Der Mensch – er lebt!

von Ralph Gambihler

Halle, 12. März 2009. Dass man für Schleef Sitzfleisch braucht, scheint ausgemacht. Vier, sechs oder gar acht oratorisch brausende Stunden sind nichts Ungewöhnliches. Der Sprachsturm dieses Autors will eben erduldet und erlitten werden, das Reißen und Zerren an den Ästen des Daseins, das in eine Trance übergehen kann. Denkt man. Am Thalia Theater Halle, der Kinder- und Jugendbühne am Ort, die immer mal wieder mit ambitionierten Produktionen hervortritt, macht man nun eher kurzen Prozess. Keine 90 Minuten dauert die Schleef-Verknappung der 1965 geborenen Regisseurin Heike Irmert. Viel Eile für viel Stoff.

Gespielt wird die 2002 bei Suhrkamp veröffentlichte und im Jahr darauf in Düsseldorf uraufgeführte Bühnenfassung "Gertrud – ein Totenfest", die Einar Schleef in den 80ern eigenhändig aus dem ersten Teil seines gewaltigen Prosatextes "Gertrud" herausgefiltert hat. Es ist dies das Selbstgespräch einer Mutter, die aus den Zeiten zu fallen scheint, verzweifelt und vereinsamt, irgendwo zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazideutschland und DDR, weshalb sie fragt: "Wohin mein Kopp?"

Kein leichtes Leben jedenfalls. Die Mühsal der Arbeit, die Lieblosigkeit in der Ehe, die Enge der Verhältnisse, der körperliche Verfall und anderes mehr sind in diesen haarkleinen, genialisch verknappten Alltagsbeobachtungen und Assoziationen kristallisiert, dunkel, rätselhaft und doch in großer Klarheit. Auch Schleefs eigene Mutter hat so gelebt, vergessen im "zusammengeschobenen Mittelalter" von Sangerhausen, der Stadt zwischen Halle und Harz.

Zwischendrin fröhliche Armgymnastik
Ein Gong ertönt und es strömen viele Menschen in grauen Mänteln und Gummistiefeln herein. Unter dem paramilitärisch schroffen Kommando einer Männerstimme – "Chöre heraustreten!" – formieren sie sich in Reihen und Glied, sind uniforme Masse und bewegliche Kulisse. Hielten sie Fackeln in Händen und wäre das Licht ein matter Schein, käme einem die Szenerie stellenweise vor wie ein Zapfenstreich. Allerdings gibt es kein Salutieren und kein Stiefelknallen. Dafür sind sie lammfromm, wenn sie Sätze aufsagen wie: "Müde. Friere. Gleichzeitig warm."

Die Regie zeigt die zersplitterte Passionsgeschichte der Mutter nicht, sie zelebriert sie als Sprechoper ohne Zierrat. Alles ist Wort und Diktion. Nur im geordneten Sprechen der rund achtzig Darsteller finden die Schicksale von Gertrud und Einar, der die Mutter fleißig als Projektionsfläche nutzt, einen Ausdruck. Strenges Chorwesen also. Atem und Zucht des Textes. Und viel Weihrauch. Letzteres war offenbar sogar Heike Irmert zu viel, weshalb sie ihren Schleef-Gottesdienst zwischendurch wieder tiefer legt. Mal tritt eine Frauengruppe zur fröhlichen Armgymnastik an, mal gibt es Tee fürs Publikum. Wenn in der Kirche jemand kichert, wirkt es ähnlich: Dann ist die Predigt erst mal hin.

Einsatz geschlagen, nicht angeatmet
Gespielt wird in einem ehemaligen Fernsehstudio (in das man kurzfristig auswich, weil sich die ursprünglich vorgesehene Halle im Halloren- und Salinemuseum nicht richtig heizen ließ). Die Leere in diesem Betonverlies hat der Ausstatter Michael Krenz lediglich mit weißen Styroporelementen möbliert, die, riesigen Legosteinen gleich, als Sitzgelegenheiten dienen und einmal auch zur Wand aufgeschichtet werden. Das ist das einzige Bild in einem ansonsten fast mohammedanischen Bildverzicht: die Mauer und der Moment, in der sie fällt. Ansonsten fallen von Zeit zu Zeit nur Stoffbahnen von oben herab. Darauf geschrieben stehen Begriffe wie "Urteil", "Hoffnung" oder "Klage", Fingerzeige aus dem Off, die dem kräftig eingekürzten Text ein ordnendes Gerüst überstülpen.

Die Regie stemmt ihre überformte und deshalb schmal und schal geratene Schleef-Bemühung mit einem großen Bürgerchor. Als Qualifikation war Versiertheit im Umgang mit Liedgut gefragt, keine einschlägige Erfahrung mit Hartz IV wie bei Volker Lösch. Leute aus sieben Chören der Region stehen auf der Bühne, außerdem einige Studenten, Schüler, nicht singende Bürger und eine Gymnastikgruppe von Turbine Halle. Es ist bemerkenswert, wie genau und synchron sie artikulieren, mit anhaltischem "j" in Wörtern wie "hochjerafft", die Einsätze geschlagen, nicht angeatmet. Welche Möglichkeiten dieser Abend gehabt hätte, wird aber erst kurz vor Schluss deutlich, wenn Heidemarie Schneider mit kräftiger Stimme ihr wirklich sehr kurzes Gertrud-Solo gibt. Da schweigt für einige Momente das Formbewusstsein und ein richtiger Mensch tritt aus ihm hervor. Und siehe: Er lebt!

 

Gertrud – ein Totenfest
von Einar Schleef
Regie: Heike Irmert, Ausstattung: Michael Krenz.
Mit: Heidemarie Schneider und Mitwirkenden aus folgenden Chören: A-Capella-Chor, Hallesche Kantorei e.V., Lehrerchor, Männerchor Zwintschöna 1929 e.V., MissKlang, Robert-Schumann-Chor, Via Musica sowie Bürgerinnen und Bürger der Stadt Halle, Studenten der Sprechwissenschaften, Studenten der Theologie, Gymnastikgruppe Turbine Halle e.V. und der Jugendtheaterclub des Thalia Theaters.

www.thaliatheaterhalle.de

 

Eine andere Gertrud-Inszenierung gab es im Dezember 2007 in Frankfurt/Main, und zwar unter der Regie von Armin Petras.

 

Kritikenrundschau

Respekt aber keine Begeisterung bringt Andreas Hillger der Inszenierung in der Mitteldeutschen Zeitung (online 13.3. 18.37 Uhr) entgegen. Denn bereits die grundsätzliche Regieentscheidung, den Autor Einar Schleef mit Theatermacher Schleef zu verbinden, der das Chorische ja nie an eigenen Texten durchexerzierte, findet Hillger zwar naheliegend aber nicht unproblematisch. Heike Irmerts abstrakte Versuchsanordnung mit 88 Laien nimmt nämlich aus seiner Sicht dem Text eher etwas von seiner Wucht, als ihn zu szenisch zu übersetzen und zu verstärken. Zwar arbeite die Regisseurin "geschickt mit dem Raumklang und mit asymmetrischen Verteilungen der Stimmen, sie ordnet ihre gestisch präzise geführten Chöre zu Querriegeln und Längslinien - und bekämpft die drohende Anmutung eines akustischen Turn- und Sportfestes mit ironischen Brechungen". Für Andreas Hillger werden jedoch ausgerechnet in diesen Momenten der "vorsätzlichen" Schmälerung der Wirkungswucht eine Schwäche erkennbar: denn dieser Abend könne und solle ja überwältigen, "durch die gemeinsame Erfahrung eines gesteigerten Sprechens, das als kollektive Erfahrung in Rausch mündet". Und man müsse sie "in ihrer Unentrinnbarkeit aushalten, um Schleefs erbarmungsloses Mitleiden mit der Kreatur in seiner vollen Wirkung zu erkennen."

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