Die faltigen Masken der Revolution

von Daniela Barth

Hamburg, 11. Januar 2009. Paris: eine studentische Probebühne, ein winziger Theatersaal, der sich in einer der verwinkelten Gassen in der Nähe des Montmartre an eine enge Häuserzeile schmiegt. Der großstädtische Lärm, der von draußen zu uns dringt, wird allmählich vom anschwellenden Raunen und Murmeln des französischen Publikums eingelullt.

Trotz des ärmlichen architektonischen Ambientes: feine Düfte, feine Stoffe … Stopp! Hastete ich nicht eben noch – keuchend, stolpernd und fluchend über meine Unfähigkeit zur Pünktlichkeit – aus dem Hamburger Untergrund hinauf zum altehrwürdigen hanseatischen Schauspielhaus? Die U-Bahn war's und nicht die Metro! Und: ich habe einen Auftrag.

Der Wind des Gestern

Nach dem ersten Überraschungsmoment, womöglich auch aus dem in mir schlummernden Fernweh geboren, übermannt mich dann doch die Vernunft: Wir befinden uns im Malersaal des Schauspielhauses. Aber die Hälfte der Premierenzuschauer sind offenbar Franzosen. Was bei näherer Betrachtung auch kein so großes Wunder ist, denn das Gast-Regieteam besteht aus Franzosen. Regisseur Sylvain Creuzevault hat bereits einige Stücke deutscher Autoren aufgeführt. Kostümbildner und Maskenspezialist Loïc Nébréda stammt ebenfalls aus Paris. Sie zeichnen für die aktuelle Inszenierung von Heiner Müllers "Der Auftrag – Erinnerungen an eine Revolution" verantwortlich.

Jetzt und hier weht uns der Wind des Gestern an. Heiner Müllers Text stammt aus dem Jahr 1979 und misst Anspruch und Realität der französischen Revolution von 1789 im Hinblick auf die sozialistische "Revolution" im 20. Jahrhundert. Gekoppelt hat er das Ganze an einen von der Revolutionsregierung in Auftrag gegebenen jamaikanischen Sklavenaufstand gegen die Kolonialherren.

Das Stück beginnt mit dem Ende. Die Revolution ist gescheitert, der Auftrag wurde nicht erfüllt, sondern "zurückgegeben". Zwei der Revoluzzer sind tot, der Anführer wurde zum Verräter. Und der Auftraggeber Antoine (Hanns Jörg Krumpholz) – ebenfalls ein gescheiterter Revolutionär – verdrängt Erinnerung und Verzweiflung weinselig beim Sex.

Das widerwärtige Weib Freiheit

In einem spartanisch ausgestatteten (Proben-)Raum, dessen Interieur ausschließlich aus Plastikstühlen besteht, verharrt die siebenköpfige Schauspielerriege zu Anfang in der erbärmlichen Erstarrung des Alters. Intendieren die grotesk verzerrten und faltigen Masken das Heute? Ist hier der offenbar knapp bevorstehende Tod "die Maske der Revolution"?

Zähneklappernde Tattergreise versinnbildlichen den revolutionären Gedanken der Jetztzeit. Das passt und ist mir allemal sympathischer als Müllers – nun ja: tendenziös frauenfeindlich erscheinender Zugang. Bei ihm ist alles Widerwärtige – aber zugleich verheißungsvoll Schöne – weiblich: Die Freiheit ist eine Hure, wie auch Brüderlichkeit und Gleichheit. Der Verrat zeigt bei Müller "seine Brüste und spreizt schweigend die Schenkel".

Es ist ein männlich anmutender, es ist ein starker Text; eine Ansammlung von Historie, die viele Möglichkeiten offen lässt, aber keine konkreten Antworten gibt. "Aufklärung" im klassischen Sinne war Heiner Müllers Sache nicht. Anspielungen hinsichtlich des "real existierenden Sozialismus" wohl, allerdings macht es das aus heutiger Sicht um so schwieriger.

Parabel über die rasende Zeit

Regisseur Sylvain Creuzevault vertraut auf die Kraft der Maskerade, die im Stück des Stückes eine bedeutende Rolle spielt. Die Revolutionäre nehmen die Masken von Revolutionsgegnern an: Debuisson (Felix Kramer), Sohn von Sklavenhaltern auf Jamaika, kehrt zum Schein zu seiner Familie zurück. Begleitet vom französischen Bauern Galloudec (Tim Grobe), der den "Aufseher" gibt, und von Sasportas (Stefan Haschke) – einem aus der Sklaverei geflohenen Schwarzen – als hündischem Leibeigenen.

Die Regieanweisungen werden eingesprochen, die Protagonisten agieren wie Schauspieler bei der Probe, räumen die Stühle hin und her, um der Szene entsprechende Positionen einzunehmen. Dies alles geschieht erstaunlich unaufgeregt, geradezu abgeklärt routiniert. Der Müller-Text bleibt auf diese Weise absolut im Brennpunkt. Keine leichte Kost jedenfalls.

In lebhafter Erinnerung werden die Parodie auf Büchners "Dantons Tod" – Galloudec als Danton und Sasportas als Robespierre – als skurriles "Theater der Revolution" sowie die vom Band eingespielte Traumsequenz des "Mannes im Fahrstuhl" bleiben: der wohl stärkste und noch heute am besten funktionierende Part des Müller-Textes: eine Parabel über die rasend vergehende Zeit, deren Relativität, über die Sinnlosigkeit eines noch nicht erteilten Auftrages, über Hierarchien und Machtstrukturen und eine an sich verunsichernde Welt. Hier tragen die Schauspieler wieder die Masken des Alters.

 

Der Auftrag
von Heiner Müller
Regie: Sylvain Creuzevault, Bühne: Julia Kravtsova, Kostüme und Theatermasken: Loïc Nébréda, Musik: David Georgelin.
Mit: Marco Albrecht, Katja Danowski, Tim Grobe, Ute Hannig, Stefan Haschke, Felix Kramer, Hanns Jörg Krumpholz.

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Till Briegleb weiß in der Süddeutschen Zeitung (13.1.2009), "dass die Maske einerseits dem Schutz vor Verletzungen dient, andererseits als bedrohliche Verschleierung der wahren Absichten". Und dies sei "immer wieder Thema von Müllers Texten". Sein Stück "Der Auftrag" etwa, spielt die Maske "ihren ganzen doppelten Schrecken aus". Creuzevault nun, "der zum Zeitpunkt der Wende sieben Jahre alt war", und also "weder konkrete Erfahrungen mit gescheiterten Utopien noch mit gesellschaftlichen Zwangssystemen hat", flüchte sich "in die totale Maskierung der Inhalte". Jeder Versuch, "das Stück zu spielen, es mit Phantasie, Ironie oder Kommentierungen aufzuladen", werden in der Erstarrung des Stoffs zum bloßen Vortrag unterbunden". Der Unterschiedzum Hörspiel reduziere sich so "auf ein Minimum". Die "Humorlosigkeit" und "Ängstlichkeit", mit der Creuzevault das Desillusionierte in Müllers Text behandle, "als sei es eine absolute Wahrheit und keine historische Lehre, macht diesen "Auftrag" so leblos und dozierend".

Simone Kaempf
schreibt in der tageszeitung (13.1.2009), dass allen an diesem Abend "die Dringlichkeit ihres Auftrags (...) in weite Ferne gerückt" ist. Meistens überwiege daher "ein aufsagender Ton, überraschend dicht am Text, als ginge es um die Psychologie der Figuren und nicht um Müllers Kräftemessen der Geschichte". Denn Sylvain Creuzevault "inszeniert aus der Sicht der Spätgeborenen, die Haltungen ausprobieren, überstülpen und wieder ablegen." Und "während bei Heiner Müller viel von Jamaika die Rede ist, spielt man im Bühnenbild von Julia Kratsova in einem leeren Amtszimmer." Dennoch befinde man sich "hier dann doch weniger im Untergeschoss einer Behörde, als im abstrakten Keller der Geschichte". Im Grunde inszeniere Creuzevault "eine Begegnung mit Müllers Text, in der wiederum die Selbstbegegnungen der Revolutionäre mit ihren Rollen stecken." Wenn nämlich "der Auftrag nicht mehr erfüllbar ist, bleibt den Figuren nur die Wahl zwischen Selbstaufgabe, borniertem Individualismus und heroischem Festhalten".

Monika Nellissen
(Die Welt, 13.1.2009) vermutet, der Regisseur "muss einen höllischen Respekt vor dem Autor und seiner Sprache haben". Denn er inszeniere ihn "wortgetreu in mehr oder minder strenger Askese in statischen Bildern". Die Schauspieler würden dabei den Text mitunter so künstlich unbeteiligt herunterleiern, "als glaubten sie selbst nicht an das, was sie gerade verhandeln". Die größte Qualität dieser Inszenierung sei dennoch "ihre Musikalität, ihr Gespür für die Sprachmelodie".

Unter dem Kürzel wend ist im Hamburger Abendblatt (13.1.2009) zu lesen, Creuzevault und sein Team haben das Stück "karg und hoch konzentriert in Szene gesetzt". Den Schauspielern "bleibt kein Gestaltungsspielraum beim komplexen Text im asketischen Rahmen". Das Publikum muss sich so "in langen anderthalb Stunden die Erkenntnis ersitzen, dass Revolution harte Arbeit ist". Und für den Regisseur gelte: "Die Revolution frisst ihre Kinder."

 

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