Erlösung war gestern

von Georg Kasch

München, 2. Juni 2007. Die Erlösung findet nicht statt. Nicht an diesem und wahrscheinlich auch an keinem der folgenden Abende von Christiane Pohles "Parzival"-Projekt. Aber die Entdeckungsreise, zu der die junge Regisseurin, ihr Dramaturg Matthias Günther und das Ensemble einladen, ist auch ohne Showdown spannend, unterhaltsam und anregend.

Begonnen hatte der Abend im Neuen Haus der Münchner Kammerspiele. Wie auf Drogen stürmt Stefan Märki als Referent Burkart Liechti das Vortragspodest im Foyer und erzählt mit Schweizer Stimmfärbung, launischem Vokabular und Videobeamer Parzivals Geschichte. Wolfram von Eschenbachs Epos von der âventiure des reinen Toren, der aus Unwissenheit vergewaltigt und mordet, Amfortas unerlöst lässt, von Kundrie am Artushof bloßgestellt wird, bei Tevrizent in der Einsiedelei endlich die Zusammenhänge begreift und seine Taten bereut, wird bei ihm und seinen mit Spielzeug nachgestellten Videoszenen zum eilig erzählten Trash-Movie. Dann schaltet er live nach Bayreuth, wo Wolfgang Pregler als Wagner-Experte Wahnfried aus dem Orchestergraben schwülstig die Oper analysiert. Nun kann Märki die frohe Botschaft verkünden: Die Musik der Uraufführung kommt dank eines physikalischen Phänomens an diesem Abend auf die Erde zurück – und das Publikum ist live dabei. Mit dem Peilgerät in der Hand und einem wild rauschenden Lautsprecher auf dem Rücken geht es hinaus in die Stadt.

Wagner-Suche im Dixi-Klo

Überall glaubt er, besondere Schwingungen und damit Wagner zu finden: im Dixi-Klo, in parkenden Autos, einer Wandbegrünung. Die Stadt scheint wie verwandelt durch Parzivals Augen. Der Clou an diesem Zusammenstoß von Fiktion und Realität ist natürlich der, dass man nie genau weiß, welches Phänomen zu welchem Bereich gehört. Klar, der schnauzbärtige Mann mit der lebensgroßen Ludwig II.-Puppe ist Thomas Schmauser als eine Art Nietzsche-Wiedergänger. Aber die Leute, die er da anbrüllt, weil sie ihr Auto falsch geparkt haben und die ihn schockiert und ungläubig anstarren – sind das Passanten oder Statisten? In der mittelalterlichen âventiure sind Zufälle immer Teil des Sinnzusammenhangs. Hier muss jeder selbst entscheiden, ob er das Erlebte mit Parzivals Abenteuern oder sich selbst in Verbindung bringen will oder nicht.

Überall lauern die Zeichen und sinnlichen Eindrücke: Hinter der Fensterscheibe eines Pianohauses steht Anna Bögers Kundrie-Figur und flüstert: "Du sollst nicht...", während ein Pianist vergeblich versucht, sein Spiel zu beginnen. Unter einem Auto liegt die Ludwig-Puppe blutverschmiert, Nietzsche lamentiert. Die mitgeschleppte Decke, die jedem zuvor zugeteilt wurde, riecht säuerlich. Über den Flur der Gewerbeschule rollen Krankenbetten, entfaltet sich das Panorama eines Irrenhauses. Wie Parzival beim Anblick Amfortas’ bleibt auch das Publikum stumm, während ein Sängerensemble das "Miserere nobis" anstimmt. Diese Zurückhaltung fällt in der angrenzenden Aula. Hier ist analog zur Tafelrunde ein Spielsaal aufgebaut, in dem um echtes Geld gewürfelt wird. Der Sieger geht mit etwa 200 Euro nach Hause, für die Übrigen gibt es apokalyptische Visionen von Peter Brombacher.

Nietzsche stoppt die Tram 

Einige hundert Meter entfernt, drängen sich die 100 Zuschauer durch ein fiktives, aber täuschend echtes Archiv der Versäumnisse, einer Art Beichtlabor, in dem das schlechte Gewissen der Menschen konserviert ist und auf Absolution wartet. Zuvor durfte man sich mit Brot und Wasser stärken. Draußen brechen endgültig die Realität und der Zufall in die abendliche Reise ein, als Nietzsche die Straßenbahn aufhält und zwei Polizisten hinzueilen. Während Thomas Schmauser demonstrantentaugliche "Polizeiknüppel"-Parolen schreit und Heiligendamm-Stimmung aufkommt, berichten die grünen Herren von Ruhestörungsanrufen und wollen die Veranstaltung auflösen.

Oft vergisst man unter der Last der sinnlichen und intellektuellen Reize, wozu man ursprünglich aufgebrochen war. Doch Märkis schnarrender Lautsprecher erinnert mit Wagners Trauermarsch wieder ans Opern-Thema. Und schließlich ist eine Parzival-âventiure kein Sonntagsspaziergang,  sondern eine Irrfahrt, auf der man allmählich begreift und lernt, um schließlich fit zu sein für die Gralserlösung.

Vergeblichkeit, du hast uns wieder

Anders aber als der reine Tor wartet das Publikum in der Lukaskirche vergeblich auf die Ankunft des Heils. Da kann der Lukas-Chor noch so beseelt mit "Et incarnatus est" die Fleischwerdung des Herrn verkünden und Kundrie verzückt Richtung Altar starren – Walter Hess und Peter Brombacher entzünden umsonst die Kerzen entlang des Ganges. Zwar öffnen sich die Türen weit, doch nur, um das Publikum zu entlassen. Eine verbindliche Erlösungsutopie, so etwas gibt es heute nicht mehr.

Nach knappen drei Stunden stehen alle ein bisschen enttäuscht, ungläubig, verstört vor der Kirche, bis deren Tore geschlossen werden. Draußen rauschen das verlassene Peilgerät, der Verkehr und die Isar.

Parzival
Ein Projekt nach Motiven von Wolfram von Eschenbach
Inszenierung: Christiane Pohle, Musikalischer Leiter: Gerd Kötter, Ausstattung: Maria-Alice Bahra, Video: Robert Lehniger, Licht: Jürgen Tulzer, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Peter Brombacher, Anna Böger, René Dumont, Walter Hess, Stefan Merki, Lasse Myhr, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau 

Unterhaltsam fanden die Münchner Beobachter Christiane Pohles Stadtspaziergang auf den Spuren von Parzival. Besonders der Anfang mit der Power Point-Präsentation des Eschenbach-Mythos hat es ihnen angetan. Aber was ein richtiger deutscher Theaterkritiker ist - der Mangel an relevanter Sinnproduktion muss bemängelt werden.

In einem kleinen Artikelchen, immerhin mit Bild, schreibt B.Welter in der tz (4.6.2007): Stefan Merki erzählt als Schwyzer Professor "saukomisch" den Versepos zur Power-Point-Präsentation, Parzival ist ein Plastikpüppchen und Wahnfried ein "irrer" Wagner-Fachmann. "Originelle Prozession, "geheimnisvolle Stationen", "Texte von Nietzsche bis Brinkmann" und ein "Ritter mit Ross" gab Geleitschutz.

Auch Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (4.6.2007) findet, dass allein schon der Einstieg den Abend lohne. Stefan Merkis Begeisterung als Klangforscher reiße die Zuschauer hinein ins mittelalterlich versepische Geschehen. Später auf dem Weg gibt's einen toten Soldaten unterm Auto, dazu Texte von anderen Sinnsuchern von Thomas Mann bis Thomas Bernhard. Regisseurin Pohle, schreibt Frau Lorenz, wolle den Blick lenken auf unsere eigenen Wunden. Das gelinge "zum Teil", sei aber nicht frei von "Performance-Beliebigkeit".

"Unter modernen Gesichtspunkten", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (5.6.2007), "ist Parzival ein Depp." Und gefährlich. Das lässt sich schön erzählen, was Christiane Pohle auch ausnutzt: "Der Beginn ... ist hübsch spinös und hantiert grazil mit den Chiffren des Mythos". Doch bleibt es leider, so Herr Tholl, auch im Fortgang sehr nett und harmlos: "Das Ganze schwankt irgendwo zwischen verspieltem Mythentrash und frei assoziierter Heutigkeit, kopiert in der Oberfläche eine Ästhetik der freien Szene, ohne in der Tiefe zu echter (politischer) Relevanz zu gelangen. Viele schillernde Inhaltsseifenblasen zerplatzen hier piffpuffpaff, bevor man sie fangen kann." 

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