Fleischmarkt der Gefühle

von Daniela Barth

Hamburg, 19. Februar 2009. Endlos-Schleife Vivaldi: Der Frühling, die Ankunft, das Neue... Audiomedialer Aufbruchsterror im Hamburger Schauspielhaus. Schon vor den Türen. Bohrt sich ins Hirn und verursacht dumpf hämmernde Schmerzen. Aber es ist nicht nur dieser ausgebuffte musikalische Anfall des Inszenators Sebastian Nübling, der Kopfschmerzen verursacht.

Oliver Bukowski hat für die Hamburger ein Stück geschrieben: "Kritische Masse". Ein Auftragswerk über die am "Rande der Gesellschaft". Über die Arbeitslosen. Die Haltlosen. Das Szenario: Das Arbeitsamt bleibt geschlossen. Kommt es zum Aufstand und wenn überhaupt, wie? Der 47-jährige Autor, von Hause aus Sozialpsychologe ("Gäste", "Nichts Schöneres"), untersucht die deutsche Protestkultur und entwirft ein desillusionierendes Bild. Ein Aufruhr der Gemütlichkeit, eine biersaufende Losergemeinschaft, die sich scheinbar zufällig und unorganisiert trifft und sich zur "Kritischen Masse" formiert (jener nuklearen Mindestmasse, mit der physikalisch noch eine Kettenreaktion möglich ist), um in Stammtischmanier das Protestieren auszuprobieren.

Drei, zwei, eins – keins?
Bukowskis Sozialdrama hat eine nachvollziehbare dramatische Struktur. Er verschneidet die Szenen miteinander und zählt dabei von Drei auf Eins – ein Countdown zur nicht ganz harmlosen Kulmination. Sein liebevoll aufgestelltes Personal ist bunt durchmischt. Vom Akademiker über den Penner bis zum Teenie, vom Ossi zum Wessi sind alle dabei. Selbstverständlich kommt es auch zu Verstrickungen. Der Protestaufmarsch ist eine Art Blind Date im "blanken, öden Nichts". Die Schicksalsgemeinschaft als Fleischmarkt in Selbstmitleid aufgeweichter und in Zynismus verhärteter Gefühle. Und am Abgrund erlaubt man sich natürlich den einen oder anderen bitteren Scherz.

Dass die Uraufführung nun Kopfschmerzen verursacht, hat wie schon erwähnt, mehrere Gründe. Da ist zum Beispiel die enorme Rauchentwicklung auf der kahlen Bühne: Kettenrauchende Protagonisten und gegrillte Würste. Zudem löst sich auch Etliches aus des Autors Feder unter der rigiden Hand des Regisseurs in Rauch auf. Sebastian Nübling macht Muttis zu Brüdern, Ehefrauen zu Muttis, Männer zu Frauen. Zu fragen: Darf er das bei einer Uraufführung?, schickt sich schon längst nicht mehr. Aber gelingt ihm damit etwas? Nein. Der Ursprungstext gefällt und überzeugt eindeutig besser.

Nackedeis in Druckerschwärze
Bei Bukowski sind die Frauen diejenigen, die sich auch in aussichtlosen Lagen etwas Mütterlich-Tröstendes bewahren, während die Männer in ordinären Sarkasmus flüchten. Sebastian Nübling mag diese Zuweisung gereizt haben. Er weicht die Geschlechterrollen auf, indem er zum Beispiel Bukowskis Ethikprofessor zur arbeitslosen Professorin (Marlen Diekhoff) macht, die, verzweifelt gesellschaftspolitisch philosophierend, versucht, Tupperware an den Mann zu bringen. Damit ist Bukowskis Setzung gekippt, ohne dass sie diskutiert worden wäre.

Zurück zu den Kopfweh-Ursachen: Wüstes Durcheinander. Nackedeis, die sich in Druckerschwärze wälzen. Witzsalven, schwäbische Trinksprüche, Komasaufen: Har, har, har. Warum? Und warum wirken die Figuren auf der Bühne so marionettenhaft und kaltgestellt, während sie bei Bukowski doch so nah und menschelnd daherkommen? Will Nübling die arbeitslosen Individuen in aller Konsequenz als das zeigen, was sie für das Arbeitsamt offenbar sind: Nummern, nichts als Nummern?

"Kopf oder Zahl?" heißt es im Stück. Für die 15 Schauspieler, die ihre Köpfe auf der Bühne hinhalten, stellt sich – wohl als einzige – diese Frage nicht. Man sieht ihr zähes Sich-Abrackern an den Inszenierungseinfällen. Ihr Bemühen, wenigstens einmal während der zweieinhalb Stunden sternschnuppenartig aufzublitzen. In Erinnerung bleibt eher das Verglühen.


Kritische Masse (UA)
von Oliver Bukowski
Regie: Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Musik: Lars Wittershagen.
Mit: Marion Breckwoldt, Marlen Diekhoff, Jörn Knebel, Juliane Koren, Hedi Kriegeskotte, Marie Leuenberger, Martin Pawlowsky, Tim Porath, Michael Prelle, Jana Schulz, Tristan Seith, Lydia Stäubli, Daniel Wahl, Kaspar Weiss, Samuel Weiss, Sören Wunderlich.

www.schauspielhaus.de

 

Mehr zu Sebastian Nübling? Im November 2008 inszenierte er das Familienprojekt Mütter. Väter. Kinder in Freiburg, im September 2008 Furcht und Zittern von Händl Klaus in Bochum.

 

Kritikenrundschau

Einen Aufschrei hat Sebastian Nüblings Inszenierung ("ein überquellendes, unübersichtliches Panorama einer verlorenen Gesellschaft") bei Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (21.2.2009) provoziert, der sich insgesamt nicht klar darüber wurde, ob die Aufführung "das Stück vor sich selbst gerettet hat oder, ob es die Figuren verraten hat". Denn einerseits findet er dankenswert, "dass Nübling dem Kitsch keinen Raum gegeben hat, dass die Post ab und es lustig zu geht". Gleichzeitig regt es ihn auf, "dass hier eine ganze Schicht denunziert wird. Wenn die Arbeitslosen wirklich so wären, wie sie hier gezeigt werden, hätten sie gar kein anderes Schicksal verdient, ist für den Kritiker nämlich ein durchaus zu folgernder Schluß aus der Aufführung. Aber: "Wollten die das wirklich sagen?" Denn wenn man wirklich ein soziales Drama wolle, werde man so nicht weiterkommen. Trotzdem spricht für Michalzik alles dafür, "dass das Theater ein soziales Drama will und braucht". Und kommt sein Aufschrei: "Es muss eine Regiesprache, die es zur Zeit nicht gibt, gefunden werden, die von den Figuren, Menschen, Milieus oder Umständen – wie dann auch immer – erzählen kann. Das Theater muss los, es muss raus, es muss die Welt entdecken. Es reicht nicht mehr, wenn es sich auf sich selbst verlässt. Es muss Schauspieler geben, die solchen Menschen zugeschaut haben, Regisseure, die sie kennen, Dramaturgen, die sich für sie interessieren. Eine Regiesprache die zwischen Einfühlung und Denunziation einen Weg findet. Es kann nicht sein, dass Arbeitslose wie bei Volker Lösch authentisch im Theater nur noch von echten Arbeitslosen vertreten werden können. Da bräuchten wir am Ende ja kein Theater mehr."

Deutlich kürzeren Prozess macht Stefan Grund in der Tageszeitung Die Welt (21.2.2009), den Autor Bukowski an einen Künstler erinnert, "der abstrakt malt, weil er nicht zeichnen kann, der aber seinen Figuren durchaus Sympathien entgegenbringt", während Regisseur Nübling "aus dem Stück und den Menschen eiskalt Muster ohne Wert" machen würde. Denn Nübling nutze Bukowskis "mal zynische, mal anrührende, häufig zerfallene und zerstreute Gespräche" als Steinbruch der Worte, aus dem er nur das einfallslos herausklaube, was seiner "szenischen Schmalspur-Fantasie" fromme, und die Grunds Eindruck zufolge "jene des Autors in keiner Weise" überflügeln würde. Was vom Text bleibe, sei das "Geschwafel in jeder Hinsicht zu kurz gekommener Mitbürger", und zwar "gänzlich ohne dramatischen Wert, geschweige denn intellektuellen oder gefühlten Mehrwert".

Aus Sicht von Klaus Witzeling vom Hamburger Abendblatt (21.2.2009) ist der Abend gescheitert, weil Oliver Bukowski in seinem "schwachen Agitationsstück" nur "reichlich verbalen Rauch" entfacht und sich bald in derber "Platte" -Genremalerei" verliere. Zwar habe Sebastian Nübeling viel gestrichen, komme um Bukowskis "volkstümelndes" Typen-Arsenal letztlich trotzdem nicht herum. Er rücke ihm zwar mit allerlei Verfremdungs-Tricks zu Leibe, entschärft so jedoch deren Sprache und Sentimentalität.

Von Bukowskis Sozialstück seien in Nüblings Uraufführungsregie "nur noch Reste wiederzuerkennen", meint Simone Kaempf in der tageszeitung (23.2.2009). Immerhin müsse man bewundern, "wie formbewusst Nübling die Massenszenen choreografiert". "Dass er allerdings auch noch Unterschichtenauthentizität auf die Bühne zerrt, ist nicht nur des Guten zu viel, sondern wird zum Verhängnis." Die "Abgehängten und Ausgeschlossenen eins zu eins auf die Bühne zu holen", sei "wenig erhellend und weckt an diesem Abend nicht einmal Mitleid." "Arbeitslosen eine glaubwürdige Stimme zu geben, ihr Schicksal gar differenzierter zu beleuchten", scheitere bei Nübling "an einem uralten Theaterproblem: Das Spiel ist nicht real genug, um Realität zu sein, und nicht unwirklich genug, um nicht Realität sein zu wollen. Die Kunstanstrengung bleibt offensichtlich, so sehr sich die Schauspieler auch ins Zeug werfen."

Hier ist zu hören, was Michael Laages durchaus Positives über den Abend zu sagen hat, das beim Deutschlandsender am Premierenabend um 23.10 Uhr in der Sendung Fazit über den Äther ging.

 

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