Wer spricht, übt Herrschaft aus

von Esther Slevogt

Berlin, 2. April 2009. Der Bühnenvorhang ist natürlich das Beste. Großflächig mit Blümchenmuster bedruckt wird seine miefige Grundausstrahlung ironisch durch tausende Strasssteine überhöht, die im Scheinwerferlicht funkeln. Eine Mischung aus Vorstadtvaudeville und Omas Küchentischdecke, wo selbst noch die härtesten Jungs schwach werden und bei einer Tasse Schokolade um den untergegangenen Kommunismus wie um eine verflossene Geliebte trauern.

Harte Jungs wie der Theoretiker der Playmobil-Generation Dietmar Dath zum Beispiel, dessen kommunistisches Manifest "Maschinenwinter" eine Säule war, auf der der neue Abend von René Pollesch "Ein Chor irrt sich gewaltig" zu stehen versuchte, mit dem gestern Abend in Berlin der Prater nach langer Renovierungspause wiedereröffnet wurde.

Säule Nummer zwei ist ein französischer Filmklassiker aus den 70er Jahren, Yves Roberts aberwitzige Komödie "Ein Elefant irrt sich gewaltig", in dem es um einen braven, verheiraten Mittelständler geht, der versucht, einen Seitensprung zu begehen, wobei er theoretische wie praktische Unterstützung durch drei Freunde erfährt, die ihrerseits ziemliche Schürzenjäger sind.

Wechselnde Liebhaber, französische Sprachübungen

Gleich mit der ersten Szene zitiert Pollesch auch aus diesem Film, als nämlich der Schlimmste von ihnen, Bouly, nach Hause kommt und feststellt, dass seine Frau ihn verlassen und im Zuge dessen auch die gemeinsame Wohnung ausgeräumt hat. Im Prater ist Bouly eine Frau, Sophie Rois nämlich, die in einer schwarzen Robe aus dem 19. Jahrhundert schnarrend und höchst extemporiert die Ruinierte bzw. den Ruinierten mimt. Sekundiert von einem albernen französelnden Herrn im Morgenmantel (Jean Chaize) und Brigitte Cuvelier, die die Verlustliste ("Die Récamière!", der "Louis-Seize!") zu verzweifelten kleinen französischen Sprachübungen nutzt.

Sophie Rois, die wirklich maßgebliche Säule dieses Abends, verkörpert auch noch die anderen Schürzenjäger: Simon, den Arzt zum Beispiel, der ständig in der Double-Bind-Falle einer übermächtigen Mutter hockt. Wobei der Film inhaltlich mit dem Pollesch-Abend trotzdem soviel zu tun haben dürfte, wie der Elefant in dessen Titel mit dem Filmplot. Nämlich gar nichts. Außer vielleicht, dass er sich manches bei Yves Robert hintergründigem Slapstick abgeschaut hat, was den Abend dann auch insgesamt ganz vergnüglich machte.

Teil des Herrschaftssystems

Ansonsten es ist wie immer: die ganzen Repräsentationsverabredungen, die aus Theater Theater machen, werden zum Blödsinn erklärt, in dessen Kontext es auch keine Rolle spielt, ob Sophie Rois auf der Bühne nun behauptet, ein Mann oder eine Frau zu sein. Oder ob ihre wechselnden Liebhaber in Wahrheit ein Chor aus jungen Frauen ist, die in wallenden, aus bunten afrikanischen Stoffen geschneiderten Belle-Epoque-Gewändern mal drängend, mal zurückweichend auftreten. Klar ist hier bloß eins: wer überhaupt schon die Bühne betritt und sprechen kann, ist Teil des Herrschaftssystems.

"Solange deine Hämorrhoiden keinen Stift halten können, sind sie in der Opposition", heißt es einmal dietmar-dath-dialektisch. Weshalb es natürlich auch Quatsch ist, wenn ein Chor im Theater im Namen des unterdrückten Volkes spricht. Denn wer überhaupt spricht, übt bereits Herrschaft aus. Weswegen eben jeder gewaltig irrt, der denkt, dass er für Sprachlose sprechen kann, wie es ja schon der lehrsatzhafte Titel des Abends propagiert.

Angesteckt vom Agitprop-Virus

Womit dies der wahrscheinlich erste Polleschabend mit einer echten Botschaft ist. Ob da nicht auch Pollesch gewaltig irrt und er am Ende selbst vom Agitprop-Virus angesteckt worden ist, gegen den er hier mit den verblassenden Mitteln seines eigenen Theaters argumentiert?

Damit auch jeder verstehen konnte, wer hier konkret gemeint ist, hatte Pollesch in einem Interview zuvor den Namen Volker Lösch ins Spiel gebracht, der ja in seinen Aufführungen gerne authentisches Volk chorisch als Sprecher der Erniedrigten und Beleidigten auftreten lässt und gegen den Pollesch hier angeblich theatermäßig polemisierte, weshalb nun die derart konditionierten Kritiker unentwegt versuchten, die Lösch-Anspielungen zu entziffern. Dabei kann Lösch der postdramatischen Logik des Pollesch-Theaters zufolge auf dem Theater ebenso wenig Lösch sein, wie Sophie Rois Sally, Bouly oder irgendeine andere Figur. Oder der Frauenchor, der mal als Lucien, dann wieder als Paul oder Michael angesprochen wird, ein einzelner Mann. Was alle zusammen natürlich nicht davon abhält, höchst dekorativ und ziemlich lustig zu sein.

Du sollst keinen anderen Pollesch haben neben mir

Es geht also irgendwie um politisches Theater und Kapitalismuskritik an diesem Abend. Um die Frage von Grenzen zwischen Politik und Kunst. Ob in Dosen verpackte Künstlerscheiße beispielsweise Kunst oder Scheiße ist. Und darum, wie man die immer länger werdende Zeit ohne Kommunismus und ohne Liebe überbrücken soll. Seufz, denkt da die Kritikerin, die ansonsten nicht so recht den Durchblick gewann, sich aber trotzdem ganz gut amüsierte.

Die manchmal allerdings einen leicht oberlehrerhaften Ton durch den Abend dringen hörte, der etwa folgendes besagt: es gibt nur einen, der wirklich authentisch und diskurstechnisch-korrektes politisches Theater macht. Du sollst keinen anderen Pollesch haben neben mir. Ein kleiner Höhepunkt ist außerdem Sophie Rois' Karaoke-Vortrag eines Gilbert-Bécaud-Hits von 1964: Nathalie – die Geschichte eines Franzosen, der sich auf dem Roten Platz in Moskau in seine russische Fremdenführerin verliebt und man gleich hinter dem Lenin-Mausoleum (und nach den hohlen Phrasen über die Oktoberrevolution) zum Eigentlichen, nämlich der Liebe kommt, ganz ohne Chor und Kommunismus: ja, denkt man da, sie lebe, die französische Revolution.

 

Ein Chor irrt sich gewaltig, UA
nach dem Film "Un éléphant ça trompe énormément"
Text und Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Chorleitung: Christine Groß. Mit: Sophie Rois, Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, Christine Groß. Und dem Chor: Claudia A. Daiber, Jana Hampel, Lisa Hrdina, Anna Kubelik, Maria Löcker, Silvana Schneider, Nele Stuhler, Lisa Wenzel.

www.volksbuehne-berlin.de


Mehr lesen? Der letzte Pollesch ging im Februar 2009 als Ping Pong d'Amour über die Bühne der Münchner Kammerspiele. Ebenfalls im Februar brachte Martin Laberenz Dietmar Daths Maschinenwinter in Leipzig höchstselbst auf die Bühne.

 

Kritikenrundschau

Zwar fühlte sich Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (4.4.2009) beim Stück selbst unentwegt an DDR-Pioniernachmittage erinnert – "da wurde auch immer unterstellt, dass verblendet ist, wer die eine, unumstößliche DDR-Wahrheit nicht anerkennt, zum Beispiel die Wahrheit, dass der Kapitalismus bös und der DDR-Sozialismus gut ist" – so sendungsbewußt tritt dieser Abend aus seiner Sicht mit seinen gefühlten Verblendungszusammenhängen in Sachen Liebe und Kapitalismusakritik diesmal auf. Doch zum Kritikerglück von Dirk Pilz "ist der Regisseur Pollesch klüger als der Autor Pollesch". Denn "während der Autor uns unentwegt pionierleitermäßig belehrt, wie das mit dem Leben und der Liebe und dem Kapitalismus eigentlich ist, nimmt der Regisseur diese Besserwisserei als Comedy". So komme es, dass der Text dann auf der Bühne die herrlichsten Komödienfunken schlage.


Der Abend passe perfekt in diesen morbiden Schuppen, befindet Peter Hans Göpfert in der Berliner Morgenpost (4.4.2009) über René Polleschs Eröffnungsstück im renovierten Prater. "Vielleicht hat Pollesch ja etwas viel Dietmar Dath und Boris Groys gelesen. Aber das dort verdaute kapitalismuskritische Material wird zur Schwemmmasse zwischen durchgeknallten und quasselnden Lustspielgestalten. Wir erhalten Einsichten in die Relationen von Sex und Kapital oder den Zusammenhang von Croissants und einer Sprinkleranlage. Das Ergebnis ist ein verrückter Nonsens-Schwank."


Von einem "vollkommen sinnfreien Lust- und Frustspiel", einer "hauptstädtischen Vorstadtklamotte" spricht Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (4.4.2009). Bemerkenswert findet er "an dieser philosophischen Soap-Opera mit Opern-Karaoke und französischen Uralt-Hits in Endlosschleifen" jedoch zweierlei: dass Pollesch die reine Komödienmechanik präsentiert und seziert, und das Stück das Stück dabei mehr die Funktion eines Bauplans als seiner Ausführung erfüllt. Und dass er es tatsächlich schafft, "in knapp siebzig Minuten sein Hysterie-Prinzip 'Alles ist schon gesagt, aber noch nicht von jedem, und auch noch nicht oft genug' vollkommen ad absurdum zu führen." Für Schaper ein "Theaterabend wie ein Croissant: schmeckt süß und knusprig und ist doch am Ende bloß dünner Teig und gebackene Luft. Sehr zu empfehlen."

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (7.4.2009): René Polleschs Theater gehorche auch diesmal nicht "dem ewigen Wunsch des Marktes nach Abwechslung". Wie gewohnt drehten Pollesch und seine Schauspieler eine Runde mit der Diskurs-Mischmaschine, "die wieder mal sehr lustig die Freuden des Boulevards mit Theoriesplittern von Dietmar Dath bis Agamben und Boris Groys" kurzschließe. Weil sie "zwischen französischen Schlagern, Boulevard-Versatzstücken von möchtegern-ehebrechenden Spießern und den Eiswüsten der Abstraktion so unvermittelt, aufgedreht und lässig" hin und her springe. Zu Polleschs Liebe zum Boulevard passe der Umbau des Praters zu einer "Bude für frivoles Hau-drauf-Entertainment". Auch wenn das Theater "des Theoriesurfers Pollesch" mit Vorliebe "bürgerliche Subjektpositionen" und die "Repräsentations-Muster des Theaters" konterkariere, komme es nicht ohne Menschen auf der Bühne aus. Die spielten "gleichzeitig sich selbst, schnell angerissene Komödienfiguren, Theoriebaustein-Lieferanten eines hippen Berlin-Mitte-Antikapitalismus-Radical-Chic und lauter abgelebte Diva-Posen samt ihrer aufgekratzten Travestie". Das sei so "sinnfrei wie entzückend". Und einfach "hinreißend" im Falle von Sophie Rois, die dieses Spiel mit "bestenfalls lose verknüpften Sprecher-Positionen zwischen Diva, Sozialrevolutionärin und Boulevard-Knallcharge" beherrsche.

Etwas nerve bei allem Spaß, den dieser Abend mache, aber doch, schreibt Eva Behrendt in der Tageszeitung Die Welt (9.4.2009) "Vielleicht ist es der Gestus des Besserwissers, den das unermüdliche Entlarven vermeintlicher Gewissheiten (des ultimativen Wertes der Liebe, der Autonomie des Künstler, des bösen Kapitalismus und der guten Chöre usw.) beinahe zwangsläufig mit sich bringt. Apropos: Setzt nicht die Komplexität dieses Theaters jede Menge Deutungsfreude und Bildungslust voraus? Das sind, wenn nicht alles täuscht, am Ende doch ziemlich bürgerliche Tugenden."

 

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