Die Tiger des Zorns

1. Juni 2024. Vor zwei Jahren war Theresia Enzensbergers Roman über eine Welt, in der sehr unterschiedliche Freiheits- und Gemeinschaftsbegriffe auf die Spitze getrieben werden, für den Deutschen Buchpreis nominiert. Jetzt hat ihn Theresa Thomasberger in Aachen erstmals für die Bühne adaptiert.

Von Martin Krumbholz

"Auf See" am Theater Aachen © Thomas Aurin

1. Juni 2024. Am Schluss, beim Applaus, stehen sage und schreibe zehn Frauen an der Rampe der Kammer des Theaters Aachen. Vier Spielerinnen, sechs Angehörige des Stabs. Und ein Mann. Herrlich! Gruppenbild mit männlicher Randfigur. Gäbe es überhaupt einen schöneren Anblick? Fast ist man in Versuchung, von einem feministischen Projekt zu sprechen.

Zeltlager im Tiergarten

Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn ist dieser Abend mit Theresia Enzensbergers Roman "Auf See" auch gelungen? Eignet sich das Buch überhaupt für die Bühne? Die sekundärverwertungsmäßige Eile, mit der die Dramaturgien jeden angesagten neuen Roman schnellstmöglich für ihre Bühnen adaptieren, ist bestimmt gut für die Verlage. Ob es auch gut fürs Theater ist, ist eine ganz andere Frage. Denn die inzwischen zahlreichen Erfahrungen, die man mit diesem Genre gemacht hat, also damit, dass Texte, die nicht fürs Theater geschrieben sind, mit größter und leider auch spürbarer Anstrengung, und doch auf Kosten ihrer Komplexität in anderthalbstündige performative Formate gepresst werden – die erzeugen Skepsis. Und oft, es gibt zum Glück Ausnahmen, ist die Skepsis berechtigt.

Kurz zum Inhalt des Romans, der vor zwei Jahren für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Es geht um eine künstliche Insel in der Ostsee, "Veneta", auf der ein findiger Millionär einen eigenen Staat errichtet hat. Angeblich alles vorbildlich nachhaltig und urdemokratisch, aber natürlich entpuppt sich das Gebilde bald als pure Dystopie. Die siebzehnjährige Tochter des Unternehmers ist die Ich-Erzählerin, sie hat seit zehn Jahren kein anderes Leben gesehen. Schließlich gelingt es ihr zu fliehen. In Deutschland findet sie ihre Mutter, eine Künstlerin, die ihrerseits eine (vermutlich ebenfalls dubiose) Sekte gegründet hat. Eine dritte zentrale Figur, eine ehemalige Parkwächterin, hat im Berliner Tiergarten ein alternatives Zeltlager installiert, dessen Überlebenschancen prekär sind.

Man bangt mit ihr

Thema sind also unterschiedliche Begriffe von Freiheit, von "Selbstverwirklichung", libertäre und "libertaristische" Existenzformen, vermeintliche Utopien, die in Dystopien umschlagen. Für all das gibt es reale Vorbilder. Was man nun für die Bühne am meisten befürchten muss, sind monologisierende Erzählungen der Protagonistin, um deren Coming-of-Age-Geschichte es schließlich auch geht. Man fürchtet, dass vier Spielerinnen und ein Spieler (der gibt alle, allerdings nebensächlichen Männerrollen) sozusagen ächzend eine große Stoffmasse heben – mit Hilfe der Regie. Naja, mehr oder weniger. Denn Theresa Thomasberger inszeniert genau das: Sie lässt ihr Ensemble den Roman brav, ausführlich, schulmäßig aufsagen.

Auf See 2 CThomasAurin uStefanie Rösner, Puah Kriener © Thomas Aurin

Und wirklich souverän wirkt das nicht. Denn die Texte liegen nicht gut im Mund, sie sind nicht auf Pointen hin geschrieben, warum auch. Die junge Hauptdarstellerin, Puah Kriener, kämpft spürbar mit ihrem Konvolut, sie macht es ordentlich, mehr nicht. Man bangt mit ihr. Einmal kommt es zu einer Liebesszene mit einer vermeintlichen Affäre des Vaters, die nicht die mindeste Erotik ausstrahlt. Man fragt sich nicht nur hier, was die Szene überhaupt erzählen soll. Die Bühne (Mirjam Schaal) besteht aus käferförmigen Möbeln, deren Metaphorik nicht bedient wird. Die Parkwächterin Agnes (Marion Bordat) sitzt auf einem dieser Käfermöbel und repetiert (umständlich, beinahe stockend) einiges Hintergrundwissen.

Geschafft!

Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung – das wusste schon der Dichter William Blake. Von Zorn findet sich in dieser Kammer-Inszenierung keine Spur, von Tigern ganz zu schweigen. Statt sie im Hintergrund brüllen zu hören, erlebt man vier Spielerinnen und einen Spieler, die einen Roman auswendig gelernt haben. Puh, geschafft. Die bei ihrem puren Anblick so sympathische Freude der zehn Frauen (und der einen männlichen Randfigur) an der Bühnenrampe relativiert sich so ein wenig. Sie haben den Stoff bewältigt. Aber nach dem künstlerischen Mehrwert muss man mit der Souffleurslampe suchen.

Auf See
von Theresia Enzensberger
Bühnenfassung von Theresa Thomasberger und Sara Gabor
Regie: Theresa Thomasberger, Bühne und Kostüme: Mirjam Schaal, Licht: Manuel Michels, Video: David Gerards, Musik: Malcolm Kemp, Dramaturgie: Sara Gabor.
Mit Puah Kriener, Stefanie Rösner, Thomas Hamm, Marlina Adeodata Mitterhofer, Marion Bordat (im Video Torsten Borm, Hermia Gerdes, Bettina Scheuritzel).
Uraufführung am 31. Mai 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

www.theateraachen.de

Kritikenrundschau

Eine "bewegende Uraufführung" hat Sabine Rother erlebt, wie sie in der Aachener Zeitung (3.6.2024) schreibt. Es sei zwar nicht leicht, die Strukturen des Text-intensiven Stücks im Blick zu behalten. "Wenn man alles mit etwas Abstand betrachtet, was das Regieteam in die Handlung hineinpackt, tritt hervor, was die Autorin meint. Sie warnt vor Unternehmen, die mit einer begrünten Insel verschleiern, wie sie ausbeuten und die Demokratie vernichten, wie eine Kapital orientierte neoliberale Marktwirtschaft auf den Abbau des Sozialstaates zielt."

Kommentare  
Auf See, Aachen: Fairness?
Die rhetorische Klammer, die diesen wuchtigen Verriss einrahmt, ist irritierend: man muss den Abend nicht gesehen haben, um zu merken, dass der Unmut darüber, dass mancherorts weibliche Teams als Wert an sich gefeiert werden, hier unfairerweise als Basis genommen wird, um mit einer konkreten Inszenierung hart ins Gericht zu gehen.
Ob der Rezensent mit seinen Einschätzungen zur Premiere richtig liegt, mögen Menschen beurteilen, die dabei waren. Allerdings sollte sich dieser Rundumschlag aus sich selbst heraus begründen und sich nicht aus einem Unmut über zeitgeistige Entwicklungen speisen - dieser ist als Debattenbeitrag im Rahmen einer Kolumne vielleicht legitim oder wertvoll. Hier scheint er mir leider fehl am Platz. Die Vibes beim Schlussapplaus sind nicht Brücke genug zu den Kritikpunkten der Rezension.
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