Könnte Lara Croft die Ophelia spielen?

November 2001. Die Entwicklungsgeschichte des Theaters im "Theater im Netz" reicht bis in die 1990er Jahre zurück. Mit Pionierstudien wie Brenda Laurels "Computers as Theatres" wurden Konstruktionsprinzipien der Darstellenden Künste für den Bau von Computer-Interfaces und für die Kommunikationsmodelle der aufkommenden Netzkultur fruchtbar gemacht. Performance-Projekte wie "Hamlet X" von Herbert Fritsch experimentierten mit Interaktivität und digitaler Vernetztheit. Ein Überblick über die Frühformen von Theater im Netz.

Von Esther Slevogt

Könnte Lara Croft die Ophelia spielen?

von Esther Slevogt

November 2001. Das Theater ist groß, und in schlechtem Zustand. Wie man hineinkommt, ist nicht auf Anhieb zu erkennen. Auch die letzte Premieren-Ankündigung wirkt ziemlich veraltet. Der Aphra-Behn Theaterkomplex, von dem hier die Rede ist, gehört zum enormen Tagungsgeländes der Association for Theatre in Higher Education (ATHE), und hat schon bessere Tage gesehen. Die ATHE ist eine Art Dachverband, in dem etwa 2.000 US-amerikanische Theaterwissenschaftler, Hochschullehrer und darstellende Künstler organisiert sind.

Das Zentrum besteht aus einem weit verzweigten System von Tagungs- und Veranstaltungsräumen, Chill-out-Zonen mit Kritikerecke, Bars und besagtem Theaterkomplex, in dem seit seiner Gründung im Jahr 1995 ein paar bemerkenswerte Aufführungen stattgefunden haben. So gesehen ist nichts Ungewöhnliches am ATHEMOO, wie das Gelände offiziell heißt. Doch sämtliche Räume, inklusive Theatersaal, Proben- und Studiobühnen sind virtuell. Das heißt, sie sind nur über das Internet zu erreichen. Man darf sich hier aber jetzt keine enorme digitale Illusionsmaschinerie vorstellen. ATHEMOO ist kaum mehr als eine improvisierte Karte, auf der lediglich Lage und Name der einzelnen Räume aufgezeichnet sind. Trotzdem finden hier Versammlungen, Seminare und Theaterprojekte statt. Wer will, kann einfach zum Chatten vorbeikommen, in der Hoffnung, hier zwecks Fachgespräch auf Leute mit ähnlichen Interessen zu stoßen: Leute also, die sich für Theater im Internet interessieren.

Theater ohne Körper und Raum

Neulinge auf diesem Gebiet werden möglicherweise erst einmal Aufklärung darüber erwarten, wie bitte schön Theater ohne reale Räume, geschweige denn reale Körper überhaupt funktionieren soll. Die Spezialisten-Gemeinde von ATHEMOO wird dann vielleicht ein wenig mitleidig lächeln, und solche Fragen für ziemlich irrelevant halten. Sorge bereitet ihr allerhöchstens das Fehlen realer Zuschauer. Denn mag Theater inzwischen auch ohne Körper und Räume auskommen, Zuschauer sind unentbehrlich wie eh und je.

Möglich auch, dass der ein oder andere Chatter darauf hinweisen wird, so viel Fantasie sei eigentlich gar nicht nötig, um die Ähnlichkeiten zwischen Theater und Computer zu erkennen. Der Bildschirm – sieht er schließlich nicht er nicht genau wie eine Guckkastenbühne aus, die Tastatur wie ein stilisierter Zuschauerraum? Doch ist der Datenraum nicht unendlich viel tiefer (und wirklich weltbedeutend) als die paar Quadratmeter herkömmliche Bühne, samt jener lausigen Bretter, die dort bislang die Welt bedeutet haben? Und sind nicht die unzähligen Chat-Rooms, in denen jeder Teilnehmer hinter der Maske eines "nickname" operiert, zeitgenössische Formen des Stehgreiftheaters. "All the world's a Unix term... and all men and women merely irc addicts."

Scheherezades Hypertext

Wahrscheinlich aber werden Neulinge bei ATHEMOO zur Zeit gar nicht eingelassen. Denn seit die Theater- und Medienwissenschaftlerin Juli Burk, die das virtuelle Theaterzentrum 1995 gründete, die Universität Hawaii verlassen hat, verwahrlosen die virtuellen Räume auf dem Universitäts-Server. Die Seiten werden nicht erneuert und vorbeisurfende Gäste abgewiesen. Die letzte Theater-Premiere fand im Mai 2000 statt, als ATHEMOO sein fünfjähriges Jubiläum feierte. "Scheherezade's Daughters" hieß das Stück von Karen Wheatley, dessen Grundlage das Motiv der alten Rahmenerzählung der Geschichten aus 1001 Nacht ist: Scheherezade, die Erzählung an Erzählung reiht, um dem Todesurteil zu entgehen. Karen Wheatley machte daraus eine Variation über den Hypertext. Hypertext ist das System, aus dem das Internet gestrickt ist. Per Mausklick ermöglicht es den Zugriff auf die unterschiedlichsten, miteinander verknüpften Informationen. Hypertexte sind das Herz des Internet. In Karen Wheatleys Stück sind sie Scheherezades Töchtern nun zum Fluch geworden. Eingemauert sitzen die vier Frauen in den virtuellen Wänden des ATHEMOO, so will es der Plot. Sie reden und reden. Doch wahrscheinlich hört ihnen längst niemand mehr zu.

Dabei hatte einmal alles so viel versprechend angefangen. Am 12. Dezember 1994 wurden ein paar Dutzend Menschen vor ihren Computermonitoren Zeugen eines Ereignisses, das vielleicht noch Theatergeschichte machen wird: die Aufführung einer Parodie von Shakespeares "Hamlet" auf einem IRC-Kanal im Internet. IRC ist das Kürzel für "Internet Relay Chat", einer Urform des Chats. Verglichen mit dem MOO-System von ATHEMOO, ist der IRC-Chat ein technischer Dinosaurier, der vom User noch ziemlich viel Handarbeit und Know-how verlangt. Es gab 18 Darsteller, die restlichen Teilnehmer waren Zuschauer, die zwischen Silicon Valley, Europa und Israel vor ihren Computern saßen. Aufführungsort war ein speziell für dieses Ereignis eingerichteter Chat-Kanal mit der Bezeichnung #hamnet. Und Hamnet-Players nannte sich auch die Gruppe um den Schauspieler und Computerspezialisten Stuart Harris, der hier zum ersten Mal in der Geschichte das Internet als Bühne benutzte – jedenfalls wenn man der Jerusalemer Anthropologin Brenda Danet glaubt, der die Überlieferung dieses Ereignisses zu verdanken ist.

Denn mit "hamnet" ist es kaum anders, wie mit den meisten Theaterprojekten im Internet: sie existieren in der Regel als Gerücht. Selten hat jemand sie wirklich gesehen. Da wird zum Beispiel in einem Artikel über neue Erzählformen im Internet von einer Aufführung des Sommernachtstraums mit Avataren berichtet – Avatare, das sind Drei-Dimensionale Figuren, die für Videospiele entwickelt wurden. Doch wenn man den Autor des entsprechenden Artikels danach fragt, wo er diese Aufführung gesehen hat, stellt sich heraus, dass auch er nur davon gelesen hat. Woanders ist dann von der Inszenierung eines mittelalterlichen Stückes über einem Märtyrer die Rede, für die eine französische Gruppe mit dem schönen Namen "e-toiles" verantwortlich sein soll. Vorbeikommende Surfer hätten hier die Rolle des antiken Chores übernommen, heißt es. Aber auch hier verläuft die Suche nach Aufzeichnungen, die das Ereignis zumindest dokumentieren ergebnislos. Theaterkritiker verirren sich selten ins Internet.

Theatralischer Urknall im Netz

Beim Versuch, eine Hamnet-Aufführung zu beschreiben, versagen allerdings die klassischen Instrumente der Theaterkritik. Denn eigentlich gibt es nichts zu sehen – außer einer hyroglyphisch wirkenden Ansammlung von Zeichen, die ein Laie wahrscheinlich eher mit archetypischen Formen der Programmiersprache assoziieren wird, als mit einem Theatertext. Doch genau damit haben wir es zu tun, mit einem Theatertext aus Formeln und Formulierungen, die allerdings höchstens professionelle IRC-Chatter auf Anhieb verstehen und goutieren können. Bei der Entzifferung greift die derart überforderte Kritikerin deshalb dankbar auf die Magisterarbeit, zurück, die der Münchner Theaterwissenschaftler Andreas Horbelt über das Thema geschrieben hat.


**** : SCENE 1: THE BATTLEMENTS

**** : _Enter Hamlet

**** : _Enter Ghost

re, Ghost. Zup?

Yr uncle's fucking yr mum. I'm counting on u to /KICK the bastard.


So sieht nämlich bei Stuart Harris die berühmte Szene zwischen Hamlet und dem väterlichen Geist aus. In rüder Chat-Sprache berichtet eine Figur mit dem Chat-Namen Hamlet vom Verrat seiner Mutter und verlangt, Onkel Claudius aus dem Kanal zu werfen, was einer Aufforderung zum Töten gleichkommt. Ein anderes Beispiel, wie radikal Harris die Sprache des Chats mit der Shakespeare-Tragödie verknüpft, ist Hamlets Vorschlag, Ophelia solle in ein Kloster gehen:

Oph: suggest u /JOIN #nunnery

Ophelia soll also den Kanal "hamnet" verlassen und mit Hilfe des IRC-Befehls /JOIN in den Chat-Kanal #nunnery, (Kloster) wechseln. Auch das Ende der Tragödie ist in der Chat-Logik ebenso simpel wie überzeugend. Nachdem sämtliche Akteure der vorschriftsmäßige Tod ereilte, erscheint Fortinbras und ändert seinen 'nickname': ** Fort_bras is now knwn as _King. So werden in IRC-Chatroom Könige gekrönt. In einer anderen Shakespeare Parodie – "PCbeth. An IBM-Clone" –, nahmen die Hamnet-Players die Rivalität zwischen Macintosh und IBM kompatiblen Betriebssystemen auf die Schippe. Internet-Theatergeschichte spiegelt hier also auch ein Stück Technikgeschichte wieder.

Spielwiese für Akademiker

Seit aus dem Internet ein Massenmedium geworden ist, haben besonders die verschieden Formen der Chat-Rooms die Theatermacher beschäftigt. Allerdings erreichten ihre Produktionen selten den Witz und die Kreativität der Harris-Stücke. Denn im Wesentlichen waren Amerikas Internet-Inszenatoren gleichzeitig Hochschullehrer, die in den neuen Kommunikationsmöglichkeiten des Internets intellektuelle Spielwiesen sahen, auf denen Theoretisches gleich praktisch zur Anwendung gelangen konnte. Steven A. Schum, dessen Chat-Performance "NetSeduction" 1996 im ATHEMOO für Aufsehen sorgte, ist im Hauptberuf Assistant Professor für Kommunikation und Drama an der Universität Charleston in West Virginia. In "Netseduction" experimentierte Schum mit Formen von Verbalerotik, die sich in den entsprechend orientierten Chats herausgebildet haben. Adrienne Jenik, die 1997 zusammen mit Lisa Brenneis die "Desktop-Players" als virtuelles Straßentheater gründete, ist Professorin für Computer & Mediakunst an der University of California in San Diego.

Stuart Harris dagegen kommt aus der Praxis. Der gebürtige Engländer begann in den 60er Jahren während seines Elektrotechnikstudiums auf Studentenbühnen Theater zu spielen. Für einen semiprofessionellen Schauspieler hat er auf dem Theater eine beachtliche Karriere gemacht, bevor er 1980 in die USA ging, um im Einzugsbereich von Silicon Valley seine eigene Computerfirma zu gründen. Als Schauspieler brachte er es damals immerhin bis ans Londoner Royal Court Theatre, wo er zusammen mit Schauspielern wie Albert Finney oder Lynn Redgrave auf der Bühne stand – unter anderem in einer ganz und gar physischen Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum".

Viele Internet-Träume haben sich längst in Luft aufgelöst. Darunter waren nicht nur die ökonomischen Träume der New-Economy Anleger, die ihr Geld in Real Time an der NASDAQ verschwinden sahen. Auch bei den Künstlern stellte sich Ernüchterung ein. Am Anfang hatte das Internet den Aufbruch in neue dramatische und theatralische Sphären versprochen. Doch zwischen den Millionen Sex- und E-Commerce Seiten gingen die ambitionierten Projekte einfach unter. Kein Büroangestellter ließ sich aus Flirt-Chats oder von der Moorhuhnjagd mal ins virtuelle Theater locken, um dort vielleicht an einer Text-Séance der Plaintext-Players teilzunehmen, die Antoinette LaFrage und der Tänzer Robert Allen 1994 gründeten (Robert Allen gehörte übrigens bis vor einigen Jahren zum Ensemble von Reinhild Hoffmann). Selbst technologiebegeisterte Internet-User zeigten den Aktivitäten einer Künstleravantgarde ähnlich brüsk die kalte Schulter, wie es die Masse der Leute im wirklichen Leben tut. Die Kreativität der Generation@ arbeitet sich wahrscheinlich eher an der Erforschung neuer Programme ab als an elitären Performances. Vielleicht auch, weil sie nie erfahren hat, dass es so etwas wie Internet-Theater überhaupt gibt.

Heute keine Vorstellung – wegen technischer Probleme

In Deutschland hat die Münchner Theaterwissenschaftlerin und Mediengestalterin Gisela Müller 1999 die //theatermaschine in Netz gestellt, als Informations- und Aktionsplattform für Theaterleute, die Interesse am Einsatz Neuer Medien bei der Theaterarbeit haben. Doch auch hier, wo eben noch der gute alte Bert Brecht mit seiner Radiotheorie als Vordenker für die theatralische Nutzung des Internet gefeiert wurde, ist inzwischen Ernüchterung eingekehrt: "Zu aller Kunst, die es im Internet nicht geben kann, gesellt sich nun auch das Theater." schrieb Gisela Müller diesen Sommer in einem Beitrag für das online-Feuilleton "Berliner Gazette".

Ein Grund, warum sich bis heute für Theater im Internet kaum ein Publikum fand, mag darin bestehen, dass selbst der willigste Zuschauer oft mit immensen technischen Problemen zu kämpfen hat, bevor er sich die virtuellen Dramen überhaupt ansehen kann. Erst der Ärger, bis die ganzen benötigten Programme und Plug-Ins heruntergeladen und installiert sind, die dann oft noch nicht mal funktionieren. Wenn dann der Computer zum x-ten Mal abgestürzt ist, hat man an der Kunst im Netz erst einmal gründlich die Lust verloren, schaltet den Rechner aus und geht lieber ins richtige Theater. Dort ist wenigstens der störungsfreie Verlauf der Vorstellung einigermaßen garantiert. Jedenfalls verlangt hier keiner, geduldig im Zuschauerraum auszuharren, obwohl die Bühne längst eingestürzt ist.

Mancher Dotcom Tod bedeutete auch den Untergang einer virtuellen Spielstätte. Im Fall des Bankrotts des Software-Firma "Communities.com", hatten die "Desktop-Players" das Nachsehen. Ihre Spezialität war es, unangekündigt in einem "Palace"-Chat-Room aufzutauchen, und die unvorbereiteten Chatter mit einem Theatertext zu konfrontieren, in den sich die Chatter dann "einmischen" konnten. Das von "Communities.com" unterhaltene zweidimensionale Chat-System "The Palace" beherbergte hunderte von cartoonesken Chat-Rooms, deren Bewohner sich entweder mit Hilfe eines vom System vorgefertigten Avatars oder einer Eigenkreation den Chat als eine Art Trickfilm gestalten konnten.

Was die einzelnen Teilnehmer zu sagen hatten, erschien dann als Sprechblase über der entsprechenden Figur. In diesem Environment ließen die Desktop-Players eines Tages Vladimir und Estragon auf die Chatter los. Verborgen allerdings hinter den 'nicknames' Didi und Gogo, dadaistischen Anagrammen aus den Silben Go und Dot. Die anwesende Gemeinde aus Kartoon-Chattern reagierte ausgesprochen wohlwollend auf die beiden traurigen Gestalten, die aussahen wie zwei grüne M&M Schokoladen mit Becket-Bowler. Irgendwann allerdings konnte ein chatter namens das unglückliche Warten auf Godot nicht mehr ertragen und beschloß, selber Godot zu sein. Was Samuel Beckett zu dieser unerwarteten Wendung gesagt hätte, ist ungewiß.

Was geht und was nicht

Jetzt ist Communities.com pleite, und die Desktop-Players sind heimatlos. Die Palace-Community verschwand in den Untergrund, zugänglich nur noch für Leute, die auf ihrer Festplatte die alte Software geladen haben. Als öffentlicher Raum ist The Palace für das Online-Straßen-Theater uninteressant geworden. Andere 2D-Chatrooms zeigten sich viel weniger kunstfreundlich und tolerant als die Palace-Gemeinde. In den meisten Chat-Rooms herrschen nämlich strikte Regeln darüber, was geht und was nicht. Wer sich nicht daran hält, den wirft ein automatisches Programm aus dem Chat.

"Das Internet als Medium ist ebenso unsexy wie der Mittelstand, der es gestaltet", schrieb eine Künstlergruppe um den Schweizer Regisseur Samuel Schwarz in der Beschreibung eines Projekts, mit dem sie sich um den ersten deutschen Internet-Theaterpreis bewarb, "an die Tiefen des Cyberspace glauben nur noch diejenigen redseligen Intellektuellen, die bloß von ihnen gehört haben, noch nie aber beim Warten auf verschwommene Pornobildchen in die Untiefen ihrer Einsamkeit abgesumpft sind."

Den Internet-Theaterpreis "Webscene" hat im vergangen Jahr das Münchener Theaterfestival Spielart in Kooperation mit dem Ars Electronica Center Linz ausgeschrieben und sich davon eine Antwort auf die Frage erhofft, ob der Begriff  "Theater" in den spezifischen Möglichkeiten des Internet neu gedacht werden muß.

Mit gehöriger Verspätung haben inzwischen auch die deutschen Theater das Internet entdeckt. Theater-Web-Seiten als Fortsetzung des Programmleporellos mit digitalen Mitteln sind inzwischen beinahe Standard. Manche Häuser verkünden bereits mutig virtuelle Spielstätten im Internet, die dann aber doch ziemlich unbespielt bleiben. Und während sich die amerikanische Szene ihre Wunden leckt, beginnt in den Leitungsetagen der deutschen Stadttheater mancher Dramaturg vielleicht schon verwegen davon zu träumen, wie wunderbar sich das Leben als Dramaturg eines virtuellen Theater gestalten könnte. Theorie pur, kein Ärger mit dem schwerfälligen Theaterapparat, kein Bangen um Subventionen. Und vor allem: kein Stress mehr mit den Schauspielern, die man in Zukunft doch einfach digital klonen kann.

Auf der Suche nach den vermissten Körpern

Den Webscene Theaterpreis gewonnen haben übrigens Anette Schäfer, Miles Chalcraft und die Performance-Gruppe Gob Squad mit einem Projekt, in dem es auch um die Suche nach vermissten Körpern geht. In diesem Sommer ist Gob Squad mit der Rollenden Road-Show der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz durch die Berliner Bezirke getourt: mit einer wunderbar sinnlichen Performance über die Unsinnlichkeit medial vermittelter Bilder. Junge Männer, mit nichts als einer Bäckerschürze und -mütze bekleidet, pixelten live die Porträts mehr oder weniger berühmter Menschen und Tiere – aus Toastbroten, die vorher in sechs verschiedenen Brauntönen live getoastet worden waren.

An der Berliner Volksbühne arbeitet auch der Schauspieler Herbert Fritsch, womit wir beim jüngsten Versuch angelangt wären, Theater für das Internet neu zu erfinden. Alles fing damit an, dass Herbert Fritsch seinen Beruf nicht mehr mochte und vor dem Computer verschwand. Lange Zeit bestand eine nicht unerhebliche Gefahr, dass Fritsch ganz und gar in seinem Computer verschwinden würde. "Wie bringe ich meinen Körper in die Maschine?" war eine der Grundfragen, die ihn trieben, die verschiedenen technischen Möglichkeiten zu erforschen, mit der die Computertechnologie ein solches Vorhaben eventuell realisierbar machen könnte.

Im Verlauf der Bemühungen, dieses Problem final zu lösen, ist er fast nebenbei zum Spezialisten für dieses Medium geworden. Erfolgreich begann er, als Webdesigner zu arbeiten. Er gestaltete die Internet-Seiten für Leander Haußmanns Film "Sonnenallee" und hat Vorlesungen zum Thema "Der Computer als Maske" gehalten. Nebenbei entstanden ein paar kleine dadaistische Internetkünststücke. Und die Idee, Shakespeares Hamlet im Internet zu inszenieren.

Herbert Fritschs Hamlet-Universum

Zunächst sah es so aus, als würde das eine zwar großartige aber nicht realisierbare Idee bleiben. Seit Sommer aber stehen nun die ersten Teile von Herbert Fritschs Hamlet-Universum im Netz. Mindestens zwei Jahre soll es noch dauern, bis alles fertig ist. Die deutsche Schauspieler-Crème hat Herbert Fritsch gewinnen können, in den unzähligen Filmschnipseln mitzuwirken, in die er den Hamlet-Text zersplittert hat. Auch Hamlets Chauffeur, den Palastkoch oder den Portier von Schloß Helsingör läßt Fritsch zu Wort kommen – frei nach, manchmal aber auch vollkommen frei von Shakespeare. Von den Filmen gibt es Links zu Animationen, oder kleinen Computerspielen ("Tötet Laertes!") oder Trickfilmen, wo man dann beispielsweise verfolgen kann, was aus Hamlet im Fall eines Happy Ends geworden wäre.

Trotzdem ist Hamlet_X bisher aus dem Stadium des genialen Plans noch nicht wirklich herausgekommen. Technische Probleme machen das Surfen und Navigieren in Fritsch wunderbarem Hamlet-Labyrinth zu einem ziemlich schweißtreibenden Unternehmen. Die Filme laufen steichholzschachtelgroß und zäh über den Monitor, so dass sich ihre oft herausragende Qualität nur erahnen läßt. Und zu den Links kommt man auch nur, wenn vorher nicht der Computer abgestürzt ist. Etwas zäh fließt der dramatische Datenstrom auch deshalb, weil man zwischendurch immer wieder ellenlange Besetzungslisten lesen muß.

Theater als Interface

In ihrem Buch "Computers as Theatre" hat die amerikanische Theaterwissenschaftlerin und Software-Entwicklerin Brenda Laurel schon vor zehn Jahren die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Computer und Theater beschrieben und versucht, daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, mit denen sich das Design von Hard- und Software optimieren läßt. Besonders beeindruckt war sie von der Unsichtbarkeit des Theaters als Interface. Interface ist ein Wort, mit man heutzutage alle möglichen Geräte und Mittel zu beschreibt, die zwischen Inhalten und ihren Empfängern stehen können oder den Zugang zu diesen Inhalten manchmal überhaupt erst ermöglichen. Das klassische Interface ist der Computer. Aber auch ein Theater kann Brenda Laurels Logik zufolge ein Interface sein. Ein ziemlich effektives sogar, denn als Interface nimmt man es überhaupt nicht wahr. Von dieser Unsichtbarkeit ist der Computer noch weit entfernt. Und auch Hamlet_X ist bis jetzt am schönsten, wenn Herbert Fritsch live davon spricht.

 

zuerst erschienen in Theater heute 12/2001

 

Literatur:
Danet, Brenda "Cyberplay: Communication online", Oxford 2001
Laurel, Brenda "Computers as Theatre", Addison-Wesley, 1991
Leeker, Martina (Hg.) "Maschinen, Medien Performances. Theater als Schnittstellle zu digitalen Welten", Berlin 2001

 

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