Im Cocktailpartykerker

von Kaa Linder

Zürich, 26. März 2009. "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich", heißt es bei Tolstoj zu Beginn von "Anna Karenina". Das Leitmotiv des 1000-seitigen Gesellschaftsromans aus dem Jahr 1875 nimmt das Ensemble am Theater Neumarkt zum Anlass, den heutigen, hyperindividualisierten Glücksanspruch zu hinterfragen. Gewiss wäre es verführerisch gewesen, die weltberühmte Lovestory in den Fleischwolf zu stecken und hemmungslos zu zerspielen. Regisseurin Barbara Weber beherrscht den Fleischwolf und macht genau das zum Glück nicht. Stattdessen nimmt sie Leo Tolstoj beim Wort und das Publikum drei Stunden lang in die Mangel.

Zunächst geht das ganz locker und bekömmlich. In einen türkisblauen Salon hineingegossen sitzen geschniegelt und leicht gelangweilt die zentralen Gestalten aus Tolstojs Werk. Noch fehlt die Heldin, die begehrenswerteste und radikalste Ehebrecherin der Weltliteratur. Schnell entpuppt sich das Wachfigurenkabinett jedoch als Kleinhölle, als Darja Oblonski (Rahel Hubacher), die brave Vorzeigehausfrau, erfährt, dass ihr Gatte Stepan (Matthias Breitenbach) sie mit der Gouvernante betrügt.

Ein Fluch auf zwei bestrumpften Beinen

Da füllt sich auch schon der Saal mit Rauchschwaden, eine Dampflokomotive pfeift unheilvoll und eine perfekte Anna Karenina (Alicia Aumüller) tritt im modischen Trenchcoat auf. Es ist, als käme ein Fluch auf zwei bestrumpften Beinen durch die Tür, dabei betritt hier eine unglücklich Verheiratete strahlend die erste Station ihres eigenen Leidenswegs. Am Moskauer Bahnhof begegnet sie Wronski (Thiemo Strutzenberger), geht zwei sehnsüchtige Kreise um den ewigen Junggesellen herum, dann ist es um sie geschehen. Die Liebe hat von ihr Besitz ergriffen, und von ihm auch. Schnell ist das erzählt, mit genau der richtigen Dosis Kitsch, um die Mühle der Anbetung in Gang zu bringen. Obwohl wir wissen, dass es nicht klappen wird mit den beiden, wünschen wir uns doch nichts sehnlicher.

Skizzenhaft und präzis, mit sparsamen Referenzen an TV-Soaps zeichnet der erste Teil der Inszenierung die Stadien einer leidenschaftlichen Liaison nach, die sich nicht an die Regeln der Gesellschaft hält. Wie Anna taumelt in ihrem Glück, wie der gehörnte Gatte Alex Karenin (Jörg Koslowsky), diese "ministrelle Maschine", seine Forderungen zwischen den Lippen hervorpresst, wie die Gesellschaft lächelnd beginnt, Anna systematisch auszustoßen. Auf den Nebenschauplätzen buhlt derweil ein ungeschickter Konstantin Lewin (Sigi Terpoorten) um die Gunst der kindlichen Kitty Schtscherbazki (Maria Kwiatkowsky), verkracht sich mit seinem Bruder Nikolai (Thomas Müller), und immer geht es um die Frage, wer das richtige Leben lebt, wer sein Glücksverlangen am besten mit seinen moralischen Verpflichtungen in Einklang bringt.

Als wären wir mit ihnen per du

Im zweiten Teil des Abends zieht sich die Schlinge zu. Flankiert von einer schrecklichen Schickeria leben Anna und Wronski zusammen in Italien. Doch was nach dem Wünschen, nach dem Glück kommt, ist im Fall von Anna Karenina Eifersucht, im Fall von Wronski Überdruss. Das Liebespanorama, das einst so schöne Aussichten bot, ist zum hell erleuchteten Kerker mit Cocktailpartys und Tennisstunden geworden. Das Ende kommt denn auch schnell und fast schmerzlos. Anna geht unter den Zug, Wronski in den Krieg. Fieser geht es kaum.

Barbara Weber und ihr Ensemble bringen das alles nicht belehrend, sondern mit fröhlicher Verzweiflung und unerbittlicher Kraft auf die Bühne. Diese Mischung ist erstaunlich unaufgeregt und nachhaltig berührend. Die Bearbeitung des Romanstoffs gelingt, wo sie den Fokus auf die Figuren und ihre komplexen Beziehungen legt und Menschen sichtbar macht in ihrem streitbar und heftig empfundenen Lebenssinn. Plastisch, als wären wir mit ihnen per du. Dass wir diese zeitlosen Gestalten – gespielt von einem hinreißenden Ensemble – für ihre Sehnsüchte nicht verurteilen, sondern mit ihnen leben und hoffen, scheitern und untergehen, das ist die große Leistung dieses Abends. Die romantische Liebe mag nichts taugen, sich was wünschen hingegen hilft.

 

Anna Karenina
nach dem Roman von Lew Tolstoi
Regie: Barbara Weber, Bühne: Sara Giancane, Kostüme: Madlaina Peer, Musik: Knut Jensen. Mit: Alicia Aumüller, Matthias Breitenbach, Rahel Hubacher, Jörg Koslowsky, Maria Kwiatkowsky, Thomas Müller, Thiemo Strutzenberger, Sigi Terpoorten.

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr zu Anna Karenina: Im Mai 2008 hatte Armin Petras' Bühnenfassung in der Inszenierung von Jan Bosse in Recklinghausen Premiere. Und zu Barbara Weber: Im Juni 2008 hatte bei den Wiener Festwochen ihr Projekt Die Lears nach Shakespeare Premiere.

 

Kritikenrundschau

Barbara Weber arbeite mit den verschiedensten Stilmitteln, um bei ihrer Bühnenfassung von Tolstois "Anna Karenina" am Zürcher Theater Neumarkt die Tragik der Vorlage ironisch zu brechen, schreibt Sabine Schulthess in der Neuen Zürcher Zeitung (28.3.). Freilich lebe "diese trotz aller Komik doch tieftragische Adaptation (…) in erster Linie von den Leistungen der Schauspieler." Alicia Aumüller als Anna zeichne "die Wandlung der arroganten Gesellschaftsdame zur innerlich zerrissenen Frau brillant nach", Thiemo Strutzenberger als Wronski zeichne sich dadurch aus, "dass er den Liebhaber nicht heroischer erscheinen lässt als von Tolstoi intendiert", und Sigi Terpoorten begeistere als melancholischer Lewin. "Auch wenn Barbara Weber in dieser Inszenierung mit einem leisen Augenzwinkern über die theaterästhetischen Erwartungshaltungen lächelt, so hat sie sich trotzdem oder gerade deswegen mit dieser 'Anna Karenina' in die Herzen des Zürcher Publikums gespielt."

Barbara Weber halte sich, was den Text angeht, "genau an die Vorlage", konstatiert Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (28.3.). In der Inszenierung indes wechsele sich Statik "mit Tänzen ab, das Steh-Theater mit dem Kammerspiel: Barbara Weber rhythmisiert das Drama, lässt es swingen zwischen Distanz und Story. Über allem schwebt dieses süsse, zuckersüsse Lächeln der erst verliebten, später verwirrten und schliesslich verlorenen Titelheldin." Wo Tolstoi berühre, zitiere und ironisiere Weber: Selten sei "Schwermut so schwerelos" gewesen, "selten wurde der hohe moralische Ton Tolstois so auf Highheels in Grund und Boden geklackert." Fazit: "Wenn man 'Anna Karenina' denn unbedingt auf die Bühne bringen muss – was auch dieser Abend nicht beweist –, dann so."

 

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