Slapping Our Kapitalisten-Fressen

14. Mai 2023. Die Geschichte ist bekannt. Bloß einer muss immer so tun, als wüsste er von nichts: Titelheld Ödipus nämlich. In Thomas Köcks Überschreibung des Stoffs steht nun genau das Sehen und Wissen im Zentrum. Und warum wir nichts daraus machen. Stefan Pucher wuchtet die Geschichte gebührend lautstark und bunt auf die Bretter.

Von Steffen Becker

"forecast:ödipus" von Thomas Köck am Schauspiel Stuttgart, Regie: Stefan Pucher © Katrin Ribbe

14. Mai 2023. Hmmm. Ja. Gut. Wikipedia verrät, dass der Name Schwellfuß bedeutet. Weiß jetzt bestimmt nicht jeder. Aber dass Ödipus seine Mom vögelt und seinen Dad tötet – das hat man als Bildungsbürger intus. Thomas Köck, dessen Überschreibung "forecast:ödipus" am Schauspiel Stuttgart Premiere hat, findet den Stoff trotzdem inspirierend: "Weil auf der Bühne wie im Publikum alle wissen, was passiert – nur Ödipus selbst muss andauernd so tun, als wüsste er nichts. Und alle tun dann immer so, als wäre dahinter dann die Katharsis, obwohl es eh alle sehen – also wirklich alle." Und darum geht es dann auch bei "forecast:ödipus": ums Sehen und warum der Mensch sehenden Auges ins Verderben rennt.

Regisseur Stefan Pucher rückt die Seher in den Vordergrund. Die Inszenierung beginnt mit einer bewusst stümperhaft animierten Medusa, die mit einer Computerstimme darüber sinniert, dass das Wissen immer da war, aber dank neuer – nicht mehr kompatibler Technologien – immer wieder verloren zu gehen droht. Gäbe es da nicht die Wissenschaftler, Schrägstrich Expertinnen, die sich bemühen es zu bewahren und zu vermitteln. Die batteln sich zu Beginn vor dem Hintergrund eines übergroßen Medusa-Schädels.

Stoischer Zynismus der Technokraten

Es treten gegeneinander an: Das Orakel Delphi, das inspiriert von giftigen Dämpfen und gewandet in giftgrünes Bondageoutfit nach einem Systemsturz ruft. Ihr Opponent: Der blinde Seher Thereisias, den die Regie im Tütü-Kostüm lächerlich macht und gleichzeitig als Sieger der Geschichte markiert. Er prophezeit, was gewünscht wird. Er reproduziert das System – und profitiert davon. Sie sind Gegner, aber doch die einzigen Erwachsenen auf der Bühne. Sie ignorieren nicht, was alle sehen.

Forecast1 Katrin Ribbe uIokaste in Not: Therese Dörr © Katrin Ribbe

Katharina Hauter wirft als Delphi-Orakel Pythia die kühle Vernunft in die Waagschale. Sie überzeugt als engagierte Ernüchterte, der die geringen Erfolgschancen ihrer Haltung bewusst sind. Quasi die stoische Klimakleberin, die lieber irgendwas Kassandra-mäßiges macht als gar nichts. Michael Stiller als Teiresias setzt dem den stoischen Zynismus der Technokraten entgegen: die begreifen, dass Politik und Gesellschaft jede noch so große Bedrohung ausblenden, wenn es darum geht, Veränderung zu vermeiden. Er überzeugt als Zyniker, dem die eigene Rolle als Clown der Mächtigen durchaus bewusst ist.

Lust am überdrehten Tragödienstoff

Auch bei diesem Konflikt weiß man als Zuschauer (und gesellschaftlich Beteiligter) genau wie es ausgeht. Und wendet sich umso erleichterter – als entlastende Exit-Option zu dieser harten Realität – dem Ödipus-Stoff zu. Die Katharsis von "forecast:ödipus" liegt in der Lust am völlig überdrehten Tragödien-Stoff. Thomas Hauser als Ödipus sucht im Glitzer-Shirt ("Justice for all") nach der Heilung Thebens von der Seuche Klimakrise. Therese Dörr tanzt als Iokaste in einer Art explodierten goldenen Bonbon auf dem Vulkan einer "gated community". Sebastian Röhrle als König Kreon versucht dazwischen mit einer Politik der ruhigen Hand Kontrolle zu simulieren.

Alle drei haben es in Regisseur Puchers Inszenierung recht einfach und bequem: Saut rum mit Kunstblut, slidet über einen glitschigen Folienboden, klettert mit High-Heels über steile Stufen, schreit theatralisch und mit viel (D-)Englisch rum. Das fetzt, macht Laune und dekonstruiert Ödipus brutaler als es jeder "Die Zeit"-Essay über die Überholung alter Mythen durch gegenwärtige existentielle Krisen je könnte. Passend zum Eskapismus der "Tragödie" blendet Pucher dazu auf einer Leinwand Crash-Szenen aus einem Baller-Spiel ein.

Forecast2 Katrin Ribbe uJosephine Köhler (Botin), im Hintergrund: Thomas Hauser (Ödipus), Therese Dörr (Iokaste) © Katrin Ribbe

Die größte schauspielerische Leistung vollbringen dafür die Nebenrollen, die das Scharnier zwischen den Ebenen bilden. Hier ist vor allem Josepine Köhler eine Wucht – als Botin, die Ödipus die Augen öffnet, bevor er sie sich aussticht. Als Klimaflüchtling japst sie nach Wasser und sinniert übers Überleben im totalen Kollaps. Frisch erholt durch eine Dusche im königlichen Palast haben sich ihre Prioritäten total gedreht. Sie spielt mit ihren Haaren, bewertet Smoothies und gefällt sich im Gossip-Teilen über das Drama, das sich vor ihr entfaltet. Mariette Meguid als Dienerin holt gefasst zur Zivilisationskritik aus: "Wir haben uns weggedreht/wir haben die Zerstörung in Kauf genommen/Niemand wird sagen können nicht gewusst zu haben", deklamiert sie, während Ödipus sie von der Seite anbettelt, ihm seine individuelle Geschichte zu erzählen.

Ein Erlebnis!

Dieser dramaturgisch geschickt entwickelte Gegensatz zwischen der marginalisierten Perspektive der Haupt-Betroffenen der Gegenwarts-Krisen und dem dominanten Opfer-Diskurs der Eliten – im Stück repräsentiert durch einen greisen Chor, der sich um den Wohlstand der "Mitte der Gesellschaft" sorgt – macht "forecast:ödipus" zu einem wahren Erlebnis. Das angesprochene und attackierte Bildungsbürgertum im Publikum bedankt sich bei Autor und Regie mit donnerndem Applaus. Im karikierten neoliberalen Duktus des Textes gesprochen: Thanks for slapping our Kapitalisten-Fressen, Theater-Bitches.

 

forecast:ödipus. living on a damaged planet.
von Thomas Köck
Inszenierung: Stefan Pucher, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video / Live-Video: Ute Schall, Hannes Francke, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Thomas Hauser, Therese Dörr, Sebastian Röhrle, Michael Stiller, Katharina Hauter, Celina Rongen, Marietta Meguid, Josephine Köhler, Teresa Annina Korfmacher, Jannik Mühlenweg, Valentin Richter.
Premiere am 13. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

 www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Thomas Köck habe eine "sprachlich höchst musikalische Neudichtung des Antikendramas" vorgelegt, findet Kritikerin Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (15.5.2023). Die Produktion sei "entschlossen, aus dem alten Drama einen popkulturell tauglichen Abend zu machen". Dafür werde der Stoff "mit prächtigem Bilderüberwältigungstheater aufgemotzt", bei dem es das Ensemble offenkundig genieße, "den sprachgewaltigen 'Zungenstreit' mitsamt Kriminalermittlung (eine Stadt sucht einen Mörder, nämlich den von Laios) zu zelebrieren". Der Abend sei ein letzthin umjubelter "Parforceritt durch die thebanisch-schwäbische untergangsgeweihte Welt".

Köck verbinde "die klassische 'Ödipus'-Story (...) mit der Krise einer Menschheit, die wider besseres Wissen in die selbstverursachte Katastrophe steuert", schreibt Otto Paul Burkhardt im Schwäbischen Tagblatt (15.5.2023): "Ödipus reloaded: Der Autor gibt dem alten Text eine neue Dringlichkeit." Und tatsächlich: "Die Überschreibung funktioniert." Zudem sorge Regisseur Stefan Pucher "mit grellen Kostümen, Live-Musik und -Video dafür, dass Köcks teils plakative Weltanalyse öfters ins Groteske kippt – etwa wenn er gigantische raffgierige Greifklauen wie im Gruselfilm ins Bild rückt". Der Abend bestehe so als "zeitgeistig durchlüftete Mythenkorrektur", freut sich der Kritiker.

Regisseur Stefan Pucher mache aus Köcks Stück "eine witzige, bitterböse Trash-Revue – bei der einem das Lachen dennoch des Öfteren vergeht", meint Karin Gramling im SWR2 (15.5.2023). Das sei – auch dank eines "insgesamt sehr überzeugenden Ensembles" – "frech, unterhaltsam und entlarvend".

"Köcks musikalische Sprache übersetzt Pucher in eine traumatische Choreografie", schreibt Elisabeth Maier in der Eßlinger Zeitung (15.5.2023), wobei sich beide "wunderbar" in ihrem Humor ergänzten. Die Inszenierung vermittele "die Endzeit-Diskurse des Autors, der zu den stärksten politischen Stimmen seiner Generation zählt". Leider "entgleite" der Abend am Ende "ins Chaos", was kein "starkes Finale" ergebe.

Ein brillanter Text, ja, sehr viel davon, so viel, dass ein beherzterer Umgang mit diesem wohl getan hätte, findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (15.5.2023). Was Regisseur Stefan Pucher aber nicht getan habe. "Vielmehr stülpt er jedes Wort nach außen und lässt erst einmal ausgiebig auf dem blubbernden Schaum der Motive surfen, bis das Geschehen immer stärker auf Sophokles und die Geschichte des Ödipus, wie der sie aufschrieb, einmündet." Das Stück sei Weltuntergangsdrama, geschundene Natur, allergrößte Entrüstung, so umwerfend wie wohlfeil. "Aber doch muss man es wohl immer wieder und wieder loswerden."

 

 

Kommentare  
forecast ödipus, Stuttgart: Total begeistert
Uraufführung, »Forecast: Ödipus« Living on a Damaged Planet, von Thomas Köck - Nach Titel und Ankündigung war schon wieder ein Klimastück zu erwarten, in dem ich als 'alter weißer Mann' für die Zerstörung der Welt verantwortlich gemacht werde; und was soll ich sagen, genau so war es auch. Das einzige, was nicht meinen Erwartungen entsprochen hat ist: Das Stück hat mich total begeistert und weit nachdenklicher zurück gelassen als alles, was ich jemals zu diesem Thema gesehen, gelesen und gehört habe.

Schon der Einstieg ist grandios. Ein bühnenfüllendes Schlangenhaupt, vermutlich durch eine KI gestaltet, schlägt unmittelbar den Bogen aus dem heutigen Jetzt in die griechische Antike. Ein Gott aus der Maschine, jugendlich frisch, androgyn und überirdisch schön. Die Sprache modern, und trotzdem irgendwie klassisch. Sie chargiert zwischen konkreter Gegenwart und fiktiver Vergangenheit, ohne aufgesetzt zu wirken.

Überhaupt, der Bühnenaufbau ist großartig. Über ein real modelliertes Götter- oder Orakelgesicht werden unterschiedlichste filmische Projektionen gelegt. Es erinnert mich an »Zardoz«, einen meiner Lieblingsfilme. Das Gesicht ist ständig in Bewegung und dient auch als Fläche für die verschiedensten Rollen, die via Handkamera übertragen werden. Das ist in dieser Inszenierung kein Technik-Gag, sondern Kunst vom Feinsten.

Auf dieser Grundlage entfaltet sich das Schauspiel. Auch hier kann man nur schwärmen. Seit langem habe ich diese Qualität nicht mehr gesehen. Man möchte diese Schauspielerin oder jenen Schauspieler hervorheben, dann müsste man aber auch noch diesen oder jene mit dazu nehmen. Einzige Ausnahme: Der Chor der Wohlstandswutschnaubenden. Alleine der Name ist hier in Stuttgart schon Programm.

Kaum zu glauben bei diesem Thema; es gibt einiges zu lachen. Da werden politische Appelle klug und teils witzig aufgelöst, ohne inhaltlich die Aussagen abzuschwächen. Einfach gutes Theater. Viele Denkanstöße, klare Aussagen und vollkommen schlüssig wird herausgearbeitet, was das Ödipus Drama der griechischen Antike mit den heutigen Weltproblemen zu tun hat. Großes Theater, frenetischer Applaus am Ende, sehr zurecht und hochverdient.
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