Die Angst des Ersatzmanns bei der Temponummer

15. März 2009. Die Volksbühne spielt umbaubedingt im Kino Babylon, Frank Castorf spielt Supervisor, sein Assistent Andreas Merz spielt Regisseur, die Band Pankow spielt Ostrock, und alle zusammen spielen Hans im Glück. Das Spiel dauert keine 90 Minuten, was Christian Rakow jedoch nicht davon abhielt, einen Auswechselspieler aufzubieten. Hier das Protokoll des Ersatzmanns.

Von Christian Rakow

Der Deal
Anruf von der Ostsee, Dampfer im Hintergrund, vermutlich Warnemünde. Knistern im Telefon: "Moin, Bester." Ich bin verblüfft: "Mensch, Rakow, altes Haus. Long time no hear!" Er darauf: Klar und sorry und na ja. Aber er ist grad in Rostock, und schön ist es da, und gestern hat er eine Nachtkritik geschrieben. Und jetzt müsste er eigentlich wieder in Berlin sein, aber "lass mal kurz machen, weil Handy".

Er also: "Ich schieß es mal raus: Kannste für mich heute Abend in die Volksbühne gehen?" Ich: "Was?"
– Eigentlich ins Babylon nebenan, da spielen die heute.
– Im Babylon?
– Das große Haus wird umgebaut.
(Ich schweig mal flockig.)
– Jedenfalls müsste ich das eigentlich rezensieren. Und jetzt dachte ich, Du …
– Was ich – rezensieren?!
– … kannst da eine flinke Kritik machen. Das ist eigentlich was für Dich.
– Eine Kritik? Ich schreib' Programmtipps!
– Kommt eh hin. Das wird mehr so eine kleine Sache. "Hans im Glück". Und Castorf …
– Der Castorf? Nee, hör mal, ich mach doch nicht Castorf. Den versteh ich gar nicht.
– Ist nicht schlimm. Er hat die Sache vor ein paar Tagen an seinen Assistenten abgegeben: Andreas Merz. Wahrscheinlich wird das mehr so Kleinkunst. Pankow…
(Ich lande meinen ersten Treffer) Die Ostrocker?
– Ja, die spielen ihr Album "Hans im Glück" von 1985.
(Ich hol' mal besser einen Zettel.)
– Da hat ein Typ grad sein Abi und will jetzt irgendwie erfolgreich werden: erst als Beamter, dann als betrügerischer Geschäftsmann, dann als Familienvater. Und das klappt natürlich nicht. Er wird depressiv und Trinker. Schreib irgendwie: "Ottonormalverbraucher auf der Suche nach seiner gesellschaftlichen Rolle". Na, klingt vielleicht zu ostig. Schreib "permanentes Scheitern" und "Viel hat sich mental nicht getan seit 1985". Du wirst das schon machen.
– Und Du meinst, eigentlich kommen da nur Pankow, und die mucken?
– Es gibt bestimmt noch den einen oder anderen Text über den Frust heute. Wenn da was spannend klingt, so nach Scheiß-Ökonomie und wie wir uns alle vermarkten müssen, und du verstehst das nicht so richtig, dann schreib "Einflüsse von Pollesch".
– Und Castorf ist ganz sicher raus?
– Nicht komplett, er nennt sich jetzt Supervisor. Wenn das Ganze gut wird, sagst Du: Schlingensief hat auch mal nur den Produzenten gemacht, damals bei "Kunst und Gemüse".
– Und wenn's mies wird?
– Dann steigst Du ein mit Pankow: "Dir hilft nur eins – die Welt zu sehn beschissen wie sie ist".

Der Abend
Mann, hätte er mal bloß seinen Kritikerfreund vom Musikexpress angerufen! Ein Song nach dem anderen. Die Bühnenshow: "laid-back". "Herren in den besten Jahren". Nee, "Rocker im Anzug". Schwarze Anzüge und roter Samtvorhang. André Herzberg – "ein melancholischer Zauberer", mmm, "seine wasserklare Stimme"? … Mist, wieder eine dieser Temponummern. Neben mir wippen sie. Die Sesselreihen schaukeln. Der hinter mir kennt alle Texte: "Biste was, haste was, haste was biste was" …

Wann kommt der Alexander-Scheer-mäßige Schauspieler mit dem Jägerhut wieder? Der tanzt wie Mick Jagger. Oder die beiden schicken Mädels im Märchenkostüm? "Schneewittchen rockt den Kinosaal." Mal sehen. "Kinosaal mit Kursaalfeeling". Vielleicht geht da eine Brücke? … Oh, wieder die Schauspieler – ein Text, Stift raus, ein Text! Wieder auf dem Sofa vorn;  wieder alle laut und heiser. Dieses Mal nicht Grimms Märchen: Was? Eine Kuh kriegt 600 Euro Abendgage? Schauspielanfänger 150? Also kriegst Du vier Anfänger für eine Kuh? Aber einen Star kriegst du nicht? Der ist locker vier Kühe wert. Super Text. Muss der Pollesch sein …

Das war's
Halt, was schon aus? Wie lang ging’s? Eine gute Stunde? Na, vielleicht eine Stunde zehn. – Applaus, Applaus und Zugabe – "Ich glaub, es gibt das Glück". Klingt ein bisschen wie Gerhard Schöne. Aufschreiben! Kommt bestimmt gut, kommt gelehrt … Ja, hab' ich alles? 90 Prozent Konzert und 10 Prozent Grimm, etwas DT- und BE-Bashing und ein paar U-Bahn-Jokes à la "Wir fahren nach Pankow". Und das Tanzensemble! Die alten Damen, die waren natürlich "knuffig" oder "herzig" – na ja, mal sehen. Krieg ich irgendwo das Wort "ergötzlich" unter? Sonst noch was? Ah, die Moral, Moment, die Moral: "Wer kein Glück hat, hat kein Glück." Gut, wird schon reichen.

 

Hans im Glück
Ein Rockmärchen von Pankow und von Wolfgang Herzberg
Texte von Lothar Trolle, Andreas Merz und Sabrina Zwach
Szenische Einrichtung: Andreas Merz, Supervision: Frank Castorf, Bühne: Edwin Bustamente, Kostüme: Ulrike Köhler, Teresa Tober.
Mit: Pankow – André Herzberg (Gesang, Gitarre), Jürgen Ehle (Gitarre), Stefan Dohanetz (Schlagzeug), Rainer Kirchmann (Keyboard), Moe Jaksch (Bass) – sowie den Schauspielern Andreas Frakowiak, Ana Kavalis, Michael Klobe, Inka Löwendorf, Matthias Rheinheimer und der Berliner Spätlese.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Im Berliner Tagesspiegel (17.3.) schließt Christine Wahl die Märchendramaturgie (immer weniger wird als immer beglückender gefeiert) mit der Tatsache kurz, dass aus einem angekündigten Castorf-Abend am Ende ein Pankow-Konzert mit Zwischenspielen geworden ist, die der vormalige Regieassistent Andreas Merz inszeniert hat, und spottet: "Lange konnte man von keiner Dramaturgie mehr sprechen, die dem Gegenstand ihres Abends so kongenial angemessen gewesen wäre wie diese!" Die Textschnipsel seien zwar "lustig" aber für das "detailgetreue Remake" des Pankow-Programms von vor 25 Jahren konnte sie sich als "Nichtfan" einfach nicht begeistern.

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (17.3.) sieht die Sache ebenfalls ironisch, aber auch im systemischen Zusammenhang: In der Tat seien sich die "Selbstverwirklichungsprobleme von Schulabgängern" in den letzten zwanzig Jahren "ähnlich" geblieben – und seien "im Fall von André Herzberg offenbar noch dringlicher geworden": Da er kein "Rockstar" mehr sei, versuche er sich an diesem Abend in der Rolle des "alternden Narren, der mit seiner Eitelkeit kokettiert". Das könne man zwar auch nicht lange machen. Aber er habe "den Mut und die Selbstgerechtigkeit, sich als ein von den Zeitläufen zurückgelassener, gekränkter Märtyrer, als gefallener Rockstar hinzustellen – und dies gleichzeitig ironisch zu reflektieren." Kein Wunder, dass Frank Castorf dies gefalle. "Auf dieses Gefühl kann man sich für die nächsten zwanzig Jahre eingrooven. 'Als ich mal wieder auf die Fresse flog, als ich mich wieder mal selbst belog, stand ich wieder auf wie 'n Stehaufmann und fing wieder zu suchen an.'"

Für Dirk Pilz (Neue Zürcher Zeitung, 17.3.) sucht die Inszenierung ihr Glück im Provisorium. Und mehr brauche es auch nicht, "denn auf der Kino-Bühne steht eine Band: Pankow. Pankow war einst in der DDR von enormer subversiver Kraft. Vor über zwanzig Jahren brachten sie ihr Album "Hans im Glück" heraus, mit dem sie damals auch an der Volksbühne auftreten wollten. Es wurde verboten, drei Vorstellungen fanden in Schwedt, der brandenburgischen Provinz statt. Jetzt sind die Alt-Rocker wieder da: im Publikum die treuen Fans und zwischen den Songs kleine, überaus heitere Schauspielszenen auf braunem Sofa." Dabeie gehe es um Kapitalismuskritik, die Gage für eine Bühnen-Kuh und um Hans, der unglücklich wird, weil er an das Glücksversprechen des Geldes nicht glaubt. "Für das alte Ost-Publikum ist die Pankow-Show eine schöne Erinnerung, für alle anderen heiteres Kabarett."

 

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