Krabat - Staatstheater Cottbus
Ein Sommermärchen
16. Juni 2024. Ein archaischer Stoff, viel erzählt und gedeutet: Die Geschichte vom Waisenjungen Krabat, der Lehrling in der finstern Mühle eines Zauberers wird. In Cottbus haben Schauspielchef Armin Petras und der Regisseur Wolfgang Michalek die sorbische Sage neu aufbereitet. Als Geschichte aus Liebe und Finsternis.
Von Sylvia Belka-Lorenz
16. Juni 2024. Welcher Mutter bist du Kind? Ein Lied aus den Kehlen sämtlicher Mitwirkenden. Schauspieler, Studenten, Laien, Chöre, Souffleur. Gut achtzig Menschen stehen singend auf und um den riesigen Mühlstein, der die Bühne ist. Über den Zuschauertraversen fliegen die Schwalben durch die Dämmerung. Die E-Gitarre zerrt und die Akteure blicken dem Publikum in die restlos verzückten Gesichter. Welcher Mutter bist du Kind?
Um genau diese Frage ging es hier immer wieder in dieser Spielzeit. Wer sind wir – und warum eigentlich? Was hat es auf sich mit diesen inzwischen so oft vergewaltigten Begriffen Identität und, igitt, Heimat? Das wäre sogar dann ein harter Brocken, wenn das aktuelle ostdeutsche Wahldebakel nicht erst eine Woche zurückläge. Aber als Thema für Sommertheater, das traditionell zu Leichtigkeit verdammt ist? Parallel zur Fußball-EM? Im Ernst?
Weibliche Urgewalt
Und dann ausgerechnet Krabat. Ein Stoff aus der Sagenwelt der Sorben, der slawischen Minderheit dieser Region, so cool und schillernd wie ein Topf Pellkartoffeln. Die Geschichte ist ungezählte Male erzählt und neu erzählt worden. Jetzt fügen Co-Schauspielchef Armin Petras und Regisseur Wolfgang Michalek ihre Fassung hinzu.
Am Anfang ist ein Bündelchen Mensch, in grobes Leinentuch gewickelt. Seine Mutter kann und will das Kind, das keins der Liebe ist, nicht behalten. So holt sich die Mittagsfrau das Knäblein, entreißt es zugleich der Mutter wie dem Tod. Die Mittagsfrau, eine der fiesesten Sagengestalten überhaupt, die den Wöchnerinnen die Kinder stiehlt und die Feldarbeiter in der Mittagsglut tötet.
Ob plötzlicher Kindstod, ob Herz-Kreislauf-Versagen: die unerklärlichen und vor allem lethalen Katastrophen wurden auch bei den Sorben gerne mit weiblicher Urgewalt assoziiert. Die Cottbuser Inszenierung ent-frauenfeindlicht das recht lässig, indem der Mittagsfrau (verführerisch, gemein und gütig: Ariadne Pabst) einige Dutzend Mittagspersonen (m/w/d) als Gefolge mitgegeben werden.
Das ist nur ein Beispiel für den beherzten Krabat-Zugriff des Teams Petras/Michalek und Franziska Benack (Dramaturgie). Eine Tour de Force durch die Sagenwelt der Sorben, konsequent abgeklopft auf das, was davon relevant ist im Hinblick auf die großen Fragen, siehe oben. Das ist an keiner Stelle politisch korrekt, dafür äußerst kurzweilig und sehr komisch – und mit Mut zum Paarreim ("Bei Erholung… Arschversohlung!").
Das Brandmal des Müllers
Ausstatter Francis O'Connor belässt alles Folkloristische auf dem Marktplatz für das Rahmenprogramm. Für die eigentliche Geschichte schuf er eine hölzerne Mühle nebst überdimensionalem Mühlstein, der das Getreide mahlt und manchmal Menschenknochen. Kein Firlefanz. Nur eine Geschichte, die Spieler, Musik. Das muss man sich trauen.
Die Mittagsfrau hat Krabat, inzwischen halbwüchsig, zur Schwarzen Mühle geführt. Das Wickeltuch von einst trägt er um den Hals – mehr von seinen Wurzeln kennt er nicht. Das eint ihn mit den anderen elf Gesellen des Müllers. Ein Trupp von Mutterlosen, verloren – aber durch Krabats Ankunft in der Mühle beseelt von einer ungeahnten Sehnsucht nach Freiheit.
Krabat wiederum mag sich keineswegs in Fron und Genügsamkeit üben. Krabat strebt nach Erkenntnis – und die führt nicht vorbei an der schwarzen Magie des Müllers. So wie der Akt der Befreiung nicht vorbei führt an Liebe. Es ist die Mittagsfrau, die Krabat von seinem Bann erlöst. Sie tilgt das Brandmal des Müllers von Krabats Arm (und weil Zauberkraft alleine nicht genügt, nimmt sie, wie jede gute Mutter, Taschentuch und Spucke zu Hilfe). Der vermeintliche Waisenjunge wird zum Helden, zum Befreier, schließlich zum Mythos.
Glänzendes Ensemble, leuchtender Protagonist
Liebe und Tod, Teufel, Erkenntnis, Schicksal. Es geht um alles. Und es endet in einem lustvollen, geradezu kathartischen Akt: Spieler und Zuschauer tanzen in die Nacht, feiern gemeinsam ein Befreiungsfest, bis das Ordnungsamt sie scheidet.
Stellvertretend für das glänzende Ensemble: Gunnar Golkowski, ein Müller wie ein alternder Showmaster: leicht ergrautes Brust- und Haupthaar, wehender Mantel, im ständigen Switch zwischen Verführer und Brutalo. Markus Paul als Altgeselle, Sigrun Fischer als Krabats Mutter. Torben Appel als Krabat, der auch dann zu bejubeln wäre, wenn man nicht wüsste, dass er erst vier Tage vor der Premiere eingesprungen ist.
Regisseur Wolfgang Michalek – ein Wiener auf Spurensuche in der Welt der Sorben. Ihm gelingt das Kunststück, aus dem finsteren Sagenstoff eine handfeste Geschichte für Menschen der Gegenwart zu extrahieren: existenziell und albern, abgründig und anachronistisch, komisch, kitschig und kathartisch. Er bringt alle zusammen, Ensemblemitglieder, Schauspielstudenten und siebzig Laien, Singakademie und Bürgersprechchor des Staatstheaters.
Welcher Mutter bist du Kind?, singen sie also in der einbrechenden Abenddämmerung. So kitschig, so schön, so wahrhaftig. Welcher Mutter bist du Kind und … wes Geistes?
Ob es mit dem großen Sommermärchen draußen was wird: wer weiß. Hier feiern sie eins.
Krabat. Eine sorbische Erzählung
In einer Fassung von Wolfgang Michalek und Armin Petras
Regie: Wolfgang Michalek, Ausstattung: Francis O'Connor, Dramaturgie: Franziska Benack, Musik: Max Braun, Jo Ambros
Mit: Torben Appel, Mathilda Maack, Ariadne Pabst, Gunnar Golkowski, Sigrun Fischer, Markus Paul, Studenten der HS für Schauspielkunst Ernst Busch, Singakademie Cottbus e.V., BürgerSprechChor des Staatstheaters Cottbus
Premiere am 15. Juni 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten ohne Pause
www.staatstheater-cottbus.de
Kritikenrundschau
"Ein fulminanter Saisonabschluss!", jubelt Ida Kretzschmar in der Lausitzer Rundschau (16.4.2024). Die Idee, in Cottbus den regionalen "Krabat"-Stoff aufzuführen, "ist sagenhaft und berührt Kopf und Herz der Lausitz wie kaum zuvor", so die Kritikerin. Dadurch, dass nicht nur das Ensemble den Text "mit großer Eindringlichkeit und Vielschichtigkeit" vermittele, sondern auch Studierende und Laien einbezogen würden, sei "der Volksmund … erfrischend mit im Spiel". Das Spiel von Sigrun Fischer als Krabats Mutter und Gunnar Golkowski als Schwarzem Müller umwehe "eine Urgewalt".
"Die Inszenierung wirkt unfertig, ist nicht aus einem Guss und nicht bis ins letzte Detail durchdacht", berichtet Frank Dietschreit im rbb (17.6.2024). "Was mit tollen Songs und tollkühnem Spiel schlüssig beginnt und die Macht des Bösen als Verlockung zeigt, der man kaum widerstehen kann, verliert zum Finale hin an theatralischer Überzeugung und wird zur bloßen Rhetorik."
Wolfgang Michalek und Armin Petras haben die Krabat-Fabel "geschickt und völlig kitschfrei verdichtet", berichtet Michael Laages für "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (18.6.2024) und erklärt sich, umfangen von Musik, Schauspiel und der Open-Air-Atmosphäre samt Vogelzwitschern, "wie berauscht von einem starken Abend im Theater".
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Liebe Kollegen, mir ist immer nicht klar, warum ausgerechnet immer Nicht-Sorben das Sorbische suchen sollen. Das Sorbische ist doch da, es ist erfahrbar in der Oberlausitz und in der Niederlausitz. Es gibt sogar ein sorbisches Theater, dass in beiden Sprache, das Nationalensemble in Bautzen plegt sorbischen Tanz und sorbische Musik ... Und "Krabat" ist toll, aber auch immer nur das beste Tortenstück. Schön, dass Cottbus mal etwas "Sorbisches" macht, aber warum nicht mal "Die wendische Schifffahrt" von Kito Lorenc ... Ach.
Es ist doch leider den Menschen vorbehalten.