Das große Spiel mit dem Nichts

von Irene Grüter

Basel, 25. Februar 2009. Die Todeszone beginnt auf der Höhe des Schnürbodens. Die Zuschauer steigen in Gruppen die Treppen hoch, dem Bergführer hinterher, ins erste Basislager, vorbei an der Maske, am Aufenthaltsraum der Technik.

Auf 6000 Metern befinde man sich jetzt, verkündet eine Schrift an der Wand, der Wind rauscht aus versteckten Boxen, die Luft wird nicht dünner und riecht nach warmem Theaterstaub. Durch eine niedrige Tür geht's hinaus auf die Dachterasse; dort verneigt sich ein alter Japaner und schießt ein Polaroid ("cheese") des Publikums vor dem Gipfelkreuz.

Delirium im Zwischenreich
Soweit das Vorspiel; dann beginnt der Abstieg ins Foyer des Basler Schauspielhauses zum eigentlichen Spielort. Der ist ein schmaler Durchgangsraum mit Wartezimmer-Atmosphäre, und umso mehr überzeugt, wie er hier genutzt wird (Bühne: Philipp Berweger): Das Publikum sitzt vor der breiten Fensterfront, schaut raus auf die Straße. Trockennebel wabert über den Boden; aus einem Walkie-Talkie quäkt verzerrt der Satz: "Scheisse, das also ist der Tod". Und dann bleibt es lange still.

Bis Vincent Leittersdorff als Hermann beginnt, sich selbst beim Namen zu rufen. Hoch oben auf einer schmalen Plattform sitzt er, unbequem an eine Betonsäule gelehnt, auf seinem Bein liegt ein großer Eisblock. (Ja, er wird irgendwann herunterkrachen und zersplittern.) Ein Absturz hat sein Bewusstsein vernebelt, er deliriert im Zwischenreich, wo sich Leben und Tod schon berühren.

Eroberung des Nutzlosen
Wie so oft, wenn Texte in den Bergen spielen, geht's um existentielle Fragen: Weshalb will der Mensch nach oben, warum riskiert er alles für die Eroberung des Nutzlosen? Wie egoistisch wird er bei der Suche nach ein paar Sekunden Glück? Und warum hört er nicht auf zu hoffen, selbst wenn seine Lage aussichtslos scheint?

Kai Grehn, bisher vor allem als Hörspielautor bekannt, legt sein Gebirgsdrama als inneren Monolog an, durchbrochen von wenigen Nebenfiguren. (Wie man in einer Videostation erfährt, gab eine Expedition im Himalaya, bei der mehrere seiner Kollegen verunglückt sind, den Anstoss zum Schreiben.) Doch Grehn verfällt nicht in einen markig-rauen Berg-Jargon, sondern setzt dem Thema eine lyrisch überhöhte Sprache entgegen. "Schneeanker an weisse Krähe: Kommen..."

Die Stimme schnarrt aus dem Funkgerät, und da erst entdeckt man, zu wem sie gehört: Auf der anderen Straßenseite, jenseits des Glasfensters, sitzt der Expeditionsleiter gemütlich im Sessel, eine Tasse aus dem Thermos in der Hand, neben einem leuchtenden Globus. Doch die Welt ist schon weit weggerückt für Hermann; die Scheibe und Halluzinationen trennen ihn von allem, was da draußen geschieht. Befangen zuerst, und im Verlauf des Abends immer freier und nuancierter, spricht er gegen das Ausgeliefertsein an.

Das Prinzip Hoffnung
Nach und nach tauchen Gestalten aus seinem Lebensfilm auf: Ein toter Seilpartner baumelt im Klettergurt vor der Theaterfassade und spricht über Hilfe, die nicht kommt. Zwei Japaner fragen nach dem "way to the top" und ziehen zielstrebig am Verletzten vorbei in Richtung Gipfel. Zufällig vorbeikommende Passanten wundern sich und bleiben stehen, ab und zu fährt eine Straßenbahn vorüber. Dann bremst ein Mini vor dem Eingang, eine Journalistin will ein Interview – wie Vincent Leittersdorf und Inga Eickemeier über die Sinnfrage und aneinander vorbei reden, er kurz vor dem Verdursten, sie mit dem dampfenden Starbucks-Becher in der Hand und beide mit einer ironischen Distanz zu ihren Rollen, gibt dem Abend eine Leichtfüßigkeit, die den manchmal pathetischen Stellen die Spitze bricht.

Wie Marie Bues in ihrer Regie Außen- und Innenwelt zusammenführt, trifft die Form dieses Texts, der zugleich als Theaterstück und als Hörspiel angelegt ist (Koproduktion mit dem SWR). Formal präzise und mit dem Mut zu stillen Momenten inszeniert sie das Prinzip Hoffnung am Ende einer großen Freiheitssuche, während das Nichts näher rückt. Das Eis auf Hermanns Knien tropft und wird weniger. Ein letzter Funkspruch. Over and out.

 

Der Berg, über den kein Vogel fliegt
von Kai Grehn (UA)
Regie: Marie Bues, Bühne: Philipp Berweger, Kostüme: Anna von Zerboni, Sound: Lorenz Schuster.
Mit: Vincent Leittersdorf, Inga Eickemeier, Wolf Lutz, Oliver Zgorelec, Oliver Amweg, Satoshi Ito.

www.theater-basel.ch

 

Mehr lesen? Im Februar 2009 inszenierte Florentine Klepper am Theater Basel Arthur Millers Hexenjagd.

 

Kritikenrundschau

Für den Berichterstatter der Basellandschaftlichen Zeitung (27.2.2009) hat die "persönliche Grenzerfahrung" des Autors im Himalaya weder im Stück noch in der Inszenierung eine "künstlerische Rendite" erbracht. "Ein absolut lächerliches Treppensteigen, ein langweiliges Warten, immer wieder das eingespielte Getöse des Berges, es soll Verängstigung auslösen, ist aber bloß peinlich", schreibt Joerg Jermann. "Ein Ausrutscher auf dem Achttausender. Ein langweiliges Sterben."

Maren Butte im bazkulturmagazin (27.2.) sieht das anders. Sie hält Grehns Stück für "ein packendes, poetisches und schonungsloses Geflecht aus Gedanken und Ängsten". In Marie Bues' Inszenierung spiele Vincent Leittersdorf "als gäbe es kein Morgen, mit vollem körperlichen Einsatz " und bringe "mit seinem nuancierten Spiel die Figur wahrhaft zum Leuchten". Dazu ein "wunderbar feine(s) Tondesign aus Stimmen, Musik, Wind und Livegeräuschen", das einen "Rhythmus der Atmosphären" erzeuge.

 

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