Klangschatten eines Dorfes

von Georg Petermichl

Wien, 30. Januar 2009. Jetzt mal ganz ehrlich: Die Suche nach der Metaphysik der Dinge wird man nicht unbedingt in den dunklen Tälern Tirols oder der Schweiz beginnen. In den Dörfern, bei den düstren Wäldern weit hinter der Vorstadt, wo Natur nur nach ihrem Ertrag gemessen, das Leben von Redundanz und manuellem Fleiß bestimmt wird. Wo Leid auch eine dauerhafte physische Komponente hat.

Doch die kurzen, poetisch rhythmisierten Texte, die der Tiroler Dramatiker und Regisseur Händl Klaus in seinem Prosadebüt "Legenden" (1994) versammelt hat, sind getragen von der verschworenen Lebensstrategie seiner ruralen Charaktere. Eine Auswahl davon bildet das Libretto eines "szenischen Konzerts" des Schweizer Regisseurs und Komponisten Ruedi Häusermann im Kasino des Burgtheaters am Wiener Schwarzenbergplatz. "Die Glocken von Innsbruck läuten den Sonntag ein" lebt an seiner Textbasis vom enigmatischen Charme einer Dorfgesellschaft – von einem Begriff der Heimat, und davon, dass Heimeligkeit ausschließlich mit Lücken der Unheimlichkeit geliefert werden kann.

Fein betuchte Bühnengestalten
Für Textkenner lässt der Beginn des Theaterabends zunächst eine Bedeutungswelt zusammenbrechen: Nirgends sichtbar Rurales - stattdessen wird ein Baugerüst, vollgestopft mit Kartonboxen und anderem Tand, von sieben fein betuchten Bühnengestalten umher geschoben, um zeitgleich Vermessungsarbeiten zu einem raumfüllenden Schachbrettmuster zu beenden. Man blickt auf eine Ansammlung von Dingen, die emsig ausgeräumt werden: Marmorfurnierte Holzplatten, Stühle, Diaprojektoren, Projektionsflächen und vier ausgeweidete Klaviere. Letztere werden nach dem Verlöschen des Saallichts minutiös präpariert, ihr Inneres mit Klebestreifen und Folien versorgt.

Gut: Sie klingen später dann nach Zither und Hackbrett, können schnarren, pochen, trommeln und klopfen. Und durchwegs werden sie den Reiz einer zurückgenommenen, davonhastenden Filmorchestrierung versprühen. Das kennt man vom französischen Film, oder von Industrial Music. Von den Glocken von Innsbruck glaubt man sich, bitte, weit entfernt. Einige Bodenplatten sind inzwischen ausgelegt. Lautsprecherboxen stehen bedeutungsschwer im Raum. Der Hellraumprojektor ist an der Markierung. Paul Wolff-Plottegg hat sogar einen Plan von all dieser Unlesbarkeit auf die Wand geschmiert. Und Händl Klaus flüsterte bereits vornüber gebeugt – also kurzatmig – vom "Gnadenwald" und vom sinnlichen Leben der "Paulsberger Forellen" vor ihrer Schlachtung. Nur in minutiösen Anklängen lebt der rurale Raum in den ersten dreißig Minuten.

Schneidender Wind der Ziehharmonikas
Mit einem Klick ist plötzlich alles anders: Der Overheadprojektor geht an, und die Boxen werfen die Schatten eines Dorfs an die Projektionsfläche. Farbfolien projizieren saftige Wiesen samt Horizont. Im Atmen der Ziehharmonikas liegt schneidender Wind. Als Antwort auf die vorangegangene Skepsis haben sich die Performer artig als Kirchenchor formiert und trällern siebenstimmig: "Gib dich zufrieden, und sei still."

Das Duo Händl Klaus/Häusermann hat sich an ein genialistisches Theaterexperiment gewagt: in zwei Stunden erzählen sie vom Bedeutungsfluss der Dinge und Wörter im Theater. Sie extrahieren aus all ihren Tonaufnahmegeräten, ihren Instrumenten, den Kartons und Diaprojektoren, der Stimme und den Tönen ein urtümliches Eigenleben.

Ihre Endstation ist ausgesprochen simpel: Am Ende finden sich die Performer in einer Lesung (Händl Klaus) mit Diaprojektion (Gerrit Jansen) und Moderator (Paul Wolff-Plottegg) samt vier Klavieren (Annalisa Derossi, Stefan Kallin, Hannes Marek, Christian Teltscher) auf einem Marmorboden wieder. Zuvor behandeln sie ihre Texte, Klänge und Requisiten als was sie sind: Ausgangsmaterial auf dem Weg zum Endstoff. Dazwischen lebt das Provisorium, das sich kurzzeitig als konkrete Situation einfrieren lässt: als Dorf, als Klavierschule, also Stadt oder Laientheaterbühne.

Das Konglomerat aus grandiosem Text, großartiger Bühne (Muriel Gerstner, Häusermann, Ulrich Schneider) und famoser Musik sucht seine Stärken durchwegs in Kunstgriffen der Zurückhaltung. Die Bühnencharaktere scheinen akribisch jene handschriftliche Partitur aus Musik, Szene und Text zu erfüllen, die mehrere Seiten des Programmhefts ziert. Nach großen Gesten sucht man vergeblich, manchmal wird das Spiel mit Vexierbildern daher langwierig. Händl Klaus/Häusermann probieren hier kein cooles, abgeklärtes Theater.

Exzentrik hat damit ein anderes Level erreicht. Herzlich willkommen!


Die Glocken von Innsbruck läuten den Sonntag ein (UA)
ein musiktheatralisches Projekt von Ruedi Häusermann
mit Texten von Händl Klaus
Regie und Komposition: Ruedi Häusermann, Mitarbeit Regie: Philip Jenkins, Bühne: Muriel Gerstner, Ruedi Häusermann, Ulrich Schneider, Kostüme: Barbara Maier, Musikalische Organisation: Otmar Klein.
Mit: Gerrit Jansen, Händl Klaus, Paul Wolff-Plottegg. Musiker: Annalisa Derossi, Stefan Kallin, Hannes Marek, Christian Teltscher.

www.burgtheater.at


Mehr lesen? Von Händl Klaus zuletzt besprochen wurde Sebastian Nüblings, im September 2008 bei der Ruhrtriennale herausgekommene Inszenierung des umstrittenen Wort-Sing-Spiels Furcht und Zittern.

 

Kritikenrundschau

Uwe Mattheiß konnte Ruedi Häusermanns tastender Bühneninstallation deutlich etwas abgewinnen, wie man seiner Schilderung des Abends in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (1.2.2009) entnehmen kann. Das fängt schon mit den ihm zugrunde liegenden Texten jenes Autors an, der "den Nachnamen immer zuerst angibt, so wie es grimmige Landvolksschullehrer einst verlangt haben mögen". Denn dessen illusionslose, mit beinahe "büchnerschem Seziermesser" durchgeführte und in vielen Arbeitsschritten zum "letalen Giftsud" angerührte Naturbeobachtungen beeindrucken ihn sehr. Auch "als Körper in Häusermanns Bühneninstallation" kann Händl Klaus dem Kritiker eindrucksvoll demonstrieren, dass die Sätze seiner Texte aus einem Grenzgebiet stammen, "in dem Sprache nur bannt und benennt und fern davon ist, so etwas wie ein flüssiges Verständigungsmittel zu sein". Insgesamt fügt sich alles aus Sicht Mattheiß' höchst stimmig "in Häusermanns konzertante Versuchsanordnung". Darin sieht er nämlich den Dichter in ein emsiges Bühnenforscherkollektiv zurücktreten, "das mit dem rostigen Hausrat des Theaters spielt, mit angeklebten Bärten, Türme baut, Städte, Dörfer, Landschaften und erkundet, welche Behauptungen darin überhaupt noch wahr sein können. Sieben Personen suchen eine Form." Mattheiß ist froh, dass sie erst im letzten Bild zu dieser Form finden und er ihnen so lange beim Suchen zuschauen kann.

Im Standard (2.2.2009) schreibt Ronald Pohl über Händls Kalendergeschichten, sie seien "auf die treuherzigste Weise makaber. In ihnen steckt sehr viel mehr Wissen, als sie preiszugeben gesonnen wären." Bei der Uraufführung dieser Texte aber handle es um ein "stimmungstechnisches Generalversehen: kein Theater, nirgends." Der Abend genüge "sich vor allem selbst", worin aber zugleich "seine Raffinesse" liege: "Im abgedunkelten Licht eines alpenländischen Landvermessungsbüros entfalten vier Musiker, zwei Schauspieler und ein Autor (Händl Klaus) eine bienenfleißige Betriebsamkeit." Vielleicht sei "dieser subtil schnurrige Abend auch nur zu schön, um wahr zu sein. Ein kleines bisschen langweilig ist er doch."

In Händls Geschichten kollidiere "eine scheinbar idyllische Stimmung mit äußerster Brutalität", bemerkt Barbara Petsch in der Presse (2.2.2009). "Abgesehen von der schönen Sprache (…) sind diese auf den ersten Blick schrulligen Texte ziemlich einprägsam." Ruedi Häusermann dagegen, der viel mit Christoph Marthaler gearbeitet habe, wirke "wie ein Epigone. Die musikalische und szenische Illustration ist einfallslos, besonders, wenn man die vielen Formen bedenkt, in denen das Thema Land & Leute schon auf der Bühne erschienen ist." Und so handle es sich um den "eher misslungenen Versuch, eine Partitur als Theaterstück zu präsentieren: mit wenig Witz, viel Verschrobenheit – und noch mehr Leerlauf." Schließlich sei ja der Marthaler-Stil "mittlerweile auch schon ein wenig verbraucht".

In dem "szenischen Konzert" von Händl und Häusermann gehe es "weit eher um die langsame Verfertigung von Gedanken, von einer Situation, als um ihre Apotheose", schreibt Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (2.2.2009). Der Abend, der "im Transitorischen die Hauptsache sieht", mache "seine Entstehung selbst zum Thema". Die Erzähl-Fragmente ordneten "sich nicht zu einem Gesamtbild", und Häusermanns Komposition ergebe "kein großes Stück". Doch das "Spiegelkabinett, in dem Händl und Häusermann die Zuschauer führen", reflektiere "in Hunderten Splittern eine verlorene Welt". Und so werde man als Zuseher "reich belohnt".

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.2.2009) berichtet Martin Lhotzky mit freundlicher Befremdung von der Inkonsistenz der Veranstaltung: "Zwischen der Vermessung des leeren Raums im Wiener Kasino am Schwarzenbergplatz und dem zögerlichen Schlussapplaus wurde (...) ländliches Ambiente aus Pappschachteln nachgestellt, wurden Fotoshootings improvisiert, Kostüme und Rauschebärte an- und wieder ausgezogen und ein Vater mittels Leiterwagen zu Grabe getragen, will sagen, gerollt: (...)." Überall lauerten "Abgründe", aber die auszuloten, würde hier den Abend nicht füllen. "Für um achtzig Jahre verspäteten Dadaismus zu wenig und für eine Lesung mit Musikbegleitung viel zu viel."

Helmut Schödel wiederum (in der Süddeutschen Zeitung vom 3.2.2009) versteht die Inszenierung als Einladung in eine "theatralische slowfood-Küche", weil es hier ganz offensichtlich nicht ums Ergebnis, sondern um das Herstellen gehe. Und das findet er ganz wunderbar, weil er "auf dieser herrlich langwierigen Baustelle" direkt "in den Kopf des Dichters Händl blicken" könne. Der Abend sei "ein Triumph gesteigerter Wahrnehmung" und für das Theater gewissermaßen eine Verpflichtung, wenn es "mehr als ein modischer Showtempel" sein wolle: "Dem Besucher wird nichts geschenkt. Oder eben Theater."

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