Jazz mich, und ich liebe dich

von Dirk Pilz

Berlin, 25. Januar 2009. Erst mal die Schuhe ausziehen. Willi Kellers, roter Pulli, lässiger Gang, hockt sich an sein Schlagzeug, schiebt die Schuhe zur Seite und rührt mit dem Besen ein bisschen auf Becken und Trommel. Schön langsam in den Rhythmus reinfummeln. Bis Jean Paul Bourelly, gelbes Hemd, cooles Lächeln, über die Bühne zu seiner knallroten E-Gitarre schlendert, bisschen Akkorde probieren. Rascher Blick zu Kellers, erste kleine Session.

Viviane DeMuynck kommt. Weiter Morgenmantel, verschmitzter Blick. Sie pflanzt sich hinten auf einen Stuhl vors Mikro. Seltsame Geräusche, die sie da macht. Eine Mischung aus Möwenkrächzen und Mäusefiepen, wie das Stimmschnarren von Verrückten. Gemeinsam brüten die Drei einen Sound aus, der keine eindeutige Einordnung duldet.

Yeah, man!
Dann Gilbert Diop, ein Bühnenbetreten als Großaugenzwinkern. Er schwitzt, auf dem Kopf eine Mütze. Sein Musikerwerkzeug sind vier Sabars, Schnurspanntrommeln, mit Ziegenfell bespannt. Er bearbeitet sie mit bloßen Händen und kleinen Holzstäbchen. Unter seiner Sabar-Bank liegt ein ganzes Häufchen davon. Die Stäbchen brechen schnell, und Diop lässt es sich gern gefallen, mit harten, knallenden Überraschungsschlägen auf seine Trommeln alle aufzuschrecken. Er grinst: "Yeah, man!"

Kellers hat sich jetzt seinen Pulli ausgezogen und unter die Trommeln gestopft, Bourelly spielt mit geschlossenen Augen, Diop wackelt mit dem Kopf. Die erste längere Session ist großer Jazz. Sehr laut am Ende.

Katharina Schüttler ist inzwischen auch da. Hellblaue Jeans, schwarze Absatzstiefel. Sie staunt die Musiker an, blinzelt ins Publikum und zu Charly Hübner. Er raucht, wippt mit den Beinen.

Und das alles ist verdammt gutes Theater, ziemlich ungewöhnliches allerdings. Denn die Dramaturgie dieses 75-minütigen Abends im Rahmen von spielzeiteuropa, dem Festival der Berliner Festspiele, glaubt nicht an die Überzeugungskraft von Worten; sie glaubt an die Unabweisbarkeit von Rhythmen.

Diese jedoch entdeckt sie auch diesseits der Musik: in der Sprache, der Seele, dem gesamten Dasein letztlich. Thorsten Lensing und Jan Hein, das schon vielfach gepriesene Regieduo, hat eine Inszenierung von seltener Schönheit geschaffen – es ist die herbe, spröde Schönheit des Unergründlichen.

Der Mensch, die Stadt, die Erlösung
Einen Text hat dieser Abend auch, den vierten Teil des Langgedichtes "Paterson", an dem der amerikanischen Schriftsteller und Arzt William Carlos Williams von 1946 bis 1958 geschrieben hat. Es experimentiert mit verschiedenen Formen und einer zentralen Metapher: "dass ein Mensch für sich genommen eine Stadt ist". Seine Stoßrichtung ist laut Williams die "Suche nach der erlösenden Sprache." Diese Sehnsucht aber kennt viele Ausdrucksformen und Erscheinungsweisen.

Im vierten Teil von "Paterson", "Der Lauf zum Meer" betitelt, findet sie in einer Begegnung zwischen Corydon und Phyllis Platz, erzählt in Dialogen, Briefen und kurzen Versen. Corydon und Phyllis sind mythische Figuren der antiken Hirtendichtung, bei Williams sind sie eine ältere, gebildete Stadtdame und eine junge Masseuse vom Land. Sie sprechen über Liebe, Geld, das Angeln; sie begehren, bedürfen und fürchten einander.

Bei Lensing und Hein ist Viviane DeMuynck, die 63-jährige belgische Schauspielberühmtheit, die Corydon und die 30-jährige Katharina Schüttler die Phyllis; Charly Hübner ist Phyllis' trauriger Liebhaber Paterson. DeMuynck hat eine rissige, raue Stimme und einen fülligen Leib. Wenn sie tanzt und gurrt, ein Sektglas in der Hand, den Kopf nach vorn geworfen, wirkt es, als sei ein fremder, heiterer Gott in sie gefahren. Diop entschlüpft ein Vergnügungsquietscher, Kellers peitscht seine Trommeln, und Schüttler steckt sich fahrig das Haar hinters Ohr. Stumme Szenen spielt sie immer mit halboffenen Lippen, spricht sie, klingt es, als badeten die Silben in glibberigem Gelee. Charly Hübner raucht dagegen viel und blättert in der Zeitung. In einer Szene steht er nackt mit roten Socken vor Schüttler. "Macht das Sinn?" Schüttler schlenkert mit der Hand: "Nicht viel."

Die Botschaft lautet: Jazz!
Doch, das macht Sinn. Nur nicht jenen, der sich auf einen beruhigenden Reim bringen ließe. Alles ist hier im schönsten Widerspruch. Einerseits die lyrische Sprache, andererseits ein Jazz-Kosmos voller Anarchie und Zügellosigkeit. Einerseits das ins Metaphysische strebende Erlösungssehnen, andererseits befinden sich alle auf der Bühne, als wären sie daheim im Bad unterwegs, so unterspannt und geerdet und ungeschützt wie sie sind. Die Schauspieler sprechen ihre Texte nicht, sie kriechen darin herum, wühlen sich hinein. Sie gleichen sich der Musik an: einfach fallen, treiben lassen. Kurz bevor die Stimmung ins Sentimentale kippen könnte, knallt Diop auf die Trommel. Yeah, man.

Und jetzt bloß nicht nach der Botschaft, einer Deutung fragen. "Der Plot ist wie Gott", hat Williams in einem Brief über "Paterson" geschrieben, "je weniger wir ihn definieren, desto dichter sind wir an der Wahrheit". Wie wahr das ist. Je mehr wir uns auf den Sound, den Rhythmus einlassen, desto näher sind wir an der Seele dieses Abends: Jazz heißt das Erlösungswort.


Der Lauf zum Meer. Ein Idyll
von William Carlos Williams
aus dem Amerikanischen von Karin Graf und Joachim Sartorius
Regie: Thorsten Lensing und Jan Hein, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Anette Guther, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Viviane DeMynck, Katharina Schüttler, Charly Hübner, Jean Paul Bourelly, Gilbert Diop, Willi Kellers.

www.berlinerfestspiele.de

Im März 2008 war nachtkritik.de in den Berliner Sophiensaelen dabei, als Thorsten Lensing und Jan Hein Onkel Wanja auf den Gipfel der Verzweiflung trieben.

 

Kritikenrundschau

"Gedichte und Briefe sind in die Dialoge eingestreut, die Handlung bleibt im Ungefähren", schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (27.1.). Das Eigentliche des Textes sei aber ohnehin sein "Rhythmus, sein Atem, sein unergründlicher Subtext, der mal witzig und mal unheimlich im Weiß zwischen den gedruckten Worten sitzt". Thorsten Lensing und Jan Hein "haben für ihre Theaterfassung das Naheliegendste gewählt. Sie haben den Text musikalisiert. Ganz und gar." Mit etwa Jean Paul Bourelly auf der Bühne, der als Gitarrist schon Miles Davis beeindruckte, sei das für Jazzliebhaber ein schönes Konzert. "Es hat nur den Nachteil, den Schauspielern und der Stille zwischen den Worten keinen Raum zu lassen." Allein Viviane DeMuynck "vermag den Rhythmus der Musik in ihr Spiel zu übernehmen". Dagegen wirken Katharina Schüttler als Phyllis und Charly Hübner als Paterson fehl am Platz. "Auch den Regisseuren verschlug es offenbar den Atem: Nur alberne Wasserspiele und geheimniskrämerische Posen des Lakonischen."

Das Duo Thorsten Lensing und Jan Hein aus Münster habe schon "in den letzten Jahren mit Ruhe und Kraft kostbare, durchdachte Inszenierungswunder vollbracht", holt Ulrich Seidler in Berliner Zeitung (27.1.) aus und sah am Ende ein "Delta der Bewusstseinsströme": Das Wasser aus der Williams-Quelle scheine ganz von selbst ins Theater zu sickern, "es steigt und fließt und reißt die Zuschauerreihen auseinander, ein jeder driftet, taucht und sprudelt seiner Wege (...). Worte, Gedankenlichter, Töne, Trommelblitze treiben wie Gischtschaumkrönchen auf den unerforschlichen Wellen umher." Darüber kreischen hungrige Möwen, die sich frei nach Williams mästen mögen "an unseren Hoffnungen, Verzweiflungen, Leberflecken, Narben, Zähnen, Nägeln und was sonst noch so unsere Identität ausmacht". Fazit: "Lasset uns treiben."

Für Jürgen Otten von der Frankfurter Rundschau (28.1.) gehen Lensing und Hein in diesem "antiaufklärerische Theater" von Williams Credo aus, dass man desto dichter an der Wahrheit ist, je weniger man den Plot definiert. Ihr Vorgehen also: "spontan, ziellos, sinnvermeidend". Entsprechend  sorgten die Musiker Kellers (am Anfang: "sehr einfühlsam"), Bourelly ("furios improvisierend") und "der hammerharte Sabar-Trommler Gilbert Diop (ihn werden wir wegen gezielter Lärmbelästigung noch vor Gericht zerren)" für "definitiven Großstadt-Blues". Mit dem Text allerdings werde es "schwierig". Denn das Theater erlaube dem Text, der weder "reden noch bedeuten und auch nicht parodieren oder irritieren", sondern "einfach nur da sein" wolle, eben dieses zwecklose Ausdrucks-Dasein nicht: "Das Theater will, irgendwie, weiter gedacht werden. In diesem Anti-Theater kommt das Weiterdenken aber nur als Sottise vor. Als Slapstick. Als Floskel." Während Williams Gedicht Empfinden und Denken ermögliche, wirke dieses, so auf die Bühne gebracht, "nur noch sehr befremdlich. Und irgendwie unnötig."

Kommentare  
Lauf zum Meer: Leerlauf, es gelingt nichts
"Ganz ruhig", wie ein Philosoph und Boxtrainer zum angeschlagenen Boxer vor der vorletzen Runde sagt.
Ein misslungener Abend ist wirklich keine Tragödie. Traurig an diesem Abend ist vielmehr: es gelingt gar nichts. Weder der Rhythmus der Sprache noch der Musik, noch der zu erhoffenden Bilder kann überzeugen. Das Langgedicht von des Arztes Williams, eine poetische Reise entlang der Küste New Jerseys und durch die Seelen der drei Hauptfiguren ist in einer schönen Übersetzung hier als emotionaler Leerlauf zu beobachten. Keine Melancholie und kein Schmerz ist auf der Bühne zu entdecken. Der Text ist eigentlich eine (gewollt) endlose Suche und Reise. Poesie und Unendlichkeit die Ränder der Idylle.
Alles nicht so schlimm, die Schauspieler stehen oder schwanken hilflos zwischen den Musikern herum und vermitteln das Gefühl, nicht zu wissen, worum es Ihnen geht und das ist dann doch schlimm! Nicht jeder Theaterabend muss "sinnvoll" sein. Aber jede Theaterminute sollte versuchen leidenschaftlich und unersetzlich zu sein! Schade.
Lauf zum Meer: Kritik in halber Stunde?
der wortreichtum der kritik soll wohl auf die "ruhe und kraft" verweisen mit der auch sie entstanden ist. aber alles tricks. hat ihn höchstens eine 1/2 stunde gekostet.

(Dank für Hinweis auf den Schreibfehler - die Redaktion)
Lauf zum Meer: Kritiker fallen auf Programmheft-Zitat herein
"Der Plot ist wie Gott, je weniger wir ihn definieren, desto dichter sind wir an der Wahrheit". Alle Kritiker zitieren aus dem Programmheft diesen schlauen Satz und fallen auf ihn herein. Der Abend ist ein eher langweiliges Jazz-Konzert mit bescheiden schauspielernden Ölgötzen dazwischen. All diese Kritiker will ich doch mal fragen, wie sie es fänden, wenn es im Theater nie einen Plot gäbe. Ich glaube, sie würden dann lieber gleich in Konzerte gehen, und mit etwas Glück, wären das dann bessere. Mit Wahrheit hat das alles jedenfalls nichts zu tun.
Lauf zum Meer: unsägliches Schwafeln der Kritiker
Natürlich ist das ein unsägliches Schwafeln, wenn so mit Geraune um metaphysische Höhen, und banalen Pinseleien um einen Abend Jazz und Lyrik (ein zu Recht vergessenes Genre) dann der Allerweltssatz das macht Sinn geschmettert wird. Williams ist natürlich einnehmend und Musik, die Musiker und die Schauspieler auch, nur: Kirche im Dorf lassen - denn an sich ist die Beziehung von Lyrik und Bühne eine verwandte, nur, bierseliges Loben kann zarte Pflanzen ertränken.
Lauf zum Meer: keine Krise der Theaterkritik
Nach der Kritik oben hatte ich großes Interesse an dem Stück, aber leider wird es nicht mehr gespielt. Es gibt keine Krise der Theaterkritik. Im Vergleich zu anderen Zeitungsressorts bewegt sich die Theaterkritik auf recht hohem Niveau.
Was lese ich da? Die Lyrik ist ein zu recht vergessenes Genre? Gerade bei Klassikern hört man viel Lyrik auf der Bühne. Goethes Faust, Shakespeare oder Schiller nur als Beispiele. Es ist mir neu, das zarte Pflanzen durch zu viel Lob ertränkt werden. Wie wäre es mit Gottfried Benn oder Ingeborg Bachmann für Herrn Auer? Oder, um bei der der Gegenwartslyrik zu bleiben, mit Durs Grünbein?
Lauf zum Meer: Jazz ist nicht Lyrik
Tut mir leid, wenn ich mich da missverständlich ausgedrückt habe, denn ich meinte genau was Sie sagen, die Beziehung von Lyrik und Theater ist eine verwandte, nur nicht die von Jazz und Lyrik. Was das Loben betrifft, dürfen wir gern anderer Meinung sein. Denn auch wenn mir die Kritik nicht gefällt ist der Abend natürlich sehens- und hörenswert.
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