Gerda lost im Loop

2. April 2023. Unter dem Label Raum+Zeit erarbeiten Regisseur Bernhard Mikeska und Autor Lothar Kittsein begehbare Rauminstallationen, in denen Zuschauer:innen in Eins-zu-Eins-Szenen auf Darsteller:innen treffen. Diesmal begegnet ihr Theater der fast vergessenen Mutter einer großen DDR-Künstlerfamilie: Gerda Brasch. Eine Spurenlese im Nahkontakt.

Von Theresa Schütz

"Going Home :: Wer ist Gerda?" am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin © Silke Winkler

2. April 2023. In der M*Halle, einer ehemaligen Druckerei in Schwerin Gartenstadt, die seit dieser Spielzeit vom Theater mitgenutzt wird, empfängt ein Guide (Uwe Lüthke) das Publikum und führt streng getimt, alle zwölf Minuten einen Gast zum leerstehenden Pförtnerhaus auf der Gebäuderückseite. Kaum auf dem darin bereitstehenden Sessel Platz genommen, steht ein Mädchen (Enya Riebe) in biederem roten Wollkleid und Bubikopf-Perücke vor mir, reicht mir stumm einen mp3-Player und weist mich an, die Kopfhörer aufzusetzen. Sie wird wie ein Geist immer wieder auftauchen an diesem Abend, in Transiträumen über mich wachen. Jenes kleine Mädchen, das für die 14-jährige Marion Brasch, so deutet es die erste Szene an,  genauso gut wie für die junge Gerda Brasch selbst stehen kann. 

Während man zuletzt vor allem Werk und Biografie von Thomas Brasch über den Spielfilm "Lieber Thomas" oder die Musik von Masha Qrella (wieder) begegnen konnte, widmen sich RAUM+ZEIT mit "Going Home :: Wer ist Gerda?" der Lebensgeschichte seiner Mutter Gerda Brasch. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann Horst Brasch, ehemaligem SED-Funktionär und stellvertretendem Minister für Kultur der DDR, ist über Gerda nicht sehr viel bekannt. Im Dokumentarfilm "Familie Brasch" (2018), der in enger Zusammenarbeit mit Tochter Marion Brasch entstand, kreist ein Kapitel um jene Frau, die 1921 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren wurde, 1938 nach London emigrieren musste, dort mit Horst auch den Kommunismus kennenlernte und als junge Mutter, Ehefrau und Journalistin in die junge DDR überzusiedelte. Und schließlich mit 54 Jahren an Krebs verstarb.   

Erinnerungen an der Schwelle zum Tod

Vor Gerdas Tod 1975 setzt auch diese Inszenierung an, beim Abschied zwischen Mutter und Tochter vor ihrer erneuten Einweisung ins Krankenhaus. Kurz vor dem Tod flackern Lebenserinnerungen auf: London 1944, als Horst sie in ihrer Garderobe zu überzeugen versuchte, mit ihm in der DDR den Sozialismus aufzubauen. Karl-Marx-Stadt Anfang der 1970er Jahre, als das Paar in die Provinz geschickt wurde und Gerdas Krankheit begann. Berlin Ende der 60er, als Thomas von seinem eigenen Vater verraten und daraufhin verhaftet wurde. Diese Stationen läuft das Publikum ab, wird dabei meist als Gerda, einmal auch als Horst angesprochen.

Die einzelnen Räume sind sparsam ausgestattet, der Fokus liegt auf den Monologen. Der Gang durch die biografischen Erinnerungsfragmente mündet in einer letzten Begegnung mit Gerda (Julia Keiling) in jenem silbernen Glitzerkleid, das Horst ihr in London einst versprach. So steht mir am Ende eine stolze, die eigenen Erwartungen befragende Frau gegenüber, die sich – bereit für ihr neues Zuhause – ihr eigenes Schlaflied (von Queens of the Stone Age) singt.  

Gerda2 c Silke Winkler uIntensive Blicke im 1:1-Format © Silke Winkler

Die formale Idee, dass sich Zuschauer:innen in "Going Home :: Wer ist Gerda" in die Hauptfigur hineinversetzen oder durch das Beiwohnen von Konfliktsituationen ihr "Inneres" nachempfinden können, ist angesichts des doch recht überschaubaren szenischen Schlaglicht-Materials und den äußerst sparsam mitgelieferten zeithistorischen Kontexten diesmal – jedenfalls für mich, denn das mag hier wirklich höchst individuell verlaufen! – nicht aufgegangen. Da die Arbeit keinerlei dokumentarischen Anspruch erhebt, geht man auch nicht mit mehr biografischem Wissen nach Hause. Das Steckenpferd von RAUM+ZEIT ist die besondere Form, die für viele Zuschauer:innen immer noch eine ungewohnte und unerprobte ist.

Keine Begegnung möglich

Mein Problem mit dieser szenischen Installation ist, dass zwar auf Immersion gesetzt, dabei aber im Grunde klassisches Repräsentationstheater reproduziert wird, das die Vierte Wand in der Spielweise beibehält. Am Ende ist es völlig egal, wer vor den Darsteller:innen sitzt, wenn sie ihre Szenen 16 Mal pro Abend in einer Dauerschleife wiederholen müssen. In dieser getakteten Theatermaschine ist keine Zeit für Begegnung, auch nicht für echte Multiperspektivität. Abgesehen von vielen, langen Augenkontakten bleibt alles im Relevanz erstickenden Als-ob-Modus kleben.   

Und ich frage mich, wozu es Not tut, dass einzelne Darsteller:innen so nah an einen herantreten? Wozu diese übergriffige physische Nähe, wenn sie inhaltlich nichts beizutragen hat? Und überhaupt: warum ist Gerda angesichts der einschüchternden, ja fast bedrohlichen Art, die Timmermanns Horst an den Tag legt, nicht einfach in London geblieben, um ihren beruflichen Traum zu verwirklichen? Um ein wirkliches Gespür für die Lebensentscheidungen einer Gerda Brasch zu bekommen, ist diese Form, die sich langsam etwas abzunutzen scheint, schlicht nicht komplex genug. Gerda is lost in Loop.  

 

Going Home :: Wer ist Gerda?
von RAUM+ZEIT (Däßler/Kittstein/Mikeska)
Regie: Bernhard Mikeska; Text: Lothar Kittstein; Bühne & Kostüme: Lisa Däßler; Dramaturgie: Jennifer Bischoff; Sounddesign: Daniel Dorsch.
Mit: Katrin Heinrich, Vincent Heppner, Julia Keiling, Enya Riebe/Lara Goethel und Till Timmermann/Robert Höller.
Uraufführung am 1. April 2023
Dauer: 55 Minuten, keine Pause

mecklenburgisches-staatstheater.de

Kommentare  
Wer ist Gerda?, Schwerin: Genau getroffen
Die Nähe war mir auch unangenehm. Und man wird mit Vorwürfen und auch Drohungen konfrontiert, gegen die man sich nicht wehren kann, da das im Text nicht vorgesehen ist. Angekündigt als (wenn man will) auch interaktive Performance ist es vollkommen egal, ob man es nur erträgt oder was sagt. Ich bin da mit einem unguten Gefühl rausgegangen.
Aber die schauspielerische Leistung war top.
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