière
Aus dem Spanischen übersetzt von Friederike von Criegern 
Uraufführung
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Helen Stein, Lena Schön, Musik: Anna Bauer, Pablo Chemor, Lichtdesign: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Elena Manzo.
Mit: Jan Bluthardt, Barbara Colceriu, Vera Flück, Thomas Niehaus, Annika Meier, Sven Schelker, Jörg Pohl, Gala Othero Winter.
Premiere am 31. März 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-basel.ch

Kritikenrundschau 

"Die Komödie schlägt ihren Witz ganz im Stil des titelgebenden Vorbilds aus der Verwechslung und der Übertreibung", resümiert Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.4.2023). Der Abend biete "zweieinhalb Stunden ausgelassenen Spielspaß und feinste Schaumschlägerei" und "Pointen, Pobacken und Posaunenpupse". Regisseur Antú Romero Nunes "inszeniert einen Schaulauf nach dem anderen, zieht vorurteilslos alle Register des konventionellen Schwanks, die Metaphern sind derb, die Tonwechsel rasant, die Gesten expressiv". Daraus werde kein "deutungsschweres Dada", sondern die Inszenierung befreie das Publikum "von der Last, immer alles gleich ganz durchschauen zu müssen", so der erfreute Kritiker.

Die "Ausgangslage" biete "in schönster Molière-Manier natürlich ausreichend Raum für Witz, Gags und Clownerien", so Dominique Spirgi im St. Galler Tagblatt (1.4.2023), "ein Raum, den Regisseur Antú Romero Nunes und sein furios aufspielendes Ensemble auf der Bühne gnadenlos ausfüllt". Gerade Jörg Pohl schöpfe "aus dem Vollen seines grenzenlosen Repertoires" und neben den "rührend-komischen Auftritten von Vera Flück und Gala Othero Winter" sei vor allem "Thomas Niehaus als saufender Schauspieler La Thorillère" zu nennen. Das sei alles "höchst amüsant", bleibe "unterm Strich" aber bei "Einzelnummern, denen es aber am dramaturgischen Zusammenhalt fehlt". Dennoch ein "sehr unterhaltsamer Abend, dem man gewisse Unzulänglichkeiten gerne verzeiht", meint die Kritikerin.

"Die grosse Bühne wird zur Zirkusmanege, das Parkett zum Tollhaus, während es vom Olymp fast ununterbrochen Applaus gibt", beschreibt Simon Baur in der Basler Zeitung (1.4.2023) den Abend. Es werde "geflucht, gesoffen, geschissen und um Molières Erbe gestritten" und beständig würden "Treppenstufen erklommen, um über eine Rutschbahn ins Vergnügen oder ins eigene Verderben zu stürzen". Abgesehen von einigen "Zartbesaiteten", die das Theater zur Pause verließen, habe sich das Publikum diesen Klamauk "wie eine köstliche Praline aus dem Zauberlädeli auf der Zunge zergehen" lassen: "Es gluckst, grölt und wiehert im Stillen vor sich her und klopft sich vor Glück und Seligkeit auf die eigenen Schenkel."

Für Andreas Klaeui im SRF (3.4.2023) ist dieser Abend "in erster Linie ein großer Quatsch, und eine Feier des Quatschs, auf hohem Niveau freilich, perfekt getimt, mit viel Spielwitz" und "Tiefe". Die Dramaturgie biete "eine Reverenz an Molières Komödienstruktur". Die Arbeit sei in aller Derbheit und "aller Hanswursterei auch absolut State of the art".

 

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