Halleluja im Dramatenhaus!

4. Juni 2023. Sophie Rois ist nach sechs Jahren zurück an der Berliner Volksbühne. Bei ihrem Spezi René Pollesch. Gemeinsam suchen sie nach der Macht des Glaubens in säkularen Zeiten. Und finden eine Gaga-Komödie der Extraklasse.

Von Stephanie Drees

"Mein Gott, Herr Pfarrer!" von René Pollesch an der Volksbühne in Berlin © Gordon Welters

4. Juni 2023. Mit den Vorwürfen geht es hier oft nicht zimperlich zu: "Ihr seid wilde, schmutzige Tiere. Wollt ihr nicht mal was arbeiten, als immer nur hier herumzustehen", schleudert Inga Busch ihren Kollegen entgegen, die sich grade wie leicht verdutztes Wild, angeleuchtet vom grellen Licht der Beschämung, in der Bühnenecke rumdrücken. Aber die Erwiderung von Benny Claessens, dessen Bühnenfigur an diesem Abend sowohl Pastor als auch Papa ist, fällt in ihrer Luschigkeit immerhin originell aus: "Mein Gott! Was bedeutet schon dieser kleine Tropfen Faulheit in diesem großen Meer von Fleiß?"

Lob der Trägheit

Die Trägheit, die Trägheit. Die Sache ist schon heikel, denn nicht nur sie drückt auf das Sünden-Konto von Pastor Erricson und Karin, dieser Suchenden im finsteren Tal der Glaubensverdrossenheit. Sie ist ein großartiges Diskurstheatergefäß für Sophie Rois. Neben dem bohrenden Zweifel an der hochdiffizilen Glaubenssache, ach was, es kommt noch schlimmer, dem Zweifel an Gott und seiner Allmacht, vermiesen da wohl auch Unkeuschheit und ein Hang zur weiblichen Selbstverwirklichung die Bilanz. Kein Wunder, dass sehr bald viel geheult wird: der überforderte Pastor, die vorwurfsvollen Töchter.

mein gott herr pfarrer 1 GordonWelters uKatholiken im Berliner Diskurskosmos: Benny Claessens und Sophie Rois spielen frei nach Ingmar Bergman © Gordon Welters

Inga Busch fuchtelt dann zeitweilig mit Espresso-Kanne in der Hand, was Mutter Karin angesichts des Kaffeekonsums der Tochter schwer verstört. Alter Trick der gewieften Katholikin: Lenke von den eigenen größeren Sünden ab, indem du die kleinen der Anderen ganz nebenbei erwähnst. Die Folge ist allerdings eine ganze Heularie in dieser hochneurotischen, christlichen Kleinfamilie.

Aber – ABER! – vielleicht ist das alles auch nur ein Traum. Auch das fragen sich die Figuren immer wieder. Einer, in dem Erinnerungen, Allegorien und Projektionen des Unterbewussten sich zu einem Trip verbinden. Ein Traum, der so wild ist, dass er nicht nur einer Figur gehört, und in dem Benny Claessens sich fragt, warum er Daddy und Pfarrer spielen muss in Erinnerungen von Leuten, die er gar nicht kennt.

Die Bibel, schon wahnsinnig gut geschrieben

Der Abend ist angelehnt an Ingmar Bergmans Filmdrama "Licht im Winter" von 1962, ein eher deprimierender Film über einen Pfarrer in einer schwedischen Kleinstadt, der – selbst in tiefer Glaubenskrise – ein Gemeindemitglied psychisch nicht stützen kann. Es nimmt sich in tiefer Verunsicherung und Zukunftsangst das Leben. Es ist stimmig, dass den Gegenwartszeichen-Zauberer René Pollesch auch die Reflexivität des Katholizismus fasziniert hat.
Wiederkehrender Referenz-Punkt der Dialoge zwischen Karin und Pfarrer Ericsson ist der Zweifel Christi im Moment der größten Einsamkeit: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen." Gleichzeitig lobt Karin die Literarizität der Bibel: Der Gott, der sich selbst infrage stellt. Halt wahnsinnig "gut" geschrieben.

Zwiegespräch gehalten wird vor einem knitterigen Vorhang, hochgezogen gibt er den Blick auf eine Tribüne frei, auf der die Töchter (Inga Busch und Christine Groß) auf 1960er-Jahre-Drehstühlen sitzen und mit der Mutter Schuld- und Sühnefragen klären.

Mutter Rois wandelt erst im grauen, dann im scharlachroten Kleid durch dieses Verweislabyrinth. Der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin prozessiert in Mönchskutten und mit Turnschuhen durch die Szenerie, vokalisiert großartig. Ein bisschen "Life of Brian" ist auch dabei, alle dürfen ihren mental breakdown haben, Benny Claessens hält sich beim Auto-Ohrfeigen selbst die zweite Wange hin, sein einziges Pech ist, dass er seine großen Momente neben einer Sophie Rois haben muss.

mein gott herr pfarrer 4 GordonWelters uBiblische Breitwand: das Volksbühnen-Ensemble auf der Bühne von Hartmut Meyer, in Kostümen von Sabin Fleck © Gordon Welters

"Was ist denn das für ein Dramatenhaus!", ruft sie und… na ja, was soll man sagen: Es ist einer der totsicheren Lacher dieses Abends. Nicht nur, weil das ein hübscher, selbstrefentieller und inkludierender Theaterwitz für alle Anwesenden ist – launig auch für jene, die mit dem um sich selbst kreisenden Text-Mash-up-Pollesch-Theater im hochtourigen Deklamierton bisher wenig zu tun hatten (sollten diese da sein).

"Mein Gott, Herr Pfarrer" ist ein rundherum selbstbewusstes, kompaktes Ding am Ende der Spielzeit geworden. Eine wilde Textschlacht um existentielle Sinnsuche, katholische Verklemmungen und – vor allem – die große Frage, was es eigentlich ausmacht, dieses Christentum. Wie seine patriarchale Tradition, seine Macht im westlichen Unterbewussten lebt und weiterlebt – auch bei denen, die glauben, sich gänzlich von allem Religiösen losgesagt zu haben.

Sophie Rois' Rückkehr

Ganz in Poellsch-Manier dreht sich hier vieles auch um die Frage, wie und ob das funktionieren kann mit dem Glauben an ein höheres Wesen, wenn man als Individuum hochgradig vernetzt und gänzlich allein durch den Spätkapitalismus tapst.

Natürlich ist diese Inszenierung auch eine große Feier zur Sophie Rois' Rückkehr an die Volksbühne nach sechs Jahren. Da sie mit ihrer weltstaunenden und genüsslich-larmoyanten Grantel-Sprachkunst in höchster Form ist, nimmt man im Laufe des Abends fast für selbstverständlich, wie großartig sie das alles macht. Überhaupt: Alle Beteiligten agieren so, wie es in guten Beziehungen läuft: Man lockt die beste Version des Anderen hervor.

Alles ist angemessen gaga und gleichzeitig wohldurchdacht, ein wirklich guter Pollesch eben. Zum Schluss, als das Publikum warm und leicht aufgedreht ist, mancher Lacher schon ein bisschen zu laut, singt der Mädchenchor "Kyrie eleison". Wunderschön, mit der großen Showkraft der christlichen Inszenierung – und alles ist Erlösung.

 

Mein Gott, Herr Pfarrer
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Hartmut Meyer, Kostüme: Sabin Fleck, Chorleitung: Friederike Stahmer, Licht: Kevin Sock, Dramaturgie: Leonie Hahn.
Mit: Mit: Inga Busch, Benny Claessens, Christine Groß, Sophie Rois, dem Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin.
Premiere am 3. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

Pollesch mache es sich ein bisschen zu einfach, urteilt Barbara Behrendt auf rbb|24 (4.6.2023). Der Abend gefalle sich "nun einmal sehr darin, neben seinem eigentlichen Glaubensthema Duftmarken für Bergman-Insider" zu setzen. "Die Frage nach Glaube, Zweifel, existenzieller Einsamkeit stellt er mit Bergmans Sätzen – und wischt sie mit Bergman-Anekdoten wieder flott zur Seite, ohne, dass die Nummern zünden würden. So richtig finden sie nicht zusammen: das boulevardeske Pollesch-Potpourri und die protestantisch-dunkle Bergmansche Seelenerkundung."

"Der Jubel ist groß, die Gemeinde glücklich", aber der Kritiker Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (4.6.2023) möchte sich der "Maulerei" hingeben. "Nichts gegen Orientierungslosigkeit im Kampf mit den Fiktions- und Wirklichkeitsebenen. Die Figuren erscheinen einander in den Träumen, wir sind im Film, aber auch am Set, in Schweden, aber auch in der Volksbühne, etwa wenn sich Sophie Rois darüber freut, den zugkräftigen Titel des Abends durchgesetzt zu haben. Wenn der Mädchenchor der Singakademie zu Berlin am Schluss eine glockenhelle, vielstimmige Kyrie-Eleison-Liturgie anstimmt, ahnt man, wohin der Zauber wollte. Aber das Ding ist einfach nicht fertig, es hebt nicht ab."

Pollesch gelinge es, in Ingmar Bergmans 'Licht im Winter' eigene Lebensfragen zu entdecken und Bergmans Qual in etwas Befreiendes umzudeuten: "'Da ist niemand. Leute, Ihr seid auf euch allein gestellt!' Das mündet in der paradoxen, aber völlig schlüssigen Vermutung, dass das Christentum die ideale Religion für Atheisten sei - schließlich zweifle selbst Gottes Sohn am Kreuz an der Barmherzigkeit Gottes", schreibt Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (5.6.2023). Benny Claessens habe man bei aller schauspielerischen Wucht lange nicht so witzig und gelöst gesehen. Im Zentrum des Abends stehe aber natürlich Sophie Rois, der Laudenbach seinen letzten Satz widmet: "Welcome Home, Sophie."

Zu Transzendenzerfahrungen gereiche die theatrale Darbietung nicht, bemerkt Erik Zielke von nd.DerTag (4.6.2023). "In den schönsten Momenten machen die Bühnenabsurditäten durchaus Spaß, weitaus häufiger bekommt man an diesem Abend den Eindruck eines eher zähen Theatervergnügens." Das laientheologische Geplänkel bleibe oberflächlich. "Es lacht sich schwer während einer Darbietung, die nicht so recht weiß, was sie eigentlich will. Für eine humoristische Dekonstruktion der christlichen Lehre jedenfalls kommt man ein paar Jahrzehnte zu spät." Immerhin: "Die Rois ist eine verlässliche Kraft, von der das Theater nur zehren kann. Und tatsächlich ist es vor allem eine Freude, ihr zuzusehen."

"Hebt schon Polleschs Text nicht so recht ab, der sich kaum entscheiden kann zwischen einem Ernstnehmen theologischer Fragen und ihrer Persiflage, so tritt seine Inszenierung noch stärker auf der Stelle“, schreibt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (4.6.2023). Rois und Claessens stemmten ihre Texte oft mit großen Gesten, als wären es Opernarien, was natürlich komisch und wunderbar sei. "Nur kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass diesem Abend das Zündende fehlt, das Neue." Das überraschend unironische Ende jedoch sitze.

"Wie so oft bei Pollesch ist alles mehrfach codiert, und einiges davon bezieht sich auf den Volksbühnenkontext selbst", schreibt Valentin Wölflmaier in der Berliner taz (6.6.2023). "Als wandelnde Schnittstellen von Bergman-Zitaten darf man aber nicht nur Rois’ wie immer umwerfendem Spiel beiwohnen, sondern auch einem sehr witzigen Benny Claessens sowie den ebenfalls Pollesch atmenden Schauspielerinnen Inga Busch und Christine Groß."

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Mein Gott, Herr Pfarrer, Berlin: Bergman verzwergt
Zum besseren Verständnis der knapp 90 Minuten empfiehlt es sich, das Interview zu kennen, das Rois der SZ-Rubrik Panorama wenige Tage vor der Premiere gab: „Die fetzigen, tagesaktuellen Themen, das können gerne die anderen machen. (…) Die Themen, die sozusagen auf der Straße liegen, haben mich noch nie interessiert. Ich mochte es schon immer, mich an Projekte zu hängen, denen gerade niemand eine große Zukunft voraussagt.“ Getreu dieser Programmatik verschanzen sich Rois und ihr Co-Star Benny Claessens, der nach dem kurzfristigen Ausstieg vor der Sardanapal-Premiere wieder frisch und munter an Bord ist, im Kosmos der frühen Ingmar Bergman-Filme. Ihr verbales Ping-Pong, in das punktuell auch die Pollesch-Veteraninnen Christine Groß und Inga Busch eingebunden sind, kreist um Motive und übernimmt Dialoge aus den Filmen „Licht im Winter“, „Herbstsonate“ oder „Wie im Spiegel“.

Die großen Bergman-Themen Depression, Selbstzweifel, Einsamkeit und vor allem das existentielle Ringen der Hauptfigur Pastor Ericsson aus dem Film „Licht im Winter“ werden verzwergt. Ein paar Bröckchen werfen Pollesch und sein Team ihrem Publikum hin. Diverse Anspielungen gibt es z.B. auf seinen „Persona“-Film und sein Steuerverfahren in Schweden, vor dem er ans Residenztheater flüchtete. Die Promi-Schauspieler*innen werfen sich ein paar Bälle zu, das ist aber höchstens albern. Zu groß ist der Unterschied, zu gering sind die Schnittmengen zwischen dem introvertierten, tiefgründigen Bergman-Kosmos und dem auf Diskursoberflächen surfenden, sein aufgekratztes Fanpublikum bedienenden Pollesch/Rois/Claessens-Kosmos.

Aber da Rois endlich wieder auf der Bühne zu sehen ist, werden ihre routinierte Darbietung und die gesamte Inszenierung vom Premierenpublikum freudig beklatscht. Das "Kyrie" des Mädchenchors am Schluss war allerdings wirklich schön.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/03/mein-gott-herr-pfarrer-volksbuehne-kritik/
Mein Gott, Herr Pfarrer, Berlin: Protestantisch!
Das "Dramatenhaus" hat Stephanie Drees gut beschrieben - bis auf einen entscheidenden Fehler: Es geht weder um "katholische Verklemmungen" noch um "Reflexivität des Katholizismus" noch um "Katholiken im Berliner Diskurskosmos" - ein Pfarrerehepaar kann ja ohnehin nicht katholisch sein! Und der Bezug auf Ingmar Bergman ist so etwas von PROTESTANTISCH
Christiane Gieselmann, Hamburg
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