Das Problem der deutschen Kaiser

von Dirk Pilz

Berlin, 18. Juni 2007. Braun gebrannt, hell karierter Anzug. Frank Castorf kommt gut gelaunt zum Interview in sein berühmtes Intendanten-Zimmer, wo noch immer das berüchtigte Stalin-Bild hängt. Eigentlich müsste er Weiß tragen. Denn Castorf, der 55-Jährige, ist "Teil einer Gemeinschaft", wie er sagt, Teil der Gemeinschaft der Santeria, jener auf Kuba praktizierten und mit dem brasilianischen Candomblé verwandten Religion.

Das Weiß ist die Symbolfarbe des obersten Santeria-Gottes Obatala, das Zugehörigkeitssignal zu dieser spiritistischen Religion. Santeria und Candomblé – das ist ganzheitlicher Glaube an Götter, Orixas, die sich der Menschen als Medien bedienen. Trance-Tänze, Tieropferungen, Trommelorgien sind seine äußeren Zeichen.

Sich auf das Unbeherrschbare einlassen

Frank Castorf kommt aus Ost-Berlin, war in Senftenberg Dramaturg, arbeitete in Anklam und Karl-Marx-Stadt. "Natürlich stand ich dem am Anfang auch arrogant gegenüber." Die Arroganz hätten ihm die Priester zwar ausgetrieben, aber "richtig dazugehören" werde er nie: "Ich bleibe Deutscher. Und ich bleibe auch Skeptizist." Dennoch sei die Erfahrung wichtig gewesen, die Erfahrung, "sich auf etwas, das man nicht beherrschen kann, mit Würde einzulassen."

Bereits 1990 war Castorf das erste Mal in Brasilien, auf Gastspielreise mit seiner Münchner Inszenierung "Miß Sara Sampson"; später ist er in Kuba der Santeria begegnet und hat in Brasilien an Candomblé-Sitzungen teilgenommen. Seitdem lassen ihn Lateinamerika, die Mentalität, Candomblé und Santeria offenbar nicht mehr los. Er spricht von der "Sehnsucht nach Amazonas", von der "Droge" Lateinamerika. Kenner wie der Dramaturg Matthias Pees sahen deren Wirkung schon Mitte der Neunziger in seinen Inszenierungen, in den "Nibelungen" (1994) etwa. Dennoch hat es Jahre gedauert, bis er seine erste Inszenierung in Brasilien gestemmt hat.

"Schwarzer Engel von Nelson Rodrigues mit der Erinnerung an eine Revolution: Der Auftrag von Heiner Müller" heißt jener Abend, der letztes Jahr im November in Sao Paulo Premiere hatte und ab kommenden Samstag beim Hannoveraner Festival Theaterformen zu sehen sein wird. Eine Inszenierung, der die Hauptdarstellerin Denise Assuncao als praktizierende Candomblé-Gläubige "ihre Würde", die "Anarchie" und die "Energie" der Götter zur Verfügung gestellt habe. Der Candomblé als ästhetisches Mittel. Castorf hat den Spiritismus in den Castorf-Kosmos geholt. Widerspruchsfreier ist er damit nicht geworden.

Staub, Mehl, Blut – und die Möglichkeit der Revolution

Es ist eine seltsame Mischung aus Distanz und Faszination, mit der Castorf über Brasilien, den Candomblé, seine lateinamerikanischen Erfahrungen spricht. "Wir sind zu diesen Empfindungen nicht fähig, ich auch nicht. Wenn ich bei diesen Sitzungen bin und mich den Riten ausliefere, komme ich mir manchmal wie in einer schlechten Inszenierung von mir vor. Staub, Mehl, Blut. Und trotzdem ist da eine ungeheure Zuchtmeisterei durch meinen Priester, vor dem ich großen Respekt habe. Im dortigen kulturellen Umfeld. Hier wäre das lächerlich." Dennoch, Castorf redet von "Demut als körperlichem Akt", von den Orixas wie Freunden und den Candomblé-Sitzungen als Befreiungserlebnissen: "In diesem Moment veränderst du dich zu einem anderen Menschen."

Das Andere, das Fremde. In Brasilien findet der Noch-Immer-Intendant wieder eine Reibungsfläche. "Dort gibt es wenigstens den Versuch, den Gedanken an die Möglichkeit einer Revolution zuzulassen, an eine Revolution, die den Blick jenseits unserer westlichen Demokratie öffnet." Lateinamerika als "Vitaminspritze" für den Widerstandsgeist. Der Kontinent erinnere ihn "an die alten Vitalitätsquellen, aus denen wir die Energie in Anklam oder den ersten Jahren an der Volksbühne gezogen haben."

Eine radikale Dialektik, die er damit bedient. Die Skepsis gegenüber dem Westen ("Das ist das Problem des Westens: dass wir an die Individualität glauben und nicht mehr wissen, dass man anders eingemeindet ist.") erhebt das Andere, Fremde zur "Hoffnung auf Vitalität".

Wenn Castorf durch Prenzlauer Berg geht, spüre er nur noch "große Erschöpfung", laufe er durch Sao Paulo, könne man zwar "genauso schnell Freunde wie das Messer finden", spüre allerdings auch eine widerständige Energie. Darin stecke "Hoffnung", die Hoffnung auf ein "anderes Denken". Castorf denkt dabei auch an die Volksbühne, seine Volksbühne. Ja, es sei schon richtig, er habe sich zu wenig um das Haus gekümmert. Keine einzige Premiere von ihm kam seit einem Jahr in Berlin heraus, sondern in Luxemburg ("Meistersinger"), in Wien ("Nord"), in Sao Paulo. Kein einziger Regisseur außer René Pollesch arbeitet kontinuierlich neben ihm.

Mit "Tosca" kommt – die Zärtlichkeit?

Den Intendanten Castorf hat es nicht mehr gegeben, dafür den Außenpolitiker und Marketingexperten in eigener Sache: "An so einem Haus hat man das Problem der deutschen Kaiser: Entweder ich kümmere mich um die Außenpolitik oder um die Fürsten im eigenen Land." Mit dem Reich der Fürsten ist vor allem die inzwischen verwaiste Dramaturgie-Abteilung gemeint: Der einstige Chefdenker Carl Hegemann ist Professor geworden, Stefanie Carp verlässt das Haus nach nur zwei Jahren. Castorf macht wieder Innenpolitik. Sagt er. Aus dem Haus hört man dagegen auch Stimmen, die behaupten, er habe trotz Abwesenheit das Heft nie aus der Hand gegeben. "Fürsten" hat es keine gegeben, aber eine Sinnkrise an der Volksbühne. Erschöpfung ist auch hierfür das Stichwort.

Und jetzt soll laut Castorf die Volksbühne noch einmal neu erfunden werden. Diesmal aus dem Geist der Musik und den harschen Denkmodellen von "harten Stücken": Castorf wird in der kommenden Spielzeit "Die Maßnahme" von Bert Brecht und Hanns Eisler inszenieren. Daneben wird es Kurzopern, sämtliche Beethoven-Sonaten und eine "Tosca"-Variante (inszeniert von Sebastian Baumgarten) geben. Beethoven, Brecht – die "Phase mit Dostojewski" erklärt Castorf für beendet. Sie sei wichtig gewesen, "aber es ist nicht die Antwort, die ich brauche, um mich zu entäußern". Dafür braucht Castorf den Candomblé. In Zukunft soll er auch die Volksbühne mit neuer Energie beseelen.

Die Zitate entstammen einem gemeinsam mit Friedhelm Teicke geführten Interview mit Frank Castorf, das am 20. Juni 2007 im Hauptstadtmagazin zitty erschienen ist.

 

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