Selbstverständlich schweinisch

von Matthias Schmidt

Leipzig, 15. Februar 2009. "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" heißt der Science-Fiction-Roman von Philip K. Dick, der Ridley Scott als Grundlage für seinen Film "Blade Runner" diente. In der Leipziger Skala wird die Geschichte von den sich gegen ihre Schöpfer wendenden Replikanten und ihren Jägern, den Blade Runnern, unter dem Titel "Maschinenwinter" mitinszeniert. Diemar Daths Streitschrift mit einer Portion Handlung aufzufüllen, ist durchaus sinnvoll; deren Quelle ungenannt zu lassen, gilt außerhalb der Skala als unüblich, wenn nicht gar als unrecht. Jüngst war es umgekehrt, da stand auf einem Abend Cormac McCarthy ("Straße") drauf und war dann gar nicht drin. Sei's drum, eine Inszenierung ist vorzustellen, die ohne den "Blade Runner"-Stoff kaum lebensfähig wäre, die mit ihm aber zum Ereignis wird.

Dietmar Daths Essay "Maschinenwinter" ist ein schier unerschöpfliches Thesenpapier, dem viele den Status eines neuen "Kapitals" einräumen und andere provokanten Intellektualismus unterstellen. Ein Pamphlet über die Un-Moral des profitorientierten und menschenfeindlichen Imperialismus. Die Maschinen, geschaffen von Menschen, um Menschen zu helfen, sorgen nun dafür, dass Menschen durch Maschinen ersetzt und damit überflüssig werden. Unsere Gesellschaft, so Dath, sei "selbstverständlich widerlich, schweinisch und obszön", vor allem sei sie "nicht vernünftig" und "kann deshalb nicht funktionieren".

Wie bei Dath, nur schlimmer
Mehr als 130 Seiten lang jagen sich Indizien und Argumente von verblüffender Logik und erschreckender Konsequenz. Als ostdeutsch sozialisierter Bürger empfindet man die Lektüre streckenweise als Déjà-vu eines Seminars in marxistischer Philosophie. Als Begleitbuch zu den täglichen Nachrichten aus Wirtschaft und Politik sowieso. Für die Bühne mag man sich das Werk lieber nicht vorstellen.

"Blade Runner" dagegen ist Science Fiction, wenn auch nicht mehr so weit weg wie 1982, dem Jahr der Verfilmung. Die Replikanten, perfekte Androiden, machen sich selbstständig und wenden sich gegen die Menschen, die sie einst erdachten. Es ist wie bei Dath, nur schlimmer. Die Jagd auf diese "feindlichen Helfer" behandelt Regisseur Martin Laberenz wohltuend ironisch. Die Idee aber webt er wie eine Fortsetzung von Daths Thesen in seine Inszenierung ein. Und siehe: beides passt, ja gehört zusammen.

In der Skala, vormals als Neue Szene bekannt, ist es Programm, sich im Stadttheater selten gegangener Wege zu bedienen. Man spielt gerne laut und neigt zu einem hyperaktiven Stil. Das Publikum ist jung, theater- (und theaterwissenschafts-)affin und dankbar für fast jeden Kick. Es lacht viel, auch an Stellen, die uns Älteren (Jahrgang 1965, ich kann nichts dafür) seltsam vorkommen, und mancher Abend ist nicht mehr als eine Schauspielwerkstatt. Ein Ort des Ausprobierens, Austobens und aktuellen Reagierens auf das Leben.

Flugzeug aus Thesenpapier
Der Abend beginnt als Performance: Daths Textblätter werden auf der Bühne ausgelegt, während vom Band immer wieder eine Passage daraus gelesen wird, fast 15 Minuten lang. Einen solch eindringlichen Moment, in dem sich Ernsthaftigkeit, kontrolliertes Spiel und, ja, Komik die Waage halten, hat es hier lange nicht gegeben. Das Wesen der menschlichen Natur und Gesellschaft wird doziert, Arbeitsteilung und Überproduktion finden Erwähnung, während die Schauspieler Blatt für Blatt ablegen, erst akribisch, später zunehmend herumalbernd. Auf Monitoren führt gleichzeitig eine Laufschrift in die Handlung des "Blade Runner" ein. Das letzte Blatt wird als Papierflugzeug ins fast perfekte Bild geworfen, und schließlich wird das Ganze wieder durcheinandergewirbelt zu der Unordnung, aus der heraus man es – vielleicht - begreifen kann.

Der ganze Abend bewegt sich zwischen lebhaftem Vortrag der Texte aus "Maschinenwinter" und humorigen Brüchen. Eine sehr lange Slapstick-Nummer, in der sich ein Mann in einem Korbsessel verfitzt, sorgt für Szenenapplaus, nachdem Momente vorher noch Marktwirtschaft und Weltordnung in Frage gestellt wurden. Und dem parodistisch vorgetragenen Schlager "Du trägst keine Liebe in dir" von Echt folgt die ernüchternde Botschaft: "Das Klagen über die Ausbeutung ist Teil der Ausbeutung."

Man muss etwas tun  – aber was?
Das Wechselbad gelingt. Selbst dass fast allen Schauspielern irgendwann einmal ihr Text entfällt, lässt sich mühelos in das Konzept hineininterpretieren, so kompliziert, wie die Dinge bei Dath nun mal sind. Und als die Spieler das Haus zwischenzeitlich von einer Kamera begleitet verlassen, um auf der Straße weiterzuspielen, bleibt offen, ob sie dort das System stürzen wollen oder einfach nur Replikanten jagen.

"Da muss man doch was tun!", ruft eine Figur dann immer wieder. Aber was? Dass das im Augenblick keiner so genau weiß, kann man der Inszenierung nun wirklich nicht vorhalten. Sie holt aus den Texten heraus, was für die Bühne herausholbar ist. Und mit den letzten Worten – "Ich hab's!" – behauptet sie eine Antwort, die sich auf dem Nachhauseweg jeder selbst suchen kann. Es wird nicht wenige geben, die merken, dass das Träumen von elektrischen Schafen häufiger vorkommt, als es für uns Menschen angemessen wäre.

 

Maschinenwinter
nach Dietmar Dath
Regie: Martin Laberenz, konzeptionelle Mitarbeit: Christoph Wirth. Bühne und Kostüm: Maike Storf. Video: Daniel Hengst.
Mit: Manolo Bertling, Anna Blomeier, Sebastian Grünewald, Sarah Sandeh, Holger Stockhaus.

www.centraltheater.de

Mehr zu Dietmar Dath im entsprechenden Glossareintrag.

 

Kritikenrundschau

Irene Bazinger (17.2.2009) hat in der Skala eine "vergnügliche Versuchsanordnung" gesehen, die auf "spielerisch leichte Weise" Thesen aus Dietmar Daths gleichnamiger "Streitschrift über den Zusammenhang von Wissen, Technik und Sozialismus" mit Ridley Scotts Science-Fiction-Film "Blade Runner" von 1982 verbindet. Martin Laberenz bereite die "ziemlich trockene Materie" mit fünf "jungen Akteuren ... im Stil eines typischen Detektivstreifens" ebenso "kurzweilig reflektiert" wie "unterhaltsam übermütig" auf. Das Ensemble zeige "hübsch stilisierte Karikaturen von abstrakten Arbeitsabläufen", etwa wenn der Boden mit Manuskriptseiten ausgelegt werde, oder von den "Schwierigkeiten solidarischen Handelns - wenn zwei stürzen, weil sie einander helfen wollten, und den schönen Papierteppich ruinieren". Hinter der Bühne lärmten die Schauspieler in eine Kamera und brüllten sich heiser wie bei René Pollesch, aber dem "beherzt die Theorien auf die Tanzbeine stellenden Abend" täte das keinen Abbruch.

In der Leipziger Volkszeitung (17.2.2009) schreibt Nina May: "In 'Maschinenwinter' ist es überlebenswichtig, sich des Menschseins zu vergewissern, um nicht als Maschine überführt und vernichtet zu werden. Im Sinne der Skala-Programmatik werden keine Lösungen angeboten, sondern Fragen gestellt." Der "Dauer-Debattierclub" am langen Anfang wirke "irgendwann penetrant", dabei seien die Schauspieler "wirklich gut". Holger Stockhaus "sagenhafte Slapsticknummer" mit Stuhl sei gar "große Komödie". Aber: "Angesichts der Finanzkrise hätte man sich von der Inszenierung einer kapitalismuskritischen Schrift jedoch schon ein bisschen mehr erhofft als ein etwas altmodisches Science-Fiction-Märchen."

 

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