Sternstunden der Menschheit - Salzburger Festspiele
Wir Trümmerstapler
28. Juli 2024. Was bedeutet der einzelne Mensch im großen Verlauf der Geschichte? Darauf gibt Stefan Zweigs Buch eine bemerkenswerte Antwort. Thom Luz verschneidet es mit Aufzeichnungen und Briefen aus den letzten Jahren des Autors zu einer Textcollage, auf die die Performerinnen stellenweise mit ungewöhnlichen Abwehrstrategien reagieren.
Von Gabi Hift
28. Juli 2024. "Wo ist mein Platz?", fragt eine Dame laut, es klingelt schon zum dritten Mal "So fragen Sie doch den Platzanweiser!" Sie scheint nicht zu verstehen, wiederholt nur verwirrt: "Wo ist mein Platz?" Verärgerte Stimme: "So blöd kann doch keiner sein!" – und begreift im selben Moment: Das gehört schon zum Stück. Stefan Zweig, meistgelesener deutschsprachiger Autor, Jude, der rechtzeitig vor den Faschisten fliehen konnte, aber im Exil niemals seinen Platz finden konnte und sich schließlich im Februar 1942 in Brasilien das Leben genommen hat.
Heldin sein
Thom Luz hat Briefe und Aufzeichnungen aus Zweigs letzten Jahren mit Ausschnitten aus "Sternstunden der Menschheit" zu einer Textcollage verwoben. Diese historischen Miniaturen waren beim Publikum überaus beliebt. Zweig schilderte darin geschichtliche Momente gänzlich als Ergebnis der Handlung einzelner Menschen und gab damit den Leserinnen das Gefühl, Geschichte zu verstehen und vielleicht auch selbst Heldin sein zu können. Gleichzeitig glaubte er aber auch an ein Schicksal, an Fortschritt, als Humanist und Pazifist war er überzeugt, dass der Traum von der Einheit der Menschheit und vom Ende aller Kriege und aller Gewaltherrschaft so lange wiederkehren würde, bis er sich verwirklicht. Dass jener Zweig, der Hunderttausenden ein Gefühl von Sinn und Zuversicht in Bezug auf die Geschichte vermittelt hat, im Hintergrund immer verzweifelter wurde, bis er sich letztlich umbrachte, ist eine furchtbar tragische Geschichte.
Duri Bischof, langjähriger Bühnenbildner von Christoph Marthaler, hat für die Trümmer der Geschichte einen Lagerraum gebaut, in dem sich auf riesigen Industrieregalen Gipsnachbildungen von Statuen und historischen Artefakten stapeln: Kanonen, Pferde, die riesige Rolle des atlantischen Tiefseekabels, Eisschollen, Wagenräder, Köpfe. Aus allen Objekten kommen Stimmen, mit denen sie ihre Geschichte erzählen, sofern man den Mechanismus findet, der sie zum Sprechen bringt.
In diesen Raum kommen nun sechs Menschen (die, die vorher ihren Platz nicht finden konnten) und versuchen, aus dem Gerümpel etwas Neues zusammenzubauen. Sie türmen Quader auf, die natürlich wieder einstürzen, versuchen vergeblich ein Rad zum Kreiseln zu bringen, stellen sich selbst versuchsweise auf Podeste. Aber wo in früheren Stücken von Luz eine Art zärtliche Gemeinschaft der Scheiternden entstand, herrscht hier ständige Gereiztheit. Schon ihre Kleidung macht klar, dass sie nichts gemeinsam haben, Jeans, ein spießiges Rüschenkleid, ein Versace-Pyjama, neonfarbene Sportklamotten – wie soll das zusammen gehen? Die Figuren haben kaum Eigenleben, keine liebenswerten Schrullen, vor allem haben sie keinerlei eigenen Antrieb, ganz offensichtlich versuchen sie nur deshalb lustlos aus den Trümmern etwas Neues zu bauen, weil ihnen ein Regisseur den Auftrag dazu erteilt hat.
Lästige Schriften, brutale Schuhplattler
Zwischen den Bauarbeiten fliegen ihnen Papierkugeln um die Ohren, wer eine fängt, liest den zusammengeknüllten Brief vor. Immer, wenn darin eine Mahnung vorkommt, wollen sie sie nicht hören. Schreibt Zweig: "Inzwischen wird es Ihnen klar sein, dass wir großen Katastrophen zutreiben", wird dem Vorleser ein Gipshaus übergestülpt, und man trommelt ihm einen brutalen Schuhplattler aufs Dach. Erscheint die Schrift an der Wand: "Wir als Menschen haben kein Recht, in diesen Tagen glücklich zu sein. Wir dürfen nicht glauben, dass wir die wenigen Gerechten sind. Wir sind nicht besser und mehr wert als all die anderen, die drüben gejagt und vertrieben werden", bewirft die Truppe die lästige Schrift mit Gipsbrocken.
Selbst die Musik, bei Luz sonst immer einigende Kraft, bringt hier die Menschen nicht zusammen. Zwar gibt es eine famose vierköpfige Band, die brasilianische Musik spielt wie Zweig sie in den letzten Jahren seines Exils in den Straßen gehört haben wird: Chôro, bei der sich Walzer, Polka und populäre Schlager mit afrikanischen Rhythmen mischt. Aber die lustlosen Trümmerstapler ignorieren sie entweder, oder sie singen mit nicht dazu passenden europäischen Liedern dagegen an, bis nur eine Kakophonie bleibt.
Erst im letzten Teil wendet sich das Blatt. Isabell Antonia Höckel, nun im roten Samtkleid, singt ein sehnsüchtiges Lied und spricht in wunderbar weichem Portugiesisch Stellen aus Interviews mit Menschen, denen Zweig in seinem letzten Jahr begegnet ist. "Nostalgie ist ein Gift, mein Sohn, hat er mir gesagt", erzählt sein ehemaliger Gärtner, "ich muss es wissen, ich habe sie erfunden und ich werde bald sterben."
Das Gift der Nostalgie
Eine umgekippte Säule wird zum Totenbett, auf dem abwechselnd Zweig und Lotte liegen und dann wieder Cicero, der Held der letzten Sternstunde, der vergeblich versucht hat, eine Diktatur zu verhindern. Über Cicero schreibt Zweig: "Verschlossen ist das Auge, das durch sechzig Jahre über die Republik gewacht. Keine Anklage hat je so beredt gegen das ewige Unrecht der Gewalt zu seinem Volke gesprochen als nun Ciceros blutlose Lippen."
Wie Zweig seinen eigenen Tod – im Spiegel Ciceros – zuletzt noch als Sternstunde imaginiert hat, berührt. Wieso aber Thom Luz, sonst ein Meister der schwebenden Wehmut, bis kurz vor diesem schönen Ende diesmal eine derart kalte und trostlose Welt präsentiert, bleibt ein Rätsel. Hat er Zweigs Warnung vor dem Gift der Nostalgie zu ernst genommen? Er nennt sie aber auch "die Sehnsucht nach etwas, das es vielleicht nie gegeben hat" – und damit hätte das Gift Nostalgie einen utopischen Kern, der diesem Abend leider fehlt.
Sternstunden der Menschheit
nach Stefan Zweig in einer Fassung von Thom Luz
Regie und Sound-Design: Thom Luz, Komposition und Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Licht: Gerrit Jurda, Video: Jonas Alsleben, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Tina Bleuler, Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Vincent Glander, Evelyne Gugolz, Isabell Antonia Höckel, Steffen Höld, Nicola Mastroberardino, Barbara Melzl, Johannes Nussbaum (Sprecher) und den Musiker:innen Marion Dimbath, Ludwig Maximilian Himpsl, Henrique de Miranda Rebouças, Marcio Schuster.
Eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Residenztheater München
Premiere am 27. Juli 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.salzburgerfestspiele.at
Kritikenrundschau
Die "Sprachvirtuosität", die Stefan Zweig auszeichne, komme in der fast durchgängig "mit künstlichen, technisch eingespielten Stimmen" spielenden Inzenierung "leider ein bisschen zu kurz", bedauert Michael Laages in der Sendung Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (27.7.2024). Gleichwohl sei der Abend "technisch sehr eindrucksvoll und gelungen".
Von einer "Inszenierung, die über weite Strecken gar nicht stimmig ist, dafür oft langweilig in ihrer bemühten Dekonstruktion der Zweig‘schen Geschichtskonstruktionen", berichtet Thomas Kramar in der Presse (28.7.2024). Am besten wirke die "effektreiche, doch zerfahrene Revue" dann, "wenn sie kurz zu blödeln aufhört und einfach auf die Kraft der Texte Zweigs setzt".
Als "vor allem gelehrsam klapperndes Diätangebot" beschreibt Ronald Pohl Thom Luz‘ Festspiel-Abend im Standard (28.7.2024). Der Regisseur lasse sich im Programmbuch "als Versender ‚musikalischer Luftpost‘ feiern", erklärt der Kritiker und wendet ein: "Seinen hübsch nachlässig arrangierten Stefan-Zweig-Abend kann man den Sternstunden der Menschheit nicht unbedingt als eine weitere hinzufügen." Der Abend finde "für die Luftpost kein Personal: keine Briefsteller, kaum Adressaten."
"Es funzelt und flackert, es knistert und knarzt auf der Bühne, während Radiostimmen das Publikum auf eine Schnitzeljagd durch die Weltgeschichte eskortieren," schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel.de (28.7.2024), für den "vieles an diesem in Koproduktion mit dem Münchner Staatsschauspiel entstandenen Theaterabend, leider entschieden im Ungefähren" bleibt. Thom Luz präsentiere "einen 90 Minuten langen Spuk im Museum, zu dem eine Art Beerdigungskapelle über die Bühne flaniert und hübsche brasilianisch inspirierte Musik von Mathias Weibel spielt. Von den historischen Figuren, die Zweig zum Leben erweckt, erfährt man hier so gut wie nichts, die Inszenierung funktioniert wie eine Assoziations-Jukebox."
Die für eine Bühnenfassung "nicht prädestinierte Sammlung von Erzählungen" diene dem Regisseur Thom Luz "nur als Asservatenkammer, zur Ausschlachtung von Textfragmenten", so Hannes Hintermeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.7.2024). Luz begnüge sich mit dem Spielfilmformat von knapp hundert Minuten, um den Kosmos Zweigs zu umreißen. An Parallelen zu unserer Zeit, zum Krieg in Europa fehle es nicht. Aber "gerade in der ersten Hälfte geben die nervöse Requisitenschieberei, das Spiel mit Styroporklötzen, das Drehen des Schicksalsrades, der Turmbau zu Babel Rätsel auf". Mit den finalen Szenen gelingen der Inszenierung beklemmende Bilder. Die Wechsel zwischen Stille und Furioso beherrsche der Abend.
"Wie erwartet inszeniert Thom Luz die einzelnen Miniaturen nicht brav aus, sondern lässt die Spieler im Archiv der Ereignisse herumwühlen", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (29.7.2024). "Das geht diesmal nicht so gut auf wie sonst." Zu vage sei alles anerzählt. Die Inszenierung wirke selbst für den freefloating, den frei assoziierenden Luz zu wenig fokussiert. "Das Problem mag die große Stoffmenge sein oder die Tatsache, dass er sehr bemüht ist, die Texte mit der Biografie von Stefan Zweig zu verschränken." Und auch, dass sich Luz dem doch sehr männlichen Pathos und der Sehnsucht nach starken Männern in Zweigs Texten nicht so ganz anschließen mag und keine Sternstundenfeier begeht, "ist sympathisch, führt aber zu nichts".
Keine Sternstunde des Theater, so auch Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (29.7.2024). Zweigs erzählerische Momentaufnahmen und literarische Essays zu etlichen von ihm eingeschätzten Konstellationen in der Weltgeschichte tauchen hier nur mehr in Bruchstücken auf. "Das hat Methode, das ist riskant, das funktioniert nicht. Da wo es funktioniert, man immerhin verstehen kann, wovon die Rede ist, entfaltet es keine oder kaum Wirkung."
"Vielleicht ist Luz ein bisschen textlastig, zu sehr bemüht, möglichst viel von Stefan Zweig zu erzählen. Da wäre er mit mehr Freiheit noch schwebender geworden. Aber er findet starke Bilder, für diese Melancholie, und diese Bitternis, und was einen halt mitnimmt, ist, dass der Abend sich der Verzweiflung an der Welt aussetzt", so Andreas Klaeui vom SRF (30.7.2024).
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Der Abend ist packend, wenn man nicht den Fehler macht, naiv eine Dramatisierung der „Sternstunden“ zu erwarten.