Schwein oder nicht sein

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 10. Januar 2009. Ein einfaches Bild. Der junge Mann, der Sohn, der Königssohn: Er liegt nackt im Dreck. Bäuchlings streckt er die besudelten Arme von sich und drückt sein wutverzerrtes Gesicht in den Morast. Als wolle er fliegen lernen. Ophelia kniet bei ihm, sie zerrt an dieser gefallenen, krampfenden Kreatur, will das Elend stützen, zum Menschen aufrichten. Doch Hamlet sinkt, und versinkt immer tiefer. Alles ist Schlamm, alles ist Sumpf. Moralisches Absturzgebiet. Wer hier überleben will, braucht keine Flügel mehr, er muss ein Schwein sein auf zwei Beinen wie der Rest der ehrenwerten Hofgesellschaft. Kleiderlos, schwartig, auf schmatzendem Grund. Ganz Dänemark ist ein Schweinestall. Und der Prinz macht Dauerurlaub auf dem Bauernhof.

Kein einfaches Bild. Volker Lösch malt seinen Hamlet zwar, wie zu erwarten, mit groben, dick aufgetragenen Pinselstrichen aus. Auch vermisst man die Figur des Freundes Horatio, die Freundschaft als Gegenwelt, das verborgene Glück der Zweisamkeit – all das passt nicht in den Weltentwurf des Aggressiv-Romantikers Lösch, wo der Einzelne stets weniger als die Gesellschaft zählt. Dennoch verlaufen die Konturen dieses Shakespearschen Super-Antihelden brüchiger, zittriger. Hamlets Charakter entzieht sich einer genauen Verortung auf der Gut-und-Böse-Skala von null bis zehn.

Thesentand im Dänen-Schlamm

Eine einzige glatte gute Null wäre es gewesen, wenn der Einfall des Premierenabends darin bestanden hätte, die Akteure in Pimmel-und-Titten-Nacktkörperkostümen in einem großen, rechteckigen, schwarz-braunen, von Cary Gayler entworfenen Bühnenkasten voller Erde umherstapfen zu lassen. Nicht viel mehr als witzig, Elmar Roloffs komödiantische Klasse in der Rolle der überfetten Gertrud zu bewundern oder Matthias Kelles Schnösel-Laertes  vor der Abreise in die Fremde bei der Karriereplanung zuzuhören: "Ich will nach Lausanne in die Business-School." Auch Löschs bekannte Manier, die Textebene mit pseudoprovokativem Thesentand aus unserem realpolitischen Sündenpfuhl vollzuschmieren – Sebastian Kowskis Claudius parodiert den paranoiden Anti-Terror-Schäuble, als er in Hamlets Wahnsinn ein Sicherheitsrisiko erkennt – wäre angesichts unserer täglichen medialen Horrorszenarien wie eine harmlose Seifenblase ohne Reinigungswirkung geplatzt.

In der Maske des Marine-Richters

Dass aber Hamlet, gespielt von einem sehenswert kantigen Till Wonka, durch sein ewiges Zögern das Böse nicht nur nicht bekämpft, sondern auch noch vermehrt, ist eine interessante, weil konsequente Lesart, die sich auf das konzentriert, was sonst gerne halbherzig abgehandelt wird: Die scheinbar krude eingeflickte Story um Fortinbras und seine Armee sowie die lästige Herumgeisterei des ermordeten Vaters. Dieser erscheint gleich in neunfacher Ausführung. Einfache Stuttgarter Theaterbürger, versteckt in unbefleckten Wehrmachtsuniformen und hinter der Maske des verstorbenen früheren Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Dessen mehr als fragwürdige Rolle als Marine-Richter in der Nazizeit spaltet bis heute das Land. Viele verehren ihn als Landesvater, wenige Unverbesserliche sehen in ihm gar einen Widerstandskämpfer, die Linken hingegen verdammen ihn als Inbegriff der rechten Restauration. Lösch trifft hier einen wunden Nerv.

Die Hamlet-Stammtisch-Front

Und wenn plötzlich diese neun Filbinger-Look-alikes bei Lösch den Sohn mit Rachegelüsten speisen und Hamlet die schuldige Vätergeneration sogar noch rechtfertigt ("Mein Vater war Nationalsozialist. Er war im Krieg und hat auch Leuten das Leben gerettet"), dann wird aus dem Zauderer Hamlet ein geistiger Brandstifter. Hamlet will die Tat, den Umsturz, um jeden Preis. Till Wonka wütet, hetzt, bewirft sich und die anderen mit Dreck, er durchpflügt die Erde, sucht, ohne Plan nach einer rettenden Seelentrüffel, ohne Hoffnung. Man kann ihn verstehen. Uns, das gemeine Theatervolk und die Stammtische da draußen hat er auf seiner Seite, sowieso, wenn er kauernd mit einem Dutzend Flaschen (!) Wasser die maßgeblichen Aufsichtsräte großer Unternehmen in den Boden pflockt, sie auseinander nimmt, zu kapieren versucht, warum ein einziger Manager wie Manfred Bischoff gleich in sieben Aufsichtsräten sitzt. Shakespeares Hof, ein Sauhaufen der Bosse.

Lösch will keine Liebeständelei, Ophelia ist ihm wurscht, die Motive der Mutter, die ambivalenten Verhältnisse der Figuren zueinander. Lösch will kein Schauspielertheater, nur das nicht. Dass er Till Wonka glücklicherweise dennoch agieren lässt, grenzt an ein Wunder. Die Regie gibt Vollgas, der Text wird wie aus einer Stanzmaschine hinausgeschleudert. Ein Turbo-Hamlet. So deklamiert der drahtige Wüterich jeden Namen, jedes Unternehmen, wobei am Ende einer kindischen Suada die gebrüllte Frage steht: "Und wer kontrolliert die Kontrolleure?" Szenenpapplaus für die Frage.

Linke Frage, rechte Antwort

Eine Antwort gibt es nicht, aber Lösch zeigt, was daraus folgt: In diesem unheilvollen, politischen Vakuum wächst die Wut der Apolitischen. Fortinbras' Armee rennt auf die Rampe zu, eine 53-köpfige Kameradschaft. Irres Getrampel. Junge Statisten, der zweite Chor an diesem Abend, adrett gescheitelt, eine physische Pracht in Bomberjacken, mit Schusswaffen und bösen Gedanken bestückt. Die rechte Gefahr. Der neokonservative, antidemokratische Rollback. Hamlet schaut ihnen zu: beim Neonazi-Pogo und Parole-Singen. Gafft solange bis sie ihn selbst töten. Da ist es dann auch egal, dass der Rest der Familie längst tot im Schmutz liegt. Was von Shakespeares Hamletschweinerei übrig bleibt? Eine gröhlende schwarz-weiße Jungmännerwand. Der Refrain "Europa, Jugend, Revolution" von Carpe Diem. Ein Titel, den militante Rechtsradikale gerne kostenlos an Schüler verteilen. Saubere Jungs.

Und ein einfaches Zukunftsbild.

Hamlet
von William Shakespeare, Fassung von Volker Lösch und Beate Seidel auf der Basis der Übertragung von Heiner Müller
Regie: Volker Lösch, Bühne und Kostüme: Cary Gayler, Dramaturgie: Beate Seidel. Mit: Till Wonka, Sebastian Kowski, Elmar Roloff, Katharina Ortmayr, Lisa Bitter, Matthias Kelle, Christoph Gawenda, Stephanie Schönfeld.

www.staatstheater.stuttgart.de

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Kritikenrundschau

Absolut degoutiert zeigt sich Rainer Zerbst in der "Fazit"-Sendung auf Deutschland-Radio (10.1.2009). "Etikettenschwindel", sagt er, weil nur Motive von Shakespeare verwendet würden, Lösch aber etwa ein Viertel des Textes "hinzugedichtet" habe. Erzählt würde trotzdem "selbstverständlich" Hamlet. Auf der Bühne seien alle nackt kostümiert, Hamlet auch, das sei ein Fehler, weil Hamlet doch der Außenseiter sei: "Wo bleibt die Logik in Herrn Löschs Inszenierung?" Ohne Chöre ging es natürlich nicht, nur sei der neunfache Vater-Geist nicht zu verstehen und die Bande schwarzgewandeter Jugendlicher am Ende politische Botschaft mit dem Holzhammer. Aber "bitte", das Theater sollte "nicht unbedingt Holzhammer-Methoden anwenden", dann könne man auch Flugblätter verteilen, das "käme billiger". Rainer Zerbst hat "Agit-Prop-Theater" gesehen und als "bleibenden Eindruck" behalten, dass er in der vierten Reihe einen pfenniggroßen Erdklumpen abbekam. Auch die Laien-Chöre hätten "nicht unbedingt etwas mit Theater zu tun", wie es Rainer Zerbst versteht. Ein Genuss allein sei der komödiantische Elmar Roloff als Gertrud.

Einen Tag später legt die Radiokollegin Cornelie Ueding für die Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (11.1.2009) noch einmal nach. Auf der Bühne, berichtet sie, sei "Geschnatter" zu hören, "schnell und laut, die Musike heftig und kurz – und ich greife zum Mikro." Allerdings, so meldet sie weiter, "das Aufnahmegerät will nicht". Deshalb fährt ihr Bericht ohne Ton fort. Schnell habe sie begriffen: "Hamlet ist Deutschland. Und Deutschland Hamlet?? Gedankenschwer und... na, das ist eher ne falsche Spur. Gedankenschwer ist hier niemand. Schon gar nicht der Regisseur Volker Lösch." Und da das Aufnahmegerät noch immer streikt, werde der "geneigte Hörer" so um "den Genuss von einigen gegrölten Sprechchören" gebracht. Doch die Kritikerin "versteht: mein Gerät hat nicht nur wegen der Kälte gestreikt, es hat einfach auch den Geist aufgegeben bei diesem Theater".

Mit mehr Gewinn sehen es die Kollegen. Anlässlich der Tatsache, dass Claudius in der Mausefalle ungerührt als er selbst auftrete und "Hamlets aufklärerische Kunstaktion" damit scheitere, schreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (12.1.2009): "Volker Lösch ist Hamlet (...). Wie kein anderer Regisseur des Gegenwartstheaters kämpft er gegen die Ungerechtigkeiten des Spätkapitalismus." Till Wonka sei ein "drahtiger, vor Energie vibrierender Hamlet", kein Zweifler, sondern einer, den es zur Tat dränge, erst zum Theater, dann zum Mord. Mit dem Fortinbras-Chor bringe Lösch die Stuttgarter These von der "Generation Hamlet" auf den Punkt. Die Inszenierung sei nicht nur "vollgestopft mit aktuellen Anspielungen", sondern auch "konsequent und kurzweilig", erreiche jedoch nicht das "Verstörungspotential" anderer Lösch-Abende.

Von zehn Minuten kräftigem Premierenapplaus berichtet Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (12.1.2009): "Ein Triumph mit Shakespeares größter Tragödie! Wansinn! Was will man mehr als Regisseur? Tja, was bloß? Im Fall von Volker Lösch steht die Antwort seit Jahren fest: Er will auch den Skandal." Denn nur darüber könne sich der "Agitator" Lösch "richtig freuen". Da sei es dann schon blöd, wenn ausgerechnet das Publikum im Stammhaus nicht mehr mitspielt. Harmlos sei die "sehr entschiedene" Shakespeare-Bearbeitung aber nicht. Denn Lösch lege eine "Lügen-, Schleim- und Heuchelspur, made in Ba-Wü", die zu Hamlet als intellektuellem Neonazi führe. Und das tue die Inszenierung mit "großer Plausibilität", denn das sei "in der Sache zwar schrecklich, doch in der Ästhetik zwingend".


In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.1.2009) schreibt Martin Halter dagegen, Volker Lösch wisse, wie man einen Skandal macht. Er könne das auch. "Auch sein jüngster Stuttgarter Streich ist das, was man gern provozierend nennt." Denn er "zieht "Hamlet" buchstäblich in den Dreck, aber es ist eine grobschlächtig unterhaltsame Schlammschlacht. Und sie pflanzt sich munter im Parkett fort. Es gibt immer wieder Szenenapplaus für kapitalismus- und staatskritische Einlagen und am Ende, nicht minder erwünscht, heftige Buhs und Rufe wie "Shakespearemörder" und "Volkshochschule"". Löschs Hamlet renne allerdings offene Türen ein. Denn "es kracht und spritzt (...), und manchmal funkeln sogar starke Bilder". Aber man spüre nur, "wie Lösch mit aller Gewalt und Plattheit Speck und Dreck nach der Wurstseite des Skandals wirft". Das Beste an diesem Abend sind daher "nicht die nackten Wahrheiten aus dem Wirtschaftsteil, sondern die Schauspieler, obwohl es auf die Kunststückchen bürgerlicher Individualität in Löschs politischem Theatersportkollektiv gerade nicht ankommt".

Nicole Golombek (Stuttgarter Nachrichten, 12.1.2009) hat den Abend mit einem "grotesk heiteren Bild" beginnen sehe. Was danach folge, stehe so nicht im Text, denn "man will es dem Zuschauer leicht machen, auf dass er Parallelen zwischen damals und heute ja nicht übersehe. Also: Der Staat einst war so korrupt wie heute". Die Herrscherfamilie samt Hofstaat wird deshalb als "eine mafiöse Schweinebande" gezeichnet – Lösch liebe eben "die drastischen und simplen Bilder". In einigen Szenen aber, etwa wenn "Hamlet, die Lusche" einfach "abgeknallt" und die "neuen Herrenmenschen" dann "Jugend! Europa! Revolution!" skandieren, "entwickelt der Abend eine enorme Energie". Deutlich schwächer ist die Inszenierung jedoch, "wenn Shakespeare gespielt wird. Ständig muss dann Musik Stimmung herstellen." "Wirklich stark aber ist Till Wonka. In ihm hat Volker Lösch einen aggressiv wütenden und kernigen Hamlet gefunden. Das Tunwollen, aber nicht -können, das latent Reaktionäre, den Selbsthass: All das spielt er sehr klar und fein."

Hamlet ebne dem Fortinbras'schen Skinhead-Kollektiv unwillentlich den Weg zur Macht, "ein nützlicher Idiot der Revolution von rechts", beschreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (12.1.2009). Wenn sich "die fürchterliche Jungschar" über Hamlet beuge, sei das "ein Bild, dessen Gewalt sich physisch bis in die schaudernden Zuschauerreihen überträgt". Wonka sei "die Entdeckung und die Sensation des Abends": ein "begnadeter Anfänger", der den Prinzen "mit staunenswertem Furor" spiele, sich "bis zum Letzten" verausgabe, aber immer glaubwürdig bleibe – worin sich "der gute Sinn von Löschs für sich genommen beliebig wirkendem Konzept" zeige. Löschs Ansatz sei zwar schmal, seine Aggression lade den Text aber auch "neu auf, erzeugt eine Energie, die den Abend in seinen guten Momenten zu einer Erweiterung führt" und erreiche in der Mausefallen-Szene "tolle Hitzegrade". Wie so oft habe "der politische Diskurs etwas mutwillig Forciertes", doch bekämen Shakespeares Worte mitunter "eine unmittelbare Dringlichkeit", in der Rohheit pulse eine "schmerzhafte Wahrhaftigkeit".

Keinen Müller'schen Hamlet, dessen Drama nicht mehr stattfindet, hat Jürgen Berger für die tageszeitung (12.1.2009) gesehen. Im Gegenteil: Dieser Hamlet schreie "mit jeder Faser seines Körpers: 'Mein Drama findet schon wieder statt.'" Lösch bleibe auch diesmal "Deutschlands zähester Provokateur" und präsentiere "den Staat so nackt und korrupt, wie er nun mal ist". Die "erste Großtat des Überrumpelungskünstlers" bestehe darin, "Nacktheit als Fake auszustellen". Auch für Berger ist Wonka "die Entdeckung des Abends". Polonia und Gertrud seien nicht mehr als Karikaturen, Sebastian Kowski als Claudius hingegen "ein ernst zu nehmender Widerpart des Hamlet". Der Filbinger-Chor überzeugt Berger, weniger die Skinhead-Welle, bei der er sich fragt, "warum die braune Springflut ausgerechnet ein 52facher Fortinbras sein soll und nicht etwa Rosenkrantz und Guildenstern".

In der Zeit (15.1.2009) schließlich weist Peter Kümmel darauf hin, daß unter dem Personal aus dem süddeutschen Wirtschaftsmorast, das Löschs "schwäbischer Hamlet" namentlich kenntlich mache, ursprünglich auch der Unternehmer Adolf Merckle hätte sein sollen. Doch nachdem der sich zwei Tage vor der Premiere das Leben genommen hätte, habe Lösch aus Pietät darauf verzichtet. Und weil Kümmel nach reiflicher und höchst leidenschaftlicher Beschau des Stuttgarter Theaterabends zu seinem eigenen Bedauern doch zum Ergebnis gelangt, daß Löschs Theater "für tiefere Wirkung zu beliebig" ist, denn, würde es funktionieren, Hunderte aus dem Saal rennen müssten, tun sie aber nicht. Weil also Löschs Theater letztlich aus Kümmels Sicht doch Halt vor den Mächtigen macht, wendet er sich lieber dem zweiten großen Theaterereignis der Region, dem Blaubeurener Begräbnis von Adolf Merckle zu: "Die Trauergäste können den Blick nicht von ihnen (der Familie) wenden. Alle gehen nach vorn, kondulieren, viel haben Tränen in den Augen. Vielleicht wollen sie nur einmal die Macht berühren und spüren, wie echter Reichtum sich anfühlt. Nun, da er zerfällt." Auch spürt Kümmel Dankbarkeit in der Luft, da Merckle auf seine radikale, autokratische Art allen gezeigt habe, dass es an der Zeit sei, den Glauben zu verlieren "an die Zähmbarkeit der Gewalt durch Geld". Womit Merckle, der Unternehmer, am Ende mit seinem Tod für Kümmel deutlicher als Löschs Hamlet auf unsere heillose Welt verweist.

 

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