Transit Tel Aviv

von Ulrike Gondorf

Köln, 24. April 2009. Die Koffer sind schon da. Die Reisenden noch nicht Sicht (Sonst ist es doch immer umgekehrt!). Nach einer ganzen Weile nähert sich eine Frau dem Gepäckband, und während sie noch sucht und räumt, kommt ein Mann dazu, dunkel gekleidet, mit Hut und Schläfenlocken. Wie sie sich ausweichen und mit Blicken abtasten, wird sofort klar: zwischen den beiden liegt eine Geschichte in der Luft, und weil wir im Theater sind, werden wir sie gleich erfahren.

Der lettische Regisseur Alvis Hermanis sucht nach neuen Theaterformen an der Schnittstelle zwischen Epik und Dramatik. Der Übergang vom Erzählen zum Spielen, von der Schilderung zur Verwandlung ist ein Moment, den er mit seinen Schauspielern immer neu erkunden und gestalten will. In Köln hat er das bereits einmal sehr erfolgreich erprobt mit dem Abend Kölner Affäre, in dem sich die Schauspieler in die Biographien von Menschen hinein begeben, die sie mehr oder weniger zufällig in der Stadt kennen gelernt haben. Nun sind es vier Geschichten des jüdisch-amerikanischen Autors Isaac Bashevis Singer, die den Stoff für seine neue Recherche abgeben.

Der letzte Zeuge

Singer, der 1978 den Literaturnobelpreis erhalten hat, war der letzte literarische Zeuge ostjüdischen Lebens, wie es sich vor seiner Auslöschung durch die Nazis im "Stetl", in den kleinen Gemeinden auf dem Land zwischen Polen, Russland und der Ukraine abgespielt hat. Auch in den USA, wo er seit den 30er Jahren gelebt hat und 1991 gestorben ist, hat Singer seine Texte zunächst auf jiddisch geschrieben. Seine (auch verfilmte) Geschichte von Yentl, dem Mädchen, das Rabbi werden möchte, ist das wohl bekannteste Beispiel. In diese Welt führt der Abend "Die Geheimnisse der Kabbala".

Der Mann und die Frau am Airport treffen sich in Tel Aviv, Jahrzehnte nach den Greueln, die sie knapp überlebt haben. Der Mann beginnt, aus seiner Vergangenheit zu erzählen, die Frau mischt sich ein, weitere Personen, die am Gepäckband ankommen, fädeln sich ein in diesen kollektiven Erinnerungsprozess. Immer sind es Geschichten, die um die Macht der Phantasie, der Bücher, des Erzählens kreisen. Wie auf der Flucht gerettete Habseligkeiten packen die Menschen ihre Erinnerungen aus, erwachen auf der Reise in die Vergangenheit wieder zum Leben.

Alles nur Halluzination?

"Gimpel, der Narr" zum Beispiel, von Martin Reinke mit kindlicher Weisheit und unverwüstlichem Talent zum Glücklichsein ausgestattet, eine leuchtende Figur. Seine Gutgläubigkeit macht ihn zum Gespött des Dorfes, seine Frau betrügt ihn, aber selbst wenn er den Liebhaber in ihrem Bett findet, hält er es für möglich, dass das nur eine Halluzination ist. Und lebt zufrieden weiter in seiner Wirklichkeit, in der das Böse nicht existiert, weil er ihm keinen Raum gibt.

Solche Menschen, ungewöhnlich, rätselhaft und kraftvoll, sind natürlich großartige Gegenstände für den Prozess der Annäherung und Identifikation, den Hermanis und seine Darsteller Ilknur Bahadir, Markus John, Anja Lais und Martin Reinke spannend und facettenreich entwickeln. Der Abend ist schauspielerisch unbedingt sehenswert. Es gibt auch Bilder, die starke assoziative Verbindungen herstellen zum Thema, die sich vielleicht nicht unbedingt logisch aufschlüsseln lassen, aber emotionale Kräfte freisetzen. Die ganze Bühnensituation mit den Koffern gehört dazu, die immer die Gedanken von Flucht und Lager mitschwingen lässt; beklemmend, wenn gegen Ende Tücher mit hebräischen Schriftzügen über die Koffer gebreitet werden und man plötzlich einen jüdischen Friedhof zu sehen glaubt.

Pittoreske Sonderfälle

Es ist jedoch schade, dass Hermanis diese Qualitäten, die im Kopf des Zuschauers entstehen, dadurch schmälert, dass er in exzessiver und eigentlich unverständlicher Weise plakative Theatermittel einsetzt: der Abend ist eine wahre Orgie von Kippas und Pelzmützen, Gebetsschals, Schläfenlocken und Rauschebärten: schwarzen, roten, weißen, die sich die Schauspieler diskret mit dem Rücken zum Publikum abwechselnd ankleben. Ginge es um die 300. Tourneeaufführung von "Anatevka", es könnte nicht schlimmer sein.

Damit verdeckt Hermanis, was er doch eigentlich zeigen will und was seine Darsteller hervorragend offen legen können: den Weg des Schauspielers in die Figur. Und er macht die Geschichten von Singer, die da, wo sie stark sind, über Menschen sprechen und nicht über Juden, zu pittoresken Sonderfällen eines exotischen Milieus. Und damit unzulässig klein. Denn wie sagte doch der weise Gimpel? "Es widerfährt dem einen, wofern es dem anderen nicht widerfährt, morgen, wofern nicht heute, oder ein Jahrhundert später, wofern nicht im nächsten Jahr. Was macht das schon aus?"

 

Die Geheimnisse der Kabbala
von Isaac Bashevis Singer
Regie: Alvis Hermanis, Bühne und Kostüme: Monika Pormale. Mit: Ilknur Bahadir, Markus John, Anja Lais, Martin Reinke.

www.schauspielkoeln.de


Mehr lesen? Im November 2007 war in Berlin The Sound of Silence zu sehen, Alvis Hermanis' Beschwörung eines Gastspiels von Simon & Garfunkel 1968 in Riga, das nie stattgefunden hat. Im April 2008 war in der Kölner Halle Kalk Hermanis' Kölner Affäre zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Vier Geschichten von Isaac Bashevis Singer wurden für diese Inszenierung zusammengefasst, wobei für Singer "die Geschichte selbst die Botschaft" ist. "Ähnliches gilt", schreibt Andreas Wilink in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (26.4.), "für den Monteur und Regisseur Alvis Hermanis, dessen Theater der Wirklichkeit das Allgemein-Menschliche zu Material schichtet." Singers "gleichnishafte Tatsachenberichte" sind "schlicht, doch von zweideutigem Wesen". Und wenn es aus ihnen eine Lehre gebe, "dann die, dass der Mensch nicht nach den Regeln der Vernunft lebt". Dieses "Reflektiert-Naive von Singer" setzt Hermanis fort, "auf eine gekünstelte, leicht überdramatisierte Weise, stets eine Spur zu ostentativ, dabei zärtlich grundiert von melancholischer Musik". Die Worte sollen bei ihm "durch die Körper der Schauspieler fließen, aufgelöst zu mündlicher Überlieferung".

Das Gepäckband gibt für Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (27.4.) ein "treffendes Bild für die jüdische Diaspora" ab. Die Texte Singers funktionierten hier "als Zeitzeugenaussagen, die Vergangenem neues Leben einhauchen" und es "für die Generation Winehouse nachfühlbar" machten. Hermanis gehe es dabei "nicht ums Dramatisieren. Er will zeigen, Leben auf die Bühne bringen, so einfach und bescheiden wie möglich". Die "literarisch hoch aufgeladenen Singer-Stories" eigneten sich dazu allerdings weit weniger "als das so genannte echte Leben. Schließlich benötigen sie nicht die Ästhetisierung durch das Theater, um Kunst zu werden." Diesem Problem begegne der Regisseur, indem er sich "auf das inszenatorisch Nötigste beschränkt". Allzu oft finde man sich da jedoch "in der Grauzone zwischen dem Einfachen und dem Einfallslosen wieder". So werde die Inszenierung vor allem "zum Schauspielerabend". Martin Reinke rühre als gebeutelter Gimpel zu Tränen und verschwinde auf beeindruckende Weise hinter seiner Rolle. Auch über Markus John als Totengräber Mendel könne man "nur staunen". Fazit: "kein großer Theaterabend, aber ein guter".

Hermanis bringe Singers Geschichten "aufs Theater, ohne sie ihm auszuliefern" und halte die Inszenierung "in einer Spannung zwischen legendenhafter Fabulierkunst und angespielter Situation", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.4.). "Armes Theater, das scheinbar aus dem Stand entsteht und mit wenigen, mitunter allzu artifiziellen Mitteln eine unprätentiöse Poesie entwickelt". Biographien, wie es sie heute nicht mehr gebe, "werden plastisch, Charaktere von fast biblischer Vorbestimmtheit, Zeugen einer untergegangenen Welt". Die beschwöre Hermanis "nicht pathosselig herauf", sondern lasse sie "wie Kerzen aufflackern". "Was dazu an Kostümen, Bärten und Puder ausgepackt wird", ist nach Rossmanns Meinung allerdings "der jüdischen Maskerade zu viel". Dennoch gerate die "musikalisch grundierte Aufführung zu einer Liebeserklärung an die Phantasie, in der sich das Staunen über die assoziative Theatersprache und das Innewerden über den Verlust des Chassidismus zu einer auflösbaren Melancholie verschränken".

 

Kommentare  
Hermanis' Kabbala: Borniertheit? Frechheit?
Personen, die als Juden kenntlich gemacht werden (und sei es durch billige Theatertricks, da liegt ja auch eine altmodische Schönheit drinnen), können also nicht für ein allgemeingültiges Schicksal stehen oder auf einer Bühne sprechen? Nur Schauspieler, die aussehen wie der typisch mitteleuropäische Mensch, können das? Das finde ich eine gewagte These - wenn auch weit verbreitet im deutschsprachigen Theater. Ich zumindest kann - auch wenn mir auf der Bühne ein - zumindest für die Rezensentin - "exotisches Milieu" gezeigt wird, das Allgemeine daran sehr wohl erkennen, vielleicht sogar deswegen. Ich finde die Schlussaussage der Kritik eigentlich eine Frechheit, wenn ich länger drüber nachdenke! Wenn ich etwas über "den Menschen" aussagen will, darf der Mensch auf der Bühne nur aussehen wie ich, nicht wie ein Jude aus dem "exotischen Milieu"? Das ist die extreme Form der Borniertheit im deutschen Theatersystem, die auch im Mann Hamlet immer "den Menschen" erkennt, in Medea aber immer ein "Frauenschicksal".
Hermanis' Kabbala: Gegen Blindgänger & Rauschebärte
Oi, Gewalt! Da kommen schon wieder die politisch korrekten Blindgänger. Als Juden kenntlich gemacht, Sie Blödmann (Blödfrau?). Die Kritikerin wendet sich doch bloß gegen die Rauschebärte. Darf ich Sie mal fragen, woran man ihrer Meinung nach einen Juden erkennt. Etwa am Barte? Das ist Folklore-Rassismus.
Hermanis' Geheimnisse der Kabbala: das Eigentliche verdeckt
Tiefe der Charaktere der Figuren durch die SchauspielerInnen excellent dargestellt. Im übrigen kann ich die Meinung von U. Gondorf nur unterstreichen, die da sagt:
"Es ist jedoch schade, dass Hermanis diese Qualitäten, die im Kopf des Zuschauers entstehen, dadurch schmälert, dass er in exzessiver und eigentlich unverständlicher Weise plakative Theatermittel einsetzt: der Abend ist eine wahre Orgie von Kippas und Pelzmützen, Gebetsschals, Schläfenlocken und Rauschebärten: schwarzen, roten, weißen, die sich die Schauspieler diskret mit dem Rücken zum Publikum abwechselnd ankleben. Ginge es um die 300. Tourneeaufführung von "Anatevka", es könnte nicht schlimmer sein."

Damit verdeckt Hermanis, was er doch eigentlich zeigen will und was seine Darsteller hervorragend offen legen können: den Weg des Schauspielers in die Figur. Und er macht die Geschichten von Singer, die da, wo sie stark sind, über Menschen sprechen und nicht über Juden, zu pittoresken Sonderfällen eines exotischen Milieus. Und damit unzulässig klein. Denn wie sagte doch der weise Gimpel? "Es widerfährt dem einen, wofern es dem anderen nicht widerfährt, morgen, wofern nicht heute, oder ein Jahrhundert später, wofern nicht im nächsten Jahr. Was macht das schon aus?"
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