Die Höhle vor der Stadt ... - Johannes Schmit zerzaust Tine Rahel Völckers Verweigerungsdrama
Mit dem Kopf durch die Platte
von Ralph Gambihler
Leipzig, 8. April 2009. Wer fröhlich zustimmt, wenn Aussteigen als hoffnungslose Form der Romantik abgetan wird, der hat es nicht ganz leicht mit diesem Stück. Denn es konterkariert das Thema Aussteigen und Sich-Verweigern mit der Lebenswelt Plattenbau, einem Ort also, dem das Stigma des gesellschaftlichen Abstiegs anhängt. Statt blau umtoster Inseln und sonstiger Stereotype aus dem Glückskatalog der Weltflucht gibt es architektonische Tristesse und soziale Härte. Romantisch ist dieser Abschied aus dem privilegierten Leben, den die junge Berliner Dramatikerin Tine Rahel Völcker in "Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen" durchspielt, allenfalls für Betonliebhaber und Freunde des sozialen Selbstexperiments.
Utopie vom Zusammenleben
Die beiden Hauptfiguren, zwei liierte Akademiker um die 30, haben von beidem etwas. Holm ist Architekt, plant aber keine Häuser mehr. Mit den ästhetischen Auftrumpfungen der Postmoderne will er nichts zu tun haben. Im Plattenbau sieht er eine utopische Form des Zusammenlebens, wobei er sich aber nichts vormacht. "Die Platte - natürlich war das ne Zumutung. Ist es immer noch. Ist doch gut. Ist doch gut gefordert zu werden. Muss man sich halt mal anstrengen, dass das Zusammenleben klappt. Wenn die Wände so dünn sind!", sagt Holm, der Realo unter den Aussteigern.
Für seine Freundin, die Junghistorikerin Johanna, ist das Leben am sozialen Rand eine Chance zum ungestörten Brüten. Das glaubt sie zumindest. Eine Arbeit über Hitler will sie schreiben, ein richtig großes Ding abseits von den Trampelpfaden der Erinnerungskultur. Allerdings klemmt es dann doch bei der Umsetzung. Dafür sieht Johanna in jedem Nachbarn einen Nazi und fantasiert sich in eine Rolle als antifaschistische Widerstandskämpferin hinein. Keine günstigen Voraussetzungen für eine glückliche Beziehung in prekären Umständen.
Depression und deutscher Separatismus
Tilman Köhler brachte dieses Drama über Liebe, Idealismus und Verweigerung vor zwei Jahren in Weimar schnörkellos und prägnant zur Uraufführung. Nun gibt es in der Skala, der kleinen Spielstätte am Centraltheater Leipzig, eine kokette Variation. Wunderbar schwankend und kräftig pochend ist dieser gut zweistündige Abend, der seine Themen und Figuren elipsenhaft zu umkreisen scheint.
Die Kulisse von Daniela Petrozzi verhehlt, dass die Steine dieser utopistisch angelegten Paarexistenz bald zu tanzen beginnen. Sie zeigt eine streng realistische Zweieinhalb-Zimmer-Ödnis mit schäbigem Sofa, schäbigem Esstisch und schäbiger Matratze, deren ganze Sinnlichkeit sich links, im unmöblierten Zimmer, auf einer kitschigen Fototapete konzentriert, Motiv sonnendurchfluteter Wald. Hier schmeichelt fast nichts dem Auge. Schöner Wohnen ist anderswo.
Es ist dies die postsozialistische Welt des Rückzugs-Ideologen Holm, der mit dem Kopf durch die Platte des Verzichts will. In Trainingshose und Unterhemd privatisiert er munter vor sich hin, ein verspäteter Arbeiter-und-Bauern-Mensch, der seinen scharfen Verstand in die Waagschale Nonkonformismus wirft. Wenn er aus voller Kehle "Nie wieder Glas! Nie wieder Faschismus!" aus dem Fenster brüllt, um seine Freundin mit dem "Hitlergesicht" ein wenig aufzuheitern und ironisch davon zu überzeugen, dass die Nazis vor der Tür nur harmlose Alkoholiker sind, dann schreit er auch gegen die Depression an, die sich in seinem eigenen Wesen allmählich festsetzt.
Schwankende Böden des Idealismus
Dass die Liebe unter einem solchen Separatismus leidet, ist absehbar. Die Regie bricht nun aber die Psychologie des Stücks und damit seine diskursive Schwere, indem sie eine zweite Flucht inszeniert. Es ist wie ein irritierend ansteckender Wahn, wenn Johanna und ihre Sympathisanten Fritz (Sebastian Sommerfeld) und Alexander (Manolo Bertling) plötzlich aufblühen, wenn sie wie die glücklichsten Menschen vor sich hin paffen, wenn sie rasenden Unfug treiben, wenn sie also ins Leben ausbrechen, derweil sich Holm von Chantal verführen lässt, die verfremdet als Puppe aus Styropor und Schaumstoff erscheint.
Mit anderen Worten: Der Theaterregisseur Johannes Schmit hat Tine Rahel Völckers Weltfluchtdrama liebevoll zerzaust, mit Witz, Klugheit und einigem Sinn für die schwankenden Böden des Idealismus. Die Darsteller füllen den Raum, den ihnen die Regie lässt, mit Leben, allen voran Paul Matzke, der als kerniger Verweigerer Holm seine Bühnenpartnerin Melanie Schmidli überstrahlt.
P.S.: Der Abend ist ein künstlerischer Erfolg, und er ist es gerade auch für die Skala. Die kann ihn gut brauchen nach all den Anlaufschwierigkeiten, die das hoch ambitionierte und zunächst völlig offene Spielstätten-Konzept in den ersten Wochen und Monaten der Intendanz von Sebastian Hartmann machte. Die kleine Bühne soll und will kein Anhängsel des großen Hauses sein, spätestens mit dieser Arbeit hat sie einen eigenen Ton gefunden.
Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen
von Tine Rahel Völcker
Regie: Johannes Schmit, Bühne und Kostüme: Daniela Petrozzi. Mit: Manolo Bertling, Paul Matzke, Melanie Schmidli, Sebastian Sommerfeld.
www.centraltheater-leipzig.de
Mehr aus der Skala? Im Februar 2009 inszenierte Martin Laberenz Maschinenwinter nach dem gleichnamigen Buch von Dietmar Dath.
Kritikenrundschau
Für Nina May von der Leipziger Volkszeitung (11. 4.) besteht die große Stärke der Inszenierung darin, dass sich Regisseur Johannes Schmit nicht zwischen all den verschiedenen Aspekten und Motiven des Stückes verliert, auch das Politischer zurückfahre und stattdessen stark Zwischenmenschliche betone. In diesem Kontext findet sie besonders das Zusammenspiel zwischen Peter Matzke als Holm und Melanie Schmidli als Johanna grandios. Vieles an diesem Abend bleibt der Kritikerin trotzdem unverständlich, zum Beispiel "warum Sommerfeld als Fritz, Johannas stiller Verehrer, sich plötzlich mit roter Farbe beschmieren und einen Nagel durch einen aufgeschnallten Dildo treiben muss." Auch insgesamt stellt sich durch das Aufdrehen der Spielweise ins Grotesk-Überdrehte im zweiten Teil des Abends für sie angesichts dieser "fröhlichen Utopie-Entzauberung" kein rechtes Aha-Erlebnis ein.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 09. Juni 2023 Chemnitz verlängert Spartenleiter:innen-Verträge
- 08. Juni 2023 Wien: Theater Drachengasse vergibt Nachwuchspreis
- 07. Juni 2023 Stadt Wien erhöht Etat 2023 für Kultur und Wissenschaft
- 07. Juni 2023 Max-Reinhardt-Seminar Wien: Maria Happel tritt zurück
- 06. Juni 2023 Thüringen: Residenzprogramm für Freie Darstellende Künste
- 05. Juni 2023 Stralsund: Lesbisches Paar des Theaters verwiesen
- 05. Juni 2023 Tarifeinigung für NV Bühne-Beschäftigte