Verweile nicht, es wird noch schöner

von Gunther Nickel

Darmstadt, 25. April 2009. Im Manuskript beginnt das Stück mit einem Vorspiel. Es wird allerdings, anders als beim "Faust" von Goethe, nicht "auf dem Theater" gegeben, sondern, viel gastlicher, in der Theaterkantine. Dort sind der Direktor und der Dichter beim Konsum von stattlichen Mengen Wein lebhaft miteinander im Gespräch. "Wer Faust bringt", behauptet der Dichter, "wird allen etwas bringen!" Der Direktor reagiert für heutige Theaterverhältnisse erstaunlich skeptisch: "Eine zeitgenössische Interpretation des Faust?" Aber nein, gibt der Dichter sofort Entwarnung: "Eine faustische Interpretation unserer Zeitgenossenschaft!"

Damit ist auch schon das Programm von Robert Menasses Tragödie formuliert. Dem Besucher der Uraufführung konnte es sich freilich erst allmählich erschließen, denn das Vorspiel ist bei der Inszenierung in Darmstadt gestrichen worden: Der Abend setzt mit einem "Prolog im Himmel" ein, wo Faust mit allen Mitteln der Theaterkunst erst einmal wiederbelebt werden muss. Das ist nach fast 180 Jahren nicht so einfach. Die Operation gelingt zwar, aber dieser Faust, der Doktor Hoechst heißt, hat mit dem klassischen nur noch die Rastlosigkeit gemein.

Faust, der Globalisierer
Ansonsten ist aus ihm ganz ein Mann der Wirtschaft geworden: selbstbewusst, erfolgsverwöhnt, von keinerlei Skrupeln geplagt. Die ökonomische Phantasie, mit der Goethe ihn im zweiten Teil seines Dramas abtreten läßt ("Eröffn’ ich Räume vielen Millionen"), wird vollständig in die globalisierte Gegenwart transponiert. Und auch dies ist anders, als man es kennt: Gemeinsam mit Gräten, einer modernen, emanzipierten Frau, hat Hoechst einen Sohn, Raphael, der ihm ganz missraten erscheint. Statt sich mit Ökonomie zu befassen, studiert dieser eher philanthropisch gestimmte Balg mit erzengelhafter Geduld Philosophie – und versteht trotz allem heißen Bemühen nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Hoechst dagegen ist die Welt kein Rätsel mehr: "Nicht im ewigen Verweilen, sondern im ewigen Vermehren und Wachsen liegt das größte Glück!" Er weiß natürlich, dass die Ressourcen der Welt endlich sind. Doch eben der Aufgabe, dennoch für ständiges Wachstum zu sorgen, will er sich stellen. Dafür verkauft er, wenn es gewünscht wird, auch waffenfähiges Uran nach Japan. Kultur ist Hoechst nur "ein Baldachin über der Gier" und Geschichte eine "Liturgie der Betoffenheit an Jahrestagen".

Faust, der Verspekulierer
Bei einer surrealen Geschäftsreise wird er zwar nacheinander mit der Massenvernichtung in Auschwitz, dem Atombombenabwurf auf Nagasaki und den Folterungen im Stadion von Santiago de Chile in der Zeit von Pinochets Regime konfrontiert. Doch so erschüttert Hoechst von dem, was er da sehen muss, auch ist, er kann überhaupt nicht erkennen, was diese vergangenen Ereignisse mit ihm zu tun haben sollen.

Am Ende des dreistündigen Abends scheitert indes sein ökonomisches Konzept. Seine Spekulationsgeschäfte gehen ausnahmslos daneben, und er nimmt sich daraufhin das Leben. Die Bezüge zur aktuellen Wirtschaftskrise bis hin zum Selbstmord des schwäbischen Milliardärs Adolf Merckle sind derart überdeutlich, dass mancher eine Schwäche des Stücks darin erkennen mag.

Menasse hat derlei Einwände jedoch vorausgesehen und eine Erwiderung schon in sein Stück integriert. Hoechsts Sohn beschließt nämlich, die Philosophie aufzugeben, Schauspieler zu werden und muss sich nach der nicht bestandenen Aufnahmeprüfung fragen lassen: "Warum haben sie dich nicht genommen?" "Weil ich", antwortet er und greift damit den Programmfaden aus dem Vorspiel wieder auf, "den Faust als Vater der Zeit vorführte, und nicht als Kind der Ewigkeit."

Modern pointiert
Entschiedener Aktualisierungswille allein würde diesen Bühnenabend womöglich noch nicht tragen. Diese moderne Tragödie ist jedoch ausreichend mit pointierten Dialogen gewürzt. "Haben Sie Bühnenerfahrung?" wird Raphael bei seiner Schauspielprüfung etwa gefragt. "Ja", erwidert er prompt. "Aber ich hatte für meine Erfahrungen noch keine Bühne." Passagen dieser Güte enthält das Stück zuhauf. Sie waren nur, vor allem im ersten Teil, akustisch nicht immer gut vernehmbar.

Hermann Schein hat dieses Faustspiel sehr nah am Text inszeniert. Lediglich einige Dialoge ließ er in effektvolle Gesangsnummern verwandeln (Musik: Michael Erhard), die Liljana Elges hinreißend zum Besten gab. Die Hauptrolle des Doktor Hoechst war mit Andreas Manz überzeugend besetzt. Ihm fiel damit die schauspielerisch nicht allzu dankbare Aufgabe zu, eine gänzlich entwicklungslose Figur darzustellen, die ständig das (leider mitunter verhaspelte) Sagen hat. Karin Klein vermochte sich als Gräten gegen soviel faustische Dominanz trotzdem mühelos zu behaupten. Tilman Meyn, der den Raphael spielte, bot der Text die meisten Möglichkeiten, seine darstellerische Wandlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.

Doktor Hoechst - ein Faustspiel (UA)
von Robert Menasse
Regie: Hermann Schein, Bühne und Kostüme: Stefan Heyne, Musik: Michael Erhard.
Mit: Andreas Manz, Tilman Meyn, Karin Klein, Matthias Kleinert, Harald Schneider, Uwe Zerwer, Anne Hoffmann, Liljana Elges, Max Werner.

www.staatstheater-darmstadt.de


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Kritikenrundschau

Für die Uraufführung von Robert Menasses "Doktor Hoechst" ist Barbara Petsch von der österreichischen Presse (27.4.) eigens aus Wien nach Darmstadt gereist und bedauert, dass sich das Burgtheater "die Chance auf die Entdeckung eines 'neuen' österreichischen Dramatikers entgehen ließ". Menasses "Faust" schäume über vor Ambitionen. Hier habe "der Dichter etwas gelesen, was ihm in den Text gepasst hat. Da ist ihm was eingefallen, was nicht in den Text gepasst hat, aber trotzdem gut ist. (...) Der missionarische Eifer, das Anliegen schlägt wie gelegentlich bei Menasse die Kunst tot." Trotzdem aber sei "dieses Faust-Spiel über einen Doktor Hoechst, der ein Firmenimperium anhäuft, die Welt beherrscht und am Schluss mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Wanne endet (...) außerordentlich spannend geraten." Der "Abgrund, in den alle hineingerissen werden", entfalte "seinen unwiderstehlichen Sog", und das Ensemble habe "geschwätzige wie packende Passagen perfekt einstudiert". Menasse und Darmstadt hätten in der allgemeinen "Faust"-Euphorie "fast einen Paukenschlag gesetzt, an dem zumindest die nächsten moderneren 'Faust'-Adaptionen zu messen sein werden".

Der Teufel fehle, bemerkt Dieter Bartetzko in der Frankfurter Allgemeinen (27.4.) bezüglich Robert Menasses "Faustspiel": "Was uns nicht wundert, weil wir spätestens seit dem vom Treiben der Menschen angewiderten Satan in Gibbsons 'Passion' wissen, dass Menschen teuflischer sind als der Teufel." Unerklärlich dagegen bleibe, weshalb Menasse "eine neue Zentralfigur schuf, nämlich Raphael, den Sohn des Dr. Hoechst, Philosophiestudent und als solcher angewidert vom Treiben des Vaters, am Ende aber, uneinsichtig, warum, zum Replikanten seines Erzeugers mutierend." Keine Geschichte werde erzählt, "stattdessen wimmeln Szenen, respektive Theater gewordene Zettelkästen, in denen Bedeutungsträger – also oft von der Wortfülle und dem Tiefsinn überforderte Schauspieler – monologisieren. Stammzellforschung; Klimawandel; Terrorismus; Massenmord; Welthunger; Völlerei; Ausbeutung; Betrug - alles da, doch nichts glaubhaft, erschreckend, nachdenklich oder empört machend."

Großes habe das Staatstheater Darmstadt mit dieser Auftragsarbeit im Sinn gehabt, berichtet Stefan Benz im Darmstädter Echo (27.4.): "Als 'Faust 3' war das Projekt ursprünglich angekündigt worden. Dummerweise ist eine faustische Figur aber ohne Teufel nur die Hälfte wert". "Einen Faust von heute" habe Robert Menasse zeigen wollen, stattdessen scheine sich aber ein "zynischer Manager auf Geschäftsreise zu den Menschheitsverbrechen im Stück verlaufen zu haben." Menasse habe sich "gründlich zwischen Weltdrama und Wirtschaftsteil verstiegen, Analysen, Aphorismen und Aperçus angehäuft, was dieses mit Anspielungen überladene Stück (...) bestenfalls zu einem Lesedrama macht." Für ein Spiel tauge "dieses szenische Essay nicht, zumal Menasse das fehlende Talent für lebendige Dialoge mit einer fatalen Neigung zu monologischen Grundsatzerklärungen kompensiert". Und der Regisseur Hermann Schein sei auch nur "ein treuer Erfüllungsgehilfe der Unzulänglichkeiten".

Wenn Faust heute leben würde, dann läge für ihn das größte Glück nicht "im ewigen Verweilen, sondern im ewigen Vermehren und Wachsen", so erkennt ihn Judith von Sternburg (Frankfurter Rundschau, 28.4.) in der Adaption in Darmstadt. "Menasse schickt ihn auf eine irreale Geschäftsreise", in Auschwitz begegne ihm der Leichenberg "unter Problematisierung der Einzigartigkeit". In Japan treffe er die Opfer der Atombombe "unter Problematisierung der amerikanischen Wurschtigkeit". Während aber Menasse auf die große Frage ziele, was die Welt im Innersten zusammenhält, und bittere Antworten gibt, "will Doktor Hoechst nur Geschäfte machen". Was Menasse sagt, "unterscheidet sich nicht immer von Leitartikel und solidem politischen Kabarett." Der schwierigen Umsetzung stellen sich Regisseur Schein und das Ensemble wacker. Aber "unterm Strich verliert sich der Eindruck nicht, dass 'Doktor Hoechst' ein aus dem Ruder gelaufenes Gedankenprojekt ist. Die alten Fausts kommen einem da - so frisch und theatralisch vor."

Der Wiener Kritiker Ronald Pohl vom Standard (29.4.) sitzt in Darmstadt und hofft "immerzu", Faust sei endlich geboren und es "begänne die Zeit, wo die Darmstädter Darsteller Manz und Meyn endlich damit anfangen könnten, Theater zu spielen". Das berühmte "Verweile doch ...!" könne man den südhessischen Momenten leider nie zurufen. "Menasse hat die Geburt seines Faust-Textes mit der vorsorglichen Unterdrückung fantasievoller Spielangebote kostspielig erkauft." Denn sein Protagonist handle nicht, sondern schwadroniere unablässig. Scheins Uraufführungsregie balanciere "auf der sicheren Seite", dabei müsste man, nach Meinung Pohls, "Menasses mit Aphorismen gespickten Text aus der bequemen Buffetstube der Formulierkunst herausreißen. Man müsste sie einem Schwall von Lebensformen aussetzen: sie mit Wirklichkeitsangeboten konfrontieren".

 

 

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