Wenn Priamos einen Schnupfen bekommt

von Otto Paul Burkhardt

Tübingen, 5. März 2009. Alle reden über Walter Jens. Seine Demenz, sein Wandel vom großen Rhetoriker zum sprachlosen Pflegefall, der am liebsten Karnickel füttert und sich wie ein Kind über Wurstweckle freut: Alles wurde öffentlich ausgebreitet. Sohn Tilman Jens deutet die Krankheit des Vaters gar als Rückzug, als "fatale Schweige-Krankheit" angesichts der schamvoll verdrängten NSDAP-Mitgliedschaft.

In Tübingen jedenfalls, wo Walter Jens lebt, war man böse: Weil Sohn Tilman die Homestory seines kranken Vaters, ein Leben mit Babyfon und Windeln, an die "Bild"-Zeitung verkauft hatte, wurde er als "Psychopornograph" und "Geschäftemacher" beschimpft. Kürzlich las Tilman Jens im empörten Tübingen – und viele änderten ihre Meinung, begriffen, dass zumindest das Buch mehr ist als eine Abrechnung: Anamnese, Abschied und Liebeserklärung zugleich. Und nun, in diese vieldiskutierte Szenerie eines medial gehypten Familiendramas, eines "Vatermords" geradezu antikischen Ausmaßes, rückt das Tübinger Zimmertheater ein altes, vergessenes Fernsehspiel von Walter Jens aus dem Jahr 1974.

Ein Mythos wird entschleiert

Ein Stück, das auch noch den wuchtigen Titel "Der tödliche Schlag" trägt und die Verantwortung der Intellektuellen angesichts von Krieg und Nuklearwaffen zum Thema macht. Walter Jens erzählt den Mythos von Philoktet neu: Der von Odysseus entmachtete und auf einer Insel ausgesetzte Heerführer mutiert hier zu einem Kritiker des Trojanischen Kriegs, zu einem Friedenstheoretiker, dem es aber nicht gelingt, seine Pläne durchzusetzen. Im Subtext ist damit auch von Intellektuellen wie Robert Oppenheimer die Rede, dem Vater der Atombombe, der nach Hiroshima ihren weiteren Einsatz verhindern wollte, aber entmachtet wurde. Das Jens-Stück entstand sieben Jahre nach Oppenheimers Tod.

Regisseur Axel Krauße findet gleich als Einstieg ein treffendes Bild – ganz langsam zieht eine blinde Seherin (Nicole Schneider) den weißen Vorhang, der die Bühne verhängt, weg und entschleiert somit gleichsam die überlieferte Geschichte: Genau so geht Walter Jens mit dem Philoktet-Stoff um – er entmythologisiert ihn (sechs Jahre nach der Münchner Uraufführung von Heiner Müllers ähnlich metaphysikfreiem "Philoktet"). Er entlarvt die hehren Worte von Vaterland, Ehre und Verteidigung der Zivilisation als Phrasenmüll, als kalkulierte Lüge. Philoktet muss sterben, und sein Tod wird auch noch zur Anfachung eines Vernichtungskriegs ausgenutzt – ein perfider Plan, der aufgeht.

Die Schlacht der Oliven

So thesenhaft die Dialoge auch manchmal daherkommen mögen, entwickeln sie doch meist eine fein gedrechselte, brillante Dynamik. Unter Kraußes Regie entfaltet sich ein verbales Machtspiel, ein packender Politkrimi. Selbst die antikisierenden Kostüme (Toga, Helmbusch und Waffenrock) wirken nie lächerlich. Philoktet ist bei Robert Arnold ein wortgewandter, aber auch überheblicher Redner, der dem leicht entflammbaren Jungsoldaten Neoptolemos (Rosario Bona) in gönnerhafter Feldherrnmanier Schlachtaufstellungen erläutert, indem er Olivenhaufen auf dem Tisch hin- und herschichtet. Helenas Entführung? Nur ein inszenierter Kriegsanlass, höhnt Philoktet. Und von wegen Ehre: Es gehe den Griechen doch nur um Erzgruben. So überzeugend diese Analysen klingen: Die Regie gibt ihnen auch einen Anflug von Eitelkeit mit.

Endre Holéczys Odysseus (der von den Griechen gezwungen wird, seinen exilierten Feind Philoktet als Feldherrn wieder vor Troja zu holen) ist dagegen ein cleverer Totschläger, der nur auf einen kleinen Fehler seines leicht selbstgefälligen Gegners wartet. Und wenn Odysseus gegen Philoktets Selbstgewissheit rebelliert, scheint sogar Humor durch: "Du siehst immer nur die großen Linien … die Totalität. Aber wenn Priamos einen Schnupfen bekommt und die Troer führerlos sind … dann ist es aus mit deiner Totalität."

Heilsame Ausgrabung

Worte wie "Terrorkommando", "Kollateralschäden" und "heilige Kriege" blitzen auf und verschwinden wieder. Axel Kraußes karge, psychologisch fein gearbeitete Personenregie zeigt, dass dieses Fernsehspiel, dem man zunächst nur rhetorische Gewandtheit zutraut, durchaus sprechbühnentauglich ist. Die Grenzen des Stücks sind freilich offensichtlich: Selbst die krasse Entmythologisierung kommt noch als bezugsreich schillerndes philosophisches Gespräch daher, deutlich entfernt von Heiner Müllers wortgewaltiger Mythos-Zertrümmerung.

Doch die Wortfechterei zwischen dem Intellektuellen Philoktet und dem Raubtiermenschen Odysseus klingt überraschend modern. Und so hat diese Ausgrabung durchaus etwas Heilsames, etwas Tröstliches in der aufgeregten Debatte um die Würde des Walter Jens: Sein wacher Geist lebt auch in solchen dramatischen Versuchen weiter. Gerade im Wissen um die Beschränktheit seiner Wirkungsmacht.

Der tödliche Schlag (UA)
nach dem Fernsehspiel von Walter Jens
Regie: Axel Krauße, Ausstattung: Christina Wachendorff, Musik: Gisbert zu Knyphausen, Video: Nina Thiele.
Mit: Robert Arnold, Endre Holéczy, Rosario Bona, Nicole Schneider.

www.zimmertheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

Alexander Rabe vom Reutlinger General-Anzeiger (7.3.2009) hat bei der Theater-Uraufführung von Walter Jens' Troja-Fernsehspiel "Der tödliche Schlag" "ein spannendes Wortgefecht" miterlebt. Während Rosario Bona den Neoptolemos "mit viel Leidenschaft und starkem Ausdruck" verkörpere, gebe der "herausragende" Robert Arnold seinen Philoktet "mit stoischer Ruhe, (...) später mit fesselnder Emotionalität". Odysseus werde von Endre Holéczy hingegen "übertrieben hysterisch, teils als prolliger Fanatiker, denn als machtbesessener Kriegsheld interpretiert" und steigere sich in seiner besten Szene "zu beeindruckender Cholerik". Zwischendurch werden Video-Einspielungen auf weiße Laken projiziert, "die das passenderweise minimalistische Bühnenbild ergänzen sollten, allerdings nur sehr schlecht zu erkennen waren". Das bleibe jedoch "eine Nebenerscheinung" in Axel Kraußes Inszenierung, "die den Fokus ohne große Effekte voll auf die Sprache, auf die packenden Dialoge seiner vier Schauspieler" lege.

Für Martin Halter von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.3.2009) ist Walter Jens' Philoktet-Version so etwas wie "eine Podiumsdiskussion von Intellektuellen in griechischen Kostümen über Moral und Logik des Atomkriegs. Wer recht hat, steht außer Frage." Eitel führe dieser Philoktet, gebildet nach dem Vorbild des Atomphysikers Oppenheimer, "seine strategische und intellektuelle Überlegenheit mit Oliven und Grünzeug vor und macht sich so zum Komplizen des Teufels", "weil er sich nicht politisch einmischt, macht er sich mitschuldig". Somit sei dieser "zaudernde Intellektuelle, der sich so gern schönschwätzen hört", auch eine "kritische Selbstermannung des Rhetors und Pazifisten Jens". Dem Stück merke man seine Entstehungszeit (1974) an, seine Uraufführung sei wenig mehr als eine Ausgrabung, werde im Kontext der momentan anderweitig brodelnden Aufregung um Walter Jens aber auch "zu einem anrührenden Lebenszeichen". Regisseur Krauße inszeniere dabei "ganz im Stil klassischer Kellertheaterästhetik" mit Toga, Beinschienen und Helmbusch, "im Hintergrund perlt bedeutsam Klaviermusik und wallen Schleier mit dezenten Videoprojektionen". Halters Fazit: "Derart anachronistische Rededuelle, streng, pathostrunken und frei von allen Mätzchen ausgefochten, hätten heute nicht einmal nach Mitternacht auf Arte eine Chance, vom Gegenwartstheater ganz zu schweigen."

 

 

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