Schaukeln auf dem Kronleuchter

21. Mai 2023. Christa Winsloe, berühmt für ihre Tierskulpturen und ihr mehrfach verfilmtes Stück "Mädchen in Uniform", hat 1931 "Sylvia und Sybille" veröffentlicht, in dem sich zwei Frauen trotz großen Altersunterschieds ineinander verlieben. In Dresden hat es Daniela Löffner fulminant wiederbelebt.

Von Jorinde Minna Markert

"Sylvia und Sibylle" (Leonie Hämer, Fanny Staffa) am Staatsschauspiel Dresden © Sebastian Hoppe

21. Mai 2023. Sobald man dieses Plexiglasmonster von Tisch sieht, weiß man eigentlich Bescheid: unglückliche Familie. Was ist es nur mit diesen intransparenten Familien, die so versessen sind auf transparentes Mobiliar? Die spärliche aber sehr wirkungsvolle Ausstattung (Regina Lorenz-Schweer) verortet Daniela Löffners Inszenierung des an die hundert Jahre alten Stoffs sowohl in der Gegenwart und auch im Hier und Jetzt. Denn die neun Spieler*innen sitzen verstreut im Publikum, gehen von dort aus in Szenen in der Mitte der Arena im Dresdner Kleinen Haus, bauen Bühnenbild auf und ab, setzen sich ins Publikum zurück, spielen vom Sitzplatz aus weiter, sind immer dabei, tauschen die Plätze – das schafft eine großartig offene, durchlässige Bühnensituation und auch Meta-Faktor. Denn in dem Stück ist die Frage nach dem Richtigen meistens die Frage, auf welchem Platz man sitzt.

Papa reißt Frauen auf

Eigentlich ist es eine hamlethafte Situation, die Christa Winsloes Stück "Sylvia und Sybille" anlegt: Die titelgebende Sylvia (Leonie Hämer) trauert und zürnt um ihre verstorbene Mutter, lastet deren Tod dem Vater und dessen Promiskuität an und verachtet den ganzen Hofstaat dafür, weiter sein fröhliches Treiben zu treiben. Ein Treiben, das sich bestens personifiziert durch Sylvias Bruder Henry, Girlfriend Lilly und deren Clique, technoid gekleidete Gen Z’s, die in ihrem kalten Hedonismus gut getroffen werden (Jakob Fließ, Mina Pecik, Willi Sellmann, Rieke Seja).

Sylvia ist das schwarz gekleidete, in sich gekehrte Teenager-Gegenmodell: nicht ein Quäntchen careless. Die geliebte Mutter sei nicht "versehentlich" aus dem Fenster gefallen, aber wen schere es einen Scheißdreck, Papa reißt Frauen auf, Brudi geht feiern und nein, sie will nicht mitkommen, und nein, sie will sich nichts Buntes anziehen, sie will ja noch nicht mal trauern – sie muss. So bricht es bei jedem Anlass aus ihr raus.

sylviaundsybille 003 presse fotosebastianhoppe cutMelancholie an der Tischtennisplatte: Daniel Séjourné, Leonie Hämer © Sebastian Hoppe

Papa Richard, eher hilf- als herzlos, steckt tatsächlich in seinem eigenen narzisstischen Sumpf aus Workaholismus und Alkoholismus. So ein geiler Macher mit Statement-Brille und Manager-Puls ist das und Hans-Werner Leupelt schafft es, ihn nie gänzlich unsympathisch zu spielen. Bleibt noch übrig: die überspannte Haushälterin Gelle (Christine Hoppe), die irgendwie amourös mit Vater Richard verstrickt ist und sich zu viel in Sylvias Heilsrettung einmischt ("Schick sie doch ins Internat").

Die Bilder sind gut

Der Einzige, der wohl ernsthaft, weil ernsthaft verknallt, versucht, Sylvias Kummer zu verstehen, ist ihr Schulfreund Fritz. Er brennt für die Aufgabe, Sylvia wieder das schöne Leben zu zeigen. Daniel Séjourné erschafft diesen Fritz sehr lustig als nice Guy und leicht verzogenen Nerd, der trotzdem bei den coolen Kids mitschwimmt. Und irgendwie schafft er das ja auch, mit dem schönen Leben zeigen… Und da Fritz auch ein bisschen ein Mamasöhnchen ist – was man ihm nicht verdenken kann, sobald man diese Mama kennenlernt –, setzt er Hoffnung in sie, dass also seine Mutter Sybille (Fanny Staffa) Sylvia helfen, sie rausholen könne aus dem Plexiglashaus und rein in ihr freundlich gestaltetes Kreuzberg-Loft.

Was im Originaltext als Szene von wunderbarer Klarheit angelegt ist, girl meets girl, keine weiteren Fragen, wird in der Inszenierung etwas arg zu Comedy verstammelt. Trotzdem löst sich bei Sylvias und Sybilles Kennenlernen ein, was der Titel verspricht. Dass da zwei etwas teilen, einen seltenen Buchstaben und einen Kummer. Der Wunsch, dieser Liebe zu glauben und den Altersunterschied von 30 Jahren (im Original übrigens 20) sowie die irgendwie ödipale Aufladung zu vergessen, ist groß. Denn die Bilder sind gut. Sie beinhalten im Folgenden die vielleicht schönste Theatersexszene seit Langem, Schaukeln auf dem Kronleuchter und den für Lesbenfilme ikonischen Moment des Kleidertauschs – der wohl das geteilte Schicksal der zugewiesenen Rolle "Frau" meint.

Jede*r bekommt einen Glanzmoment

Während Sylvia jetzt wieder Farben trägt und nur noch nach Hause kommt für neue Klamotten, freut Fritz sich erwartungsgemäß wenig über diese gelungene Rehabilitierung. Er schwört der Liebe ab, zu Sylvia und allgemein, meidet fortan das Mutter-Loft und zerfällt mit den normaleren Gleichaltrigen, Henry, Lilly und Co in Feierei. Einer großen, eskalierenden Rave-Szene wird viel Platz gelassen, dafür an den richtigen anderen Stellen verknappt. Das Bühnenbild erweist sich in dieser Exzess-Szene einmal mehr als brillant, wenn glänzende Rave-Accessoires von den Armen der Partypeople sich als Klebebandrollen herausstellen und aufgewickelt und durch den Raum gespannt ein Laser-Netz zwischen den Tanzenden bilden. Oder wenn lauter medizinische Infusionsständer das Nightlife schmücken, jeder mit mehreren prallen Infusionsbeuteln behangen, aus denen die Feiernden wie aus Caprisonnenpäckchen trinken.

sylviaundsybille 001 presse fotosebastianhoppe cutPartypeople: Jakob Fließ, Mina Pecik © Sebastian Hoppe

Löffners Inszenierung gelingt es, all diesen Einfällen Raum zu geben, ohne dabei aus der Stringenz zu fallen. Ebenso schafft sie es, jedem Ensemblemitglied dieses Ensemblestücks zu Glanzmomenten zu verhelfen. Die psychologische Linienführung des Stücks leidet kaum unter diesem Freilauf, nur an wenigen Stellen zerfasert es mal. Dementsprechend ernst nimmt man die Beziehungen, entsprechend weh tut die unvermeidliche Szene des Erwachens aus den schönen Bildern. Da stehen dann ein Sohn, eine Mutter und eine Tochter ohne Mutter. Da stehen eine sechszehnjährige Sylvia und eine 46-jährige Sybille, die sagen, das ist normal, das ist Liebe und ein sechszehnjähriger Fritz, der sagt, das ist krank. Und sie haben ja recht. Je nachdem, auf welchem Platz man sitzt.

Sylvia und Sybille
nach Christa Winsloe
in einer Überschreibung von Daniela Löffner
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Regina Lorenz-Schweer, Kostüme: Carolin Schogs, Musik: Matthias Erhard, Licht: Andreas Barkleit, Rolf Pazek, Dramaturgie: Uta Girod.
Mit: Leonie Hämer, Fanny Staffa, Daniel Séjourné, Hans-Werner Leupelt, Christine Hoppe, Jakob Fließ, Mina Pecik, Willi Sellmann, Rieke Seja.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
Premiere am 20. Mai 2023

www.staatsschauspiel-dresden.de


Kritikenrundschau

"Die intensive Inszenierung hat große Momente und tolle Bilder", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (22.5.2023). "Löffners Arbeit wirkt nach, fordert zur Diskussion heraus und hat das Zeug zum Renner."

Die Inszenierung halte nicht die Amour fou im Mittelpunkt, "vielmehr sind es die grundlegenden interaktionellen Dysfunktionalitäten aller Figuren, die von Unwille und Unfähigkeit zum Miteinander geprägt sind und den Kern des Stücks ausmachen", so Rico Stehfest in der Sächsischen Zeitung (22.5.2023). Hau-drauf-Effekt verbiete man sich und bleibe im Subtilen. "Genau dieser Griff ist es, der einen zwei Stunden lang ohne Pause an den Lippen der Protagonisten hängen lässt, in der hilflosen Hoffnung, sie mögen einen Ausweg aus der eigenen Misere finden."

Kommentare  
Sylvia und Sybille, Dresden: Kronleuchter
Und noch ein abgestürzter Kronleuchter. Vergleiche Anatol, Wien; Die Feen, Paris; Ein Fest für Boris, Salzburg; Macbeth, München; Maß für Maß, Salzburg und Berlin; Mitridate, rè di Ponto, München; Sommernachtstraum, Zürich; Tartuffe, Nürnberg; Wiener Blut, Darmstadt etc. etc. etc. Wo endet die Einfallslosigkeit und wo beginnt das Plagiat?
Sylvia und Sybille, Dresden: Altbacken
Trotz aller offensichtlicher Aktualisierungsbemühungen, staubt der Text und auch die Inszenierung an vielen Stellen gewaltig. Die Sprache wirkt gestelzt,
viele Szenen sind in ihrem Aufbau unorganisch und eindimensional. Vor allem aber meistens vorhersehbar. Was gesagt wird, wird danach gezeigt. Was gezeigt wird, wird danach erklärt. Wenn man sich ganz dolle freut, schaukelt man gerne, damit wir auch sehen, dass man sich halt ganz dolle freut. Huiii! Ein Überschwang an Gefühlen! (Außerdem muss ja irgendwann jemand auf diesen Kronleuchter. Der kann ja nicht immer nur unmotiviert hoch runter fahren oder dekorativ rumhängen!) Und weil Liebe so schön sein kann und man sich dann durchs Schaukeln ganz frei und natürlich fühlt, läuft dann auch noch Aretha Franklins „you make me feel like a natural woman“ Uff. Danke! Habs verstanden. Ein bisschen „Bro“, „What the fuck“ und „safe“, hier mal ein Smartphone, da mal ein lustiges T-Shirt und eine „Exzess“-Szene, wie sich Lieschen Müller Exzess 2023 in Dresden eben vorstellt. Jo, Diggi, schon auch fett cringy. (Sagen doch die jungen Leute heute so, oder?) Schauspielerisch bleibt der Abend seltsam gekünstelt und produziert. Eigentlich tolle Spielerinnen und Spieler kämpfen da gegen Text und Regieeinfälle auf verlorenem Posten. Insgesamt alles erschreckend nett und altbacken. Ein grober und verstaubter Holzschnitt.
Wäre vielleicht doch besser in der Mottenkiste geblieben.
Man muss eben auch nicht alles wiederbeleben.

Ich schau jetzt mal weiter Killing Eve.
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