"Gatz" oder die Angst vor der Adaption

von Marianne Strauhs

Wien, 15. Juni 2007. Abgenutzte Wände, Regale voller verstaubter Aktenordner, eine speckige Ledercouch, eine Schreibmaschine und ein Oldschool-Computer – Versatzstücke aus verschiedenen Zeiten und Orten. Zusammengewürfelt ergeben sie ein kleines stickiges Büro und damit auch die Bühne für eine sechseinhalbstündige Leseperformance der New Yorker Theatergruppe Elevator Repair Service (ERS), die im Rahmen der Wiener Festwochen in der Halle G im Museumsquartier zu sehen ist.

Schon seit sieben Jahren beschäftigt sich die Truppe rund um Regisseur John Collins mit dem Roman "The Great Gatsby" von F. Scott Fitzgerald, der von den Roaring Twenties in New York handelt und dem Versuch, eine erste große Liebe wieder zu beleben. Ein kleiner Büroangestellter (Scott Shepherd) betritt die Bühne, will seinen PC anwerfen und ... der streikt. Da ihm nun für den kommenden Arbeitstag die Hände gebunden sind, zieht er ein abgenutztes Exemplar von "The Great Gatsby" hervor und beginnt laut daraus zu lesen.

Die Kollegen trudeln ein. Sie verrichten die ihnen gewohnten Tätigkeiten, ohne auf den laut vorlesenden Angestellten zu achten. Nach und nach steigen sie dann mit in die Romanhandlung ein. Sie sprechen einzelne direkte Reden und spielen Szenen, um zwischendurch wieder in den Arbeitsalltag zurückzukehren. Immer mehr wird so aus Scott Shepherd Nick der Erzähler des Romans. Immer mehr verwandelt sich der Schauspieler Ross Fletcher in die Titelfigur, den Selfmademan Jimmy Gatz, der sich in Fitzgeralds Roman als Jay Gatsby neu erfunden hat.

Lesen ohne zu spielen
ERS haben durch die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Komiker Andy Kaufman, der als erster bei seinen Auftritten den Roman vorlas, ein Interesse an "The Great Gatsby" entwickelt. Die Theaterleute interessierte die Frage, wie man einen Roman auf die Bühne bringen könnte, ohne dass er durch Kürzungen sein Wesen als Prosawerk verliert. Um einer Adaption zur Bühnenfassung aus dem Weg zu gehen, entschieden sie sich für eine Art szenische Lesung, deren Grundlage das Scribner Taschenbuch aus dem Jahre 1995 ist.

Im Laufe der Aufführung, wenn dann auch die Postbotin und der Hausmeister des Büros Rollen aus dem Roman eingenommen haben, wird klar: Mehr wird hier nicht mehr passieren. Die Figuren der Büroangestellten haben keinen weiteren Sinn. Das Büro an und für sich hat auch keinen weiteren Zweck. Es illustriert nichts von der vorgetragenen Handlung. Dadurch, dass die Figuren immer wieder zum Telefonieren, Abtippen, also ihrem Büroralltag zurückkehren, kommt es auch zu keiner sichtbaren Entwicklung der Charaktere auf der Bühne. Vielmehr sind die Passagen des Romans, die mit viel direkter Rede gespickt sind, wie einzeln für sich stehende Szenen, kleine Spots, in deren Aufleuchten der Büroalltag und das Büroinventar (Bühne: Louisa Thompson) durcheinander gebracht wird. Dann erlöschen sie, und der Vorlesende rückt wieder ins Rampenlicht.

Übertitelung als Tücke
Auch zeigt die Wiener Aufführung, welche Tücken dem Verfahren inne wohnen können, einen Roman auf die Bühne zu bringen, ohne ihn dabei für die Bühne zu bearbeiten. Denn die deutschen Übertitel, die einzelne direkte Reden hervorheben, funktionieren wie Zusammenfassungen der Szenen. Mangels avancierter Englischkenntnisse hält sich das Wiener Publikum an diesen Einblendungen fest. Schade, denn so erfährt man durch die Übertitel schon, dass gleich etwas passieren wird, bevor es auf der Bühne tatsächlich geschehen ist.

Dadurch, dass jedes "he said", "he nodded", "she reclaimed" gelesen wird (was laut vorgetragenen Regieanweisungen ähnelt), kommt immer wieder Witz in diese Marathonlesung. Trotzdem kann eine interessante, amüsante Lesung am Ende doch ein ermüdendes Theaterereignis sein. Es kommt auf die Erwartungshaltung an. So ging es vermutlich auch dem Publikum in der ohnehin spärlich besuchten Halle G. Nicht alle Besucher verweilten. Vielleicht haben sich einige fürs Selberlesen entschieden.

 

Kritikenrundschau 

Cornelia Niedermeier im Wiener Standard (16.6.2007) findet die Idee, den Roman mir nichts, dir nichts ungekürzt vorzulesen, charmant und erlebte auch einige zauberische Momente in der Aufführung/Lesung. Aber die meiste Zeit wünschte sie sich einen professionellen Vorleser, der weniger ungezwungen genuschelt hätte. 

Vier Tage später erinnert Ulrich Weinzierl in der Welt (20.6.2007) an den Roaring Twenties-Hype nach der Hollywood-Verfilmung des "Großen Gatsby" mit Mia Farrow und Robert Redford (1974). Und er berichtet, dass Fitzgeralds Erben "unerbittlich" sind. Dramatisierung komme nur in Frage, wenn kommerzieller Erfolg in Sicht ist. Was bei John Collins nicht der Fall war, und so musste sich die Inszenierung mit dem Titel "Gatz" verkleiden und darf nur außerhalb New Yorks und Großbritanniens gezeigt werden. Nach Amsterdam, Brüssel, Zürich und Oslo nun in Wien, wo sie die "Happy Few" begeisterte: "Verführt durch einfachste theatralische Mittel und Tricks sehen wir plötzlich, was wir nicht sehen. (...) Wir verspüren den Zauber der poetischen Sprache – und sind vom Sieg des Unspektakulären über jegliches Spektakel beglückt." 

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