Einfach fucking kompliziert

15. September 2024. Die Revolution ist los zur Dortmunder Spielzeiteröffnung. Kieran Joel hat sich Büchners Kopf-Ab-Drama vorgenommen und gemeinsam mit dem Ensemble ins Theatermilieu verlegt, bissige Selbstironie inbegriffen. Aber versprochen war auch noch ein zweiter Klassiker – wenigstens als "Beitrag". Wer findet ihn?

Von Karin Yeşilada

"Dantons Tod und Kants Beitrag" am Theater Dortmund © Birgit Hupfeld

15. September 2024. Wer auch immer die kanonferne Progressivität unter Intendantin Julia Wissert bemängelt haben sollte, darf sich freuen: Die neue Spielzeit eröffnet mit einem bewährten Klassiker und Büchners Danton stirbt einmal mehr nun auch auf Dortmunds Bühne. Beziehungsweise – Achtung Spoileralarm! – darf er überleben, in dieser Uraufführung. Regisseur Kieran Joel hat den Klassiker überschrieben und zusammen mit Dramaturgin Marie Senf eine revolutionäre Theatersatire erstellt, die nicht nur wegen ihres ironischen Happy Ends beim Dortmunder Publikum gut ankam. 

"Jetzt herrscht das Theater"

Am Beginn aber steht Betriebssatire: Intendantin Bettina Kunstmann (energisch: Antje Prust) ist mit den bisherigen Erfolgen ihres Hauses nicht glücklich und will das Theater nach 4000 Jahren endlich und endgültig revolutionieren. Dazu lässt sie das Ensemble zunächst brainstormen, wobei sämtliche Themen, die der Gegenwart auf den Fingern brennen – Migration, Altersarmut, Rassismus – verworfen werden (erst bei der Klimakrise wird es "wärmer", sie ist aber auch "nicht sexy genug"). Man einigt sich auf "Revolution!", nicht zuletzt, weil ein neues Ensemblemitglied (auch real neu dabei: Fabienne-Deniz Hammer) auftaucht und furios zum revolutionären Chaos aufstachelt. Gemeinsam wird die Revolutionshymne geschmettert – "Dortmund wird bald erwachen / Jetzt herrscht das Theater / Wer nicht mitmacht, wird umgebracht" –, dann geht es ans zerstörerische Werk.

Kieran Joel arbeitet mit versierten Kollegen zusammen: Justus Saretz liefert nach anfänglichem Bühnenidyll für den restlichen Abend eine multi-funktionale Holzempore, über der eine riesige Guillotinen-Klinge hängt, und Lenny Mockridge sorgt für den passenden Sound. Nach dem selbstreflexiven Auftakt wechselt die Szenerie ins vermeintliche Stück von Büchner, was bedeutet, dass die Schauspieler von der Straßenkleidung in historische Kostüme (Tanja Maderner) und somit in ihre Rollen schlüpfen und sich ins Getümmel stürzen. Unter dem Oberbefehl von Robespierre aka Intendantin Kunstmann und St. Just aka Die Neue wird gebrüllt, gekämpft und jede Menge Theaterblut vergossen.

EnsembleAuf in den revolutionären Kampf: Ensemble © Birgit Hupfeld

Im Hintergrund wird das Geschehen durch eingespielte Video- und Toncollagen ironisch gebrochen: Die Revolution wird live über die (sozialen) Medien gespielt (lustig: Katrin Osbelt als Reporterin). Das ist zeitgemäß und aufregend. Bis hierhin geht Joels und Senfs Konzept auf: Wir verstehen die die Metaebene und amüsieren uns.

Die Revolution ertrinkt in Blut

Was folgt, ist getreu Büchners Dramaturgie. Eine Szene und fünf Monate später ertrinkt die Revolution im eigenen Blut, ist Robespierre völlig enthemmt und Danton (gut gespielt von Alexander Darkow) ein zögerlicher Gegenentwurf, den auch seine Freunde Camille (Lukas Beeler) und Hérault (Viet Anh Alexander Tran) nicht aufmöbeln können. Die Schauspieler ermüden in ihrem revolutionären Acting, verzweifeln an der neuen Theater-Weltordnung – "Das ist fucking kompliziert!" – und landen schließlich im Kerker, um tags drauf guillotiniert zu werden.

Hatte die Überschreibung bis dahin Büchner-gemäß immer weiter an der Gewaltspirale gedreht, bremst Joel nun kurz vor dem Höhepunkt radikal ab. Statt des tragischen Endes lässt er die Schauspieler*innen mal wieder ordentlich streiten und aus ihren Rollen fallen (großartig, wie sie sich über "das Toxische" von St. Just ereifern), dann lässt er eine Dea ex Machina (Sarah Quarshie) plötzlich den Erfolg der Revolution verkünden. Das Ensemble reagiert entgeistert, doch das Volk ist begeistert: Die Inszenierung hat die Welt verändert, Theatermission completed. Da kommt sogar Robespierre aka Intendantin Kunstmann zur Ruhe und findet für ihr Ensemble, das sie bis eben noch abschlachten wollte, lobende Schlussworte: "Ich bin stolz auf Euch!"

Kategorischer Imperativ: Überschreibe!

Wo aber war Kant bei alldem? Gilt der kategorische Imperativ dem Überschreiben? Allzu viel von Georg Büchner bleibt inmitten all der Selbstironie nicht, von daher ist die Bezeichnung als "Uraufführung" völlig in Ordnung. Und auch, wenn der philosophisch-theatertheoretische Überbau der Revolution streckenweise sehr ermüdend ist und für Längen sorgt (aber mal ehrlich: geht uns das bei Büchners Original nicht auch so?), ist diese energisch gespielte Satire auf den Theaterbetrieb und seine Überambitionen gut gelungen.

Allein dass Danton-Darkow sich in Sicherheit wiegt, weil "die Hauptrolle ja wohl nicht ermordet" würde, ist großartig, und dass die Nebenrollen-Revolutionäre nur mitlaufen, weil sie "die Miete bezahlen müssen" und das Volk im Bürgergeld-Prekariat lebt, ist schön fies. Wie Roland Schröter-Liederwald den beflissenen Guillotinenmeister gibt, der liebevoll über die Klinge streicht, ist urkomisch. Es wird oft gelacht an dem Abend und wie nach Kieran Joels gefeiertem Musical "Das Kapital" spendet das Dortmunder Publikum erneut ordentlich Applaus. "Das war interessant!", meint ein Schüler zu seinen Freunden, und setzt nach: "Aber mehr interessant als gut." Meint er jetzt den Klassiker oder doch die Überschreibung? 

Dantons Tod und Kants Beitrag. Eine revolutionäre Theatersatire.
nach Georg Büchner, Bühnenfassung von Kieran Joel, Marie Senf und Ensemble
Uraufführung
Regie: Kieran Joel, Dramaturgie: Marie Senf, Bühne: Justus Saretz, Kostüme: Tanja Maderner, Licht: Stefan Gimbel, Komposition und Sounddesign: Leonardo (Lenny) Mockridge, Videodesign: Leon Landsberg, Ton: Younes El-Ali. 
Mit: Lukas Beeler, Alexander Darkow, Fabienne-Deniz Hammer, Sarah Quarshie, Antje Prust, Viet Anh Alexander Tran. Weitere Mitwirkende im Video: Katrin Osbelt, Roland Schröter-liederwald, Umut Can Cansit, Patricia Kalde, Sebastian Kaute, Paula Leminski, Julie Meyer, Maria Pfund, Hazal Saraçoğlu, Justin Sathiskumar, Ari Trapani.
Premiere am 14. September 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-dortmund.de


Kritikenrundschau

"Der Schluss der Inszenierung wirkt recht aufgesetzt", schreibt Britta Helmbold in den Ruhr Nachrichten (16.9.2024). Kritik an dem Stück übten die Mimen gleich selbst im zweiten Akt: "retardierende Momente und keine Figurentwicklung", so Helmbold, die die Produktion "weniger unterhaltsam" findet als die ebenfalls von Kieran Joel inszenierte Auftaktproduktion der letzten Spielzeit "Kapital. Das Musical".

Kommentare  
Danton/Kant, Dortmund: Analyse?
Eine ziemlich wohlwollende Rezension. Die Autorin wollte mit allen Mitteln diesen Abend mögen - aber wo bleibt hier der analytische Aspekt…?
Danton/Kant, Dortmund: Angst vor Komplexität
Was ich mich aber auch frage ist: wie kann es sein, dass wenn man einen Text überschreibt, es dann so unterkomplex lassen? Meines Erachtens ist der Sinn einer Überschreibung/Erneuerung ist doch, die dinge die zeittechnisch neu sind, und dementsprechend nicht Teil des Textes werden können!!! mit einzuflechten?! Wenn das nicht passiert, ist eine Überschreibung nichts! anderes, als die Angst der Komplexität eines Originaltextes nicht gerecht zu werden, und es dann irgendwie prahlerisch als die Behebung eines Mangels in dem Stück zu bezeichnen, was meiner Meinung nach eine Täuschung ist
Danton/Kant, Dortmund: Do it yourself
Die Analyse folgt in den Kommentaren.
Immer raus damit!
Danton/Kant, Dortmund: Interessant
Ich bin zwar kein Schüler mehr, wahrscheinlich aber die Person, deren erster Eindruck hier im Ausklang zitiert wird . Selbstverständlich war meine Aussage auf die zuvor gesehene Inszenierung und nicht etwa auf Büchners Klassiker bezogen. ,,Interessant", wegen des durchaus cleveren Konzeptes, vielen kleinen kreativen Einfällen und dem spannenden philosophischen Unterbau.
,,Mehr interessant als gut”, weil die mäandernden Metadialoge recht schnell eintönig werden und die Handlung nach den ersten 20 Minuten recht ziellos vor sich hindümpelt. Die hier bereits vorweggenommene Schlusspointe empfand ich dagegen durchaus als subversiv, aber auch ziemlich unbefriedigend.
Danton/Kant, Dortmund: Etikettenschwindel
Doch wozu Büchner, wozu Kant frage ich mich die ganze Zeit. Wozu der Etikettenschwindel, bzw. Täuschung? Wo doch Büchner/Kant und der Text gerade noch homöopathisch dosiert Nebenrolle spielen. Ich frage mich: glaubt man, damit das Publikum locken zu können, oder geht es darum, ein Stück Weltliteratur zu demontieren? Meines Erachtens auch, -wie #2 auch schreibt- schimmert da deutlich die Angst, der Komplexität des Textes nicht gerecht werden können durch.
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