Matthias Lilienthal – Hebbel am Ufer Berlin, Künstlerischer Leiter

Welches war Ihr herausragendstes, schönstes, beeindruckendstes Theatererlebnis im Jahr 2008, am eigenen Haus oder an anderen Häusern? Und warum?

Meine drei Lieblingsinszenierungen der letzten Saison kommen aus Tokyo, Rio de Janeiro und Berlin. Bruno Beltrão hat mit seinem Stück H3 einen merkwürdig kraftvollen HipHop hingelegt. Die körperliche Präsenz und Kraft seiner Tänzer erzählt sehr präzise von der Gewalt in der brasilianischen Gesellschaft, ohne es je anzusprechen. Dieses Rewind der Bewegungen hatte etwas Verstörendes. Seine bisher schönste Arbeit!

Toshiki Okadas Five days in march ist so etwas wie das Gegenstück dazu. Jeweils zwei Spieler erzählen von ihrer Einberufung als Soldat in den Irak, von dem Geschmack des letzten Burgers, von durchgefickten Nächten in den Love Hotels und alltäglichen Kleinigkeiten. Dabei begeben sie sich in verkrampfte körperliche Haltungen. Alles hat die gleiche Bedeutung – die Fliege auf dem Arm oder 3 Tage im Love Hotel. Er hat so etwas wie Menschen frei von Emotionen entworfen. Das ist der Gegenentwurf zu Beltrãos Menschen, die in jedem Moment explodieren könnten.

Constanza Macras Hell on Earth arbeitet zum Teil mit den gleichen Jugendlichen wie vor 5 Jahren bei "Scratch Neukölln". Diesmal aus der Perspektive der jungen Frauen. Fatma ist 12 Jahre, trägt ein Kopftuch und ist ansonsten wie alle Mädchen dieses Alters eine Berliner Rotzgöre. "Alle Männer wollen immer nur das Eine von ihr … besonders die Deutschen." Sie selbst will Familienrichterin werden und spannt innerhalb ihres wenige Minuten dauernden Monologs das Patchwork eines Menschen auf, der religiös ist, berlinerisch vorlaut ist und von straightem deutschen Karrierebewusstsein. Da wurde für einen Moment dieses Berlin der Zukunft sichtbar, und plötzlich fiel einem das Ergebnis der Kontinuität von Arbeit in den Schoß, als man nicht damit gerechnet hatte.

Lesen Sie weiter, was Stephan Märki (Nationaltheater Weimar) 2008 besonders beeindruckte.

 

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