Wir lachen ganz gutmütig

von Christian Rakow

Rostock, 13. März 2009. Ein schickes offenes Penthouse mit weißem Mobiliar. Weiches Licht fällt auf die Szene. Durch ein Panoramafenster im Hintergrund erblickt man einen finnischen See (oder ist es doch die Mecklenburgische Schweiz?). Er ruht idyllisch wie in einem Urlaubsprospekt.

Das Rostocker Volkstheater hat einen finnischen Schwerpunkt für die aktuelle Spielzeit gewählt, die erste unter Schauspieldirektorin Anu Saari. Und dabei dürfte es wohl nicht nur darum gehen, sich der touristischen Verbundenheit mit dem nordischen Ostseenachbarn zu vergewissern. Denn mit "Fühllosigkeit" präsentiert man an diesem Abend ein eher tristes Familienpsychogramm von 2004 aus der Feder von Pirkko Saisio, die 2003 mit dem bedeutendsten finnischen Literaturpreis, dem Finnlandiapreis ausgezeichnet worden ist.

Abgründe einer Busines-Class-Existenz
Und wie in skandinavischen Psychodramen üblich, zielt der Seeblick denn auch auf mehr als eine sanfte Oberfläche. Er sucht Schwermut, Tiefsinn und Geheimnis – das Stimmungsspektrum des gemütvollen Wasserguckens. Und er gibt ein Versprechen auf Abgründigkeit.

Es wird eingelöst: Seppo, ein Rechtsanwalt in der Midlifecrisis, führt uns gewissermaßen in die Seelilien umrankten Tiefen einer Business-Class-Existenz. Regelmäßig betrügt er seine Gattin Tuula. Seine greise Mutter im Rollstuhl peinigt er als Rache für ihre gestrenge Erziehung. Dem verzärtelten Sohn Marko (Arzt) spannt er schließlich die Verlobte Milva (Fotografin) aus. Dass Seppo dabei lange Zeit glauben muss, mit HIV infiziert zu sein, rundet das Szenario seiner emotionalen Verkrüppelung, seiner "Fühllosigkeit" für alle und jeden, ab.

Seppo ist nicht die einzige Problemfigur. Marko und seine Mutter Tuula verbindet eine ödipale Neigung. Milva und Seppo wiederum leben latent sadistische Phantasien aus. Und Seppos Mutter ist dement – gleichsam um symbolisch zu untermauern, dass hier ein jedes Ich seine Mitmenschen aus dem Blick verliert. Das alles ist, literarisch gesehen, durchaus zuviel des Guten (oder des Schlechten) und wird allein dadurch abgefedert, dass sich die Autorin auf Andeutungen versteht.

Viele Sätze laufen in eine zwielichtige Stille; Szenen reißen bevorzugt mit kleinen Fragezeichen ab. Auch das darf man als Lehre aus dem melancholischen Wassergucken auffassen: Wer auf das Spiel der Wellen stiert, der taucht gewiss nicht ein.

Im Koketten funkeln
Auf ein zu tiefes Eintauchen verzichten an diesem Abend auch die Rostocker Schauspieler unter Führung von Regisseurin Esther Undisz. Etwaige Subtilitäten zwischen den Zeilen lässt man getrost ungeborgen. Stattdessen wird der Text in gleichförmigem Tempo und stets auf Anschluss weggesprochen.

Siegfried Kadow schickt seinen Seppo in einsame Rezitationen und holt ihn auch nicht mehr zurück, wenn es gilt, Begegnungen mit den Anderen auf Brisanz zu testen. "Was aber, wenn der Mensch eine Seele hat?", fragt die Mutter im Rollstuhl (Undine Cornelius). Darauf Seppo: "Das wäre... das wäre wirklich eine Katastrophe."

Die Katastrophe der Seele bleibt auch den Nebenfiguren erspart. Tuula, Seppos Frau (Petra Gorr), kommt gutgelaunt durch jede noch so schmähliche Kränkung. Marko, der Sohn (Marco Matthes), hält sich lange diskret im Hintergrund – bis er in einem kurzen Wutausbruch ein paar Hiebe für den Vater austeilt.

Den Rhythmus variiert ansonsten einzig die Debütantin Lena Zipp. Im Koketten lässt sie ihre Milva funkeln, das Spiel der Verführung gestaltet sie mit Reife. Jedoch vor den Lockungen des routinierten, statischen Einheitsdialogs flüchtet sie sich bisweilen etwas wahllos in theatralische Ausflüge. Die Regie hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf das Einspielen von Vorabendserienmusik verlegt. Zu Easy-Listening plätschert der bizarre Familienreigen dahin. "Wir lachen ganz gutmütig".

Und in die dunklen Strömungen, drunten unter den Wellen des Sees, schauen wir dann beim nächsten Mal.


Fühllosigkeit (DEA)
von Pirkko Saisio
aus dem Finnischen von Angela Plöger
Regie: Esther Undisz, Ausstattung: Ulrike Schlafmann, Musik: Sebastian Undisz.
Mit: Siegfried Kadow, Petra Gorr, Marco Matthes, Undine Cornelius, Lena Zipp.

www.volkstheater-rostock.de


Mehr Finnland in Rostock? Zur Saisoneröffnung inzenierte Katariina Lahti mit einiger Fulminanz Populärmusik aus Vittula von Ilpo Tuomarila – nach dem schwedischen Erfolgsroman von Mikael Niemi, den der schwedisch-iranische Regisseur Reza Bagher 2006 sehr erfolgreich verfilmte.

 

Kritikenrundschau

Juliane Hinz von den Norddeutschen Neuesten Nachrichten (16.3.2009) glaubt, dass das Stück "Fühllosigkeit" der Finnin Pirrko Saisio wie in deren Heimat so auch hierzulande "ein Renner" werden könnte. Es zeige "die großen Probleme – das Älterwerden, Verlust, Eifersucht, Leidenschaft und Liebe" und lasse es "im engen emotionalen Beziehungsgeflecht der Familie" brodeln. "Authentizität und Provokation nehmen die Zuschauer gefangen und ziehen sie in die Handlung hinein." Die einzelnen Szenen wie das gesamte Stück "enden offen und lassen Raum für eigene Schlüsse". "Das Publikum nimmt Siegfried Kadow die Rolle des Seppo in der Midlife-Crisis ab", während Marco Matthes "als verhalten aufbegehrender Jungvogel im Kampf gegen seinen Vater" glänze. Undine Cornelius "als mal verbitterte, mal selige Oma" würze das Stück außerdem "mit einer Reihe komischer Momente".

"Fühllosigkeit" liefere eine Familiengeschichte mit "hahnebüchenem Plot, erzählt in konventioneller Dramaturgie", kritisiert demgegenüber Dietrich Pätzold in der Ostseezeitung (16.3.2009). Bedauerlich sei, dass das Stück "nicht Konflikte und Gestalten auf spannende Weise entwickelt, sondern nur oberflächlich aus Thesen über Sinnkrisen des Lebens zusammenzimmert". "Dialoge um allerletzte Fragen plätschern gehäuft, aber in bedeutungsloser Erlesenheit daher." Angesichts dieser Defizite des Stückes wirft der Rezensent die Frage auf, "ob daraus überhaupt eine interessante Inszenierung zu machen wäre. Regisseurin Esther Undisz hat es versucht. Vielleicht etwas zu artig – aber wahrscheinlich geht es überhaupt nicht."

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