Don Carlos - Staatstheater Meiningen
Manierismus in Bewegung
7. September 2024. Achim Freyer, Bühnenbilder, Regisseur und Maler, gestaltet in Meiningen Verdis "Don Carlos“ zu einem seiner Gesamtkunstwerke – ein visuell und klanglich üppiges Ereignis.
Von Thomas Rothschild
7. September 2024. Don Carlos, der nahe daran ist, die Träume seiner Jugend zugunsten einer fatalen Liebe zu verraten; der Marquis von Posa, der ihn davon abbringen will und für ihn in den Tod geht; Philippe II., der unter dem Diktat des Großinquisitors grausamer handelt, als er eigentlich möchte: Achim Freyer forciert die bekannten Motive nicht, und erst recht sucht er nicht nach heutigen Pendants zu dem Zögerer Carlos, dem Freiheitshelden Posa und dem Tyrannen Philippe. Er bevorzugt ein im besten Sinne manieristisches Theater. Und Verdis Musik hat schließlich von leidenschaftlicher Liebe mehr zu erzählen als von Freiheitskämpfen, die auch in dieser Oper eine erbärmliche Niederlage erleiden.
Unverwechselbar als Regisseur
Dem deutschen Theater mangelt es nicht an Epigonen. Was Frank Castorf kürzlich eingestanden hat, gilt nicht nur für ihn: "Ich wusste schon immer, wie man sich benimmt, auch wenn ich es nicht so gezeigt habe. Aber es kamen welche nach mir, die haben das dann anders durchgezogen. Ich bin kein gutes Vorbild." Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass vergängliche Moden oft den Sieg davon tragen über individuelle Einfälle.
Die Zahl der originellen Regisseure hingegen, die eine eigene, unverwechselbare Handschrift entwickelt haben, ist begrenzt. Castorf ist einer von ihnen. Achim Freyer ein anderer. Inzwischen ist er 90 Jahre alt und straft jene Lügen, die, sei es aus Überzeugung, sei es aus Erwägungen der Konkurrenz, suggerieren, Kreativität habe ein Verfallsdatum und Jugend sei, zumal in den Künsten, eine Qualitätsgarantie. Das ist nicht weniger abstrus als die entgegengesetzte Annahme.
Vertrautes für den Liebhaber
Achim Freyer, der vom Bühnenbild her kam, ehe er sich der Schauspielregie zuwandte, ohne deshalb die Arbeit an Bühne und Kostüm zu vernachlässigen, verlegte seine Haupttätigkeit zunehmend auf die Oper. Jetzt hat er in Meiningen, wo er 2021 bereits eine seiner "Zauberflöten" inszeniert hat, Verdis "Don Carlos" einstudiert, und zwar in der ersten, fünfaktigen französischen Fassung von 1867 (daher "Carlos" und nicht, italienisch, "Carlo").
Der Liebhaber von Freyers Kunst begegnet auch diesmal zahlreichen vertrauten Merkmalen: den grellen Farben, dem grafischen Strich, der eher dem Zweidimensionalen als dem Räumlichen verpflichtet ist, den Reminiszenzen an Zirkus und Clownsspiel, aber auch an Kinderzeichnungen in der Tradition von Paul Klee oder Joan Miró. Seine Figuren vermengen Einflüsse der Commedia dell’arte und des fernöstlichen Theaters mit Reminiszenzen an Figurinen von Malewitsch und El Lissitzky. Seinen Don Carlos kleidet Freyer, assymetrisch, mit einem langen und einem knielangen Hosenbein und einer Schildmütze. Posa tritt als sein Spiegelbild in Blau-Weiß auf. Immer wieder werden Gesichter mit naiven Stabmasken verdeckt. Und Philippe in Weiß-Gelb trägt eine typische Freyer’sche Papierkrone.
Gesangskunst und visuelle Opulenz
Vorne steht das Kästchen mit Carlos' Porträt, hinten eine Krone. Dazwischen spielt sich Elisabeths Schicksal ab: Sie sollte eigentlich Don Carlos, den spanischen Kronprinzen heiraten, um des Friedens zwischen ihren Ländern willen; doch dann beansprucht dessen Vater Philippe die Ehe mit der französischen Prinzessin. Die Sängerinnen und Sänger, der Chor eingeschlossen, vollziehen, immer frontal, von Anfang bis Ende auf den drei ansteigenden, die Bühnenbreite füllenden Stufen schematische tänzerische Gesten. Statt einander zu umarmen, umtänzeln sich die Freunde Carlos und Posa. Wenn sich Elisabeth von ihrer verbannten Hofdame verabschiedet, dreht sich Philippe um die eigene Achse, während sich die Untertanen am Bühnenrand verneigen. Das leidende flandrische Volk passiert als Schatten auf der grellroten Rückwand. Und der Großinquisitor tötet einen hinzuerfundenen Friedensengel.
Ob all der visuellen Opulenz sollte man nicht vergessen, was dieser Opernabend der Gesangskunst der drei zentralen Figuren zu verdanken hat: dem strahlenden Tenor von Matthew Vickers in der Titelrolle, dem makellosen Sopran des amerikanischen Gasts Dara Hobbs als Elisabeth, unbeirrbar in den Höhen und kraftvoll in den tieferen Registern, und dem klangschönen Bariton von Shin Taniguchi als Posa. Ein großer Wurf eines großen Theatermachers und eine singuläre Handschrift.
Don Carlos
Oper in fünf Akten von Giuseppe Verdi
Dichtung von Joseph Méry und Camille du Locle
Musikalische Leitung: GMD Killian Farrell, Regie, Bühne, Kostüme: Achim Freyer, Co-Regie: Sebastian Bauer, Co-Ausstattung: Moritz Nitsche, Chor: Roman David Rothenaicher, Dramaturgie: Julia Terwald, Gastdramaturgie: Klaus-Peter Kehr.
Mit: Dara Hobbs, Tamta Tarielashvili/Marianne Schechtel, Matthew Vickers, Shin Taniguchi/Johannes Mooser, Selcuk Hakan Tiraşoğlu, Mark Hightower, Hans Gebhardt, Tomasz Wija, Monika Reinhard/Sara-Maria Saalmann, Julie Mooser/Dorothea Böhm, Dana Hinz.
Premiere am 6. September 2024
Dauer: 3 Stunden, 35 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-meiningen.de
Kritikenrundschau
Für Roland H. Dippel von der Neuen Musikzeitung (7.9.2024) "überzeugt dieser 'Don Carlos' neben Freyers farbsatter und anspielungsreicher Inszenierung mit einer hochkarätigen musikalischen Leistung." Freyer habe "eine bildgewaltige, plausible und eindrucksvolle Schneise durch das Werk gelegt. Die Beziehungen zwischen den Figuren sind klar entwickelt und aus dem historischen Kontext herausgeholt, die Chöre und der geheimnisvolle Mönch wirkungsvoll posiert." Für das Portal Concerti (7.9.2024) berichtet ebenfalls Roland H. Dippel über eine "glänzende Premiere" und eine "Sternstunde" der musikalischen Leitung unter GMD Killian Farrell.
"Musikalisch gerät der Abend mit der fünfaktigen Variante dieser Grand opéra zu einem Triumph", schreibt Roberto Becker in der Südthüringer Zeitung (9.9.2024). "Nicht nur für Freyer auch für den 60 (!) Jahre jüngeren Generalmusikdirektor Killian Farrell war 'Don Carlos' Neuland. Er eroberte es im Sturm, zupackend aber ohne überzogenes Pathos, sensibel mit Sinn für Feinheiten, charismatisch im großen Bogen. Farrell ist ein Glücksfall für Meiningen, einer, bei dem durchaus Erinnerungen an Kirill Petrenko aufkommen." Hinzu komme ein "durchweg großartiges Ensemble".
"Manches ist albern, manches gelingt großartig", berichtet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (8.9.2024) aus Meiningen: "Die Aufführung ist eine einzigartige Mischung aus statischer Abstraktion und permanenter Bewegung. Das Licht ändert sich unentwegt und erzählt dabei viel über Gefühle, rot ist die Liebe, nun ja, subtil ist wenig. Die Solisten stehen meist frontal zum Publikum, wahren Abstand zueinander. Was sie innerlich bewegt, erzählen sie - außer durch den Gesang natürlich - in Gesten. Jede Figur hat ihr eigenes Gestenrepertoire."
Eleonore Büning ist fürs Van-Magazin (11.9.2024) dem "Theatertraumbildzauberer" Achim Freyer gern nach Meiningen gefolgt: "Bei Freyer gibt es keine leeren Sekunden. Die Zeit vergeht im Flug. Alles ist in Bewegung, im Hintergrund wandern Freyers Zeichnungen vorbei, an der Seite Spiegelwände, Farben und Lichter wechseln. Immer wieder passiert etwas Unvorhersehbares."
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Herzlichen Glückwunsch Achim Freyer und seinem Team und dem Staatstheater Meiningen für diesen kraftvollen Opernabend!
Und nun freue ich mich auf Achim Freyers Version von DER FLIEGENDER HOLLÄNDER am Theater Altenburg Gera.