Es weint die Würde

von Georg Kasch

München, 25. April 2009. Ja, was denn nun, kleiner Mann? Ein merkwürdiges, verhaltenes Etappen-Happy-End, diese familiäre Idylle inmitten des sozialen Abstiegs, die Hans Fallada in seinem Erfolgsroman zur Weltwirtschaftskrise 1929 Johannes Pinneberg und dessem "Lämmchen" Emma Mörschel angedeihen lässt. Und das nach einer Achterbahnfahrt zwischen Anstellung und Arbeitslosigkeit, Hoffnungsschimmer und trostloser Realität, Geld-Fetischismus und Angst. Fallada traf den Nerv seiner Zeit – und trifft ihn wieder, 80 Jahre nach dem Schwarzen Freitag. Seine Romane haben Konjunktur, auch auf der Bühne – eben erlebte Wer einmal aus dem Blechnapf frisst in Hamburg Premiere.

In den Münchner Kammerspielen sorgen Luk Perceval und ein glänzendes Ensemble dafür, dass Falladas Roman "Kleiner Mann, was nun?" um eine Liebe, die größer ist als der entmenschlichende Wirtschaftswanderzirkus, nicht auf den Fettaugen des Kitsches ausgleitet. Sachlich entschlackt ist schon die weite Bühne (Annette Kurz), von einem Orchestrion beherrscht, diesem zaubrischen Konglomerat aus Pianola, Xylofon, Akkordeon und Gründerzeitmöbel, aus dem ein Teil von Mathis B. Nitschkes unaufdringlich magischer Musik tönt.

Komm Glück, wir singen dir eins

Bewegte Bilder umspülen Schauspieler und Instrument mit ihrem fahlen Licht, weniger Illustration (etliche Eindrücke stammen aus Walther Ruttmanns Film "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" von 1927) als rhythmisierende Schlaglichter der (stockenden) Industrialisierungs-Maschine. In Percevals Digest-Version des Romans, die immer noch gute vier Stunden dauert, beschreiben und kommentieren die Hauptfiguren mit Falladas Worten sich selbst und ihre Umgebung. Dopplungen zwischen Bericht und Szene aber weiß Perceval zu verhindern: Pinnebergs Konfektionsabteilung besteht nur aus einer Hand voll Kleiderbügeln, eine Verkaufsanprobe wird mit einem um und um gewendeten Jackett bestritten.

Wie aus dem Nichts tauchen hier die Figuren auf, fügen sich zu Gruppen, auch zu Tableaus, und dann singen sie zur orgelnden Melancholiemaschine mehrstimmig: "Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück", "Einmal schafft’s jeder" und, ein Berliner Konsum-Spaß, "Komm mit zu Möbel Hübner".

Im Zentrum des Textmarathons entsprudeln Paul Herwigs stets verdruckstem Pinneberg und Annette Paulmanns Lämmchen unentwegt die Worte. Herrlich naiv sind sie in ihrem himmelhochjauchzenden Glück wie in ihrer Angst. Sie reden, als könnten sie Worte vor dem Morgen bewahren. Es schmerzt physisch, Herwigs biederen Jungen unter Dauerspannung buckeln und sich wegducken zu sehen, wie er hysterisch seinen Bleistift schärft und verzweifelt aktionistisch vorm Arbeitgeber nach der Lohnsteuerkarte sucht.

... und bist du auch noch so klein

Ein Loriot-Sketch ist sein Verkaufsgespräch, in dem er für alle redet und Peter Brombacher als Dame den Mund plappernd bewegt, eine Demütigung in Raten sein Versuch, beim Schauspieler (André Jung brillierte zuvor als Unternehmer Kleinholz und als Kollege Heilbutt) die Absatzquote zu erfüllen.

Annette Paulmann hingegen postuliert ihren Glauben an Mann und Kind in einem kindlichen Ton, der kaum erschütterbar ist. Daneben glanzvolle Miniaturen: Stefan Merkis schmieriger Unternehmens-Rationalisierer und schnippische Sekretärin, Hans Kremers verhalten schillernder Zuhälter und – ein krummer Rücken, ein plattdeutsch eingefärbter Akzent – Lämmchens Mutter, Wolfgang Preglers sich kaiserlich spreizender Personalchef. Nur so zum Beispiel.

Schrecklich komisch blitzt das oft hervor, ist unterhaltsam, macht Tempo. Aber gegen Ende fndet Perceval noch einen neuen, einen atemlos dringlichen Ton: Aus den getriebenen Monologen Pinnebergs und Lämmchens schreit eine existenziell bedrohte Würde, die nur durch Paul Herwigs Tränen gerettet wird. Für diesmal.

1972 stürzte sich Peter Zadek mit einer ungemein erfolgreichen Volkstheater-Revue-Version von „Kleiner Mann, was nun?“ in seine Bochumer Intendanz. Mit dieser stilleren, zutiefst menschlichen Inszenierung setzte Perceval nun einen fulminanten Schlusspunkt unter die Kammerspiel-Ära Frank Baumbauers. Seit 2001 ist Baumbauer Intendant der Kammerspiele, jetzt hört er auf – und 2010 folgt ihm, nach einer Übergangsspielzeit, Johan Simons.

 

Kleiner Mann, was nun?
von Hans Fallada, in einer Fassung von Luk Perceval
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Mathis B. Nitschke, Video: Luk Perceval, Martin Noweck, Philipp Trauer. Mit Annette Paulmann, Paul Herwig, Gundi Ellert, Wolfgang Pregler, André Jung, Hans Kremer, Stefan Merki, Peter Brombacher, Tina Keserovic.

www.muenchner-kammerspiele.de


Mehr lesen? In Hannover inszenierte Luk Perceval im Januar 2009 Nach der Probe von Ingmar Bergmann.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=knZEpJAfzEM}

 

Kritikenrundschau

Mit Achternbusch und Fallada zeigen sich die Münchner Kammerspiele zum Ende der Intendanz von Frank Baumbauer von ihrer besten Seite, schreibt Johanna Schmeller (taz, 28.4.) in iher Doppelrezension der beiden Abende. Selbst wenn man von einer herbeiargumentierten Nähe zwischen Falladas Roman und der aktuellen wirtschaftlichen Lage wenig hält, gehe es dem heutigen Publikum statt ums Überleben doch "nur" um die Vermeidung von Wohlstandsverlust, "die biedere, innige Art, mit der sich Pinneberg an sein 'Lämmchen' Emma klammert, erscheint in Luk Percevals Inszenierung als ein allzu nachvollziehbarer Wunsch nach Berechenbarkeit in unruhigen Zeiten." Als er hilflos seinen kleinen Sohn "festhalten will und zugleich Angst hat, zuzupacken, verliert die Inszenierung ihren gewollt musicalhaften Grundton". In diesem Moment berühre Pinnebergs Angst den Zuschauer fast ebenso tief wie das Aufbegehren gegen die bayerische Provinz von Achternbuschs "Susn" am Abend zuvor.

Auch Teresa Grenzmann (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.) sieht in "Susn" und "Kleiner Mann, was nun?" zwei "großartige, verblüffend parallele Theaterabende". Percevals Inszenierung sei ein so "simples wie vollendetes Gesamtkunstwerk aus Bühne, Musik, Video, Licht und Ruttmanns Großstadtimpressionen, die manchmal als einzige flackernde Lichtquelle ihre halbschattigen Schemen auf die Szene werfen, begleitet von den nostalgischen Tönen des illuminierten Orchestrions." Ein Abend fabelhafter ästhetischen Unmittelbarkeit. Susn, Lämmchen und Pinneberg seien drei Figuren, "die der Gefangenschaft gesellschaftlicher Zwänge zum Opfer fallen", scheinbar gottverlassen, glücksverlassen. "Hier sieht man sie träumend vor den mannigfaltigen Flügelaltären des Lebens, Triptychen aus sorgenvoller Gegenwart, verdrängenswerter Vergangenheit und ungewisser Zukunft."

In seiner Hans-Fallada-Adaption "Kleiner Mann – was nun?" an den Münchner Kammerspielen habe sich Luk Perceval "bewundernswert zurückgenommen" und stelle "seine Mittel ganz in den Dienst der Geschichte", was für Perceval einen "Schritt in eine neue Richtung" darstelle – schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (27.4.). Am Anfang klapperten zwar noch die szenischen Anschlüsse, "weil Perceval zu vorsichtig am Buch entlanginszeniert", doch nach der Pause finde die Aufführung "zu ihrem Rhythmus, wagt Perceval größere Sprünge in der Handlung und verdichtet die Szenen. (...) Von da an entfaltet die Inszenierung einen unwiderstehlichen Sog, weil Perceval zeigt, dass es nicht der eine Schicksalsschlag ist, der den kleinen Mann vernichtet, sondern die tausend kleinen Schläge und Stiche." Perceval mache nicht "das Roaring-Twenties-Fass auf wie einst Peter Zadek in seiner großen Fallada-Sause; er zeigt die Härten ungemildert, aber auch mit komischen Tupfern".

Für Matthias Heine von der Welt (27.4.) grenzt es "an ein zuschauerfreundliches Wunder, dass der Regisseur Perceval sich diesmal aller dekonstruierenden 'Zugriffe' (so heißt das sittenstrolchig im Dramaturgenjargon)" enthalten habe. Perceval erzähle "einfach mit handwerklicher Bravour, mit wunderbaren Schauspielern, die das Zarte ebenso beherrschen wie, wenn nötig, die Knallcharge, und mit dem Willen zur ironischen Revue die Geschichte von Johannes Pinneberg und seiner Frau Emma (genannt 'Lämmchen'), die versuchen, inmitten der Katastrophe ihr Kind, ihr Selbstwertgefühl und ihre Liebe zu retten." Im Ergebnis seien das "die kürzesten vier Stunden, die es derzeit im Theater zu sehen gibt".

Perceval mache mit "Kleiner Mann – was nun?" "klassisches Erzähltheater, das trotz seiner epischen Ausmaße von über vier Stunden nie langatmig wird", schreibt Christine Diller in der Frankfurter Rundschau (27.4.): "Eine Geschichtsstunde, die alles lehrt, was man wissen muss über den damaligen Zustand der Gesellschaft, über Nazis, Kommunismus, einen skrupellos gewordenen Kapitalismus." Perceval habe den Roman "so geschickt bearbeitet, dass rezitierende und szenische Passagen nahtlos und unterhaltsam ineinander übergehen. Paul Herwig und Annette Paulmann verkörpern das Paar temperamentvoll und unverträumt, mit all den Zweifeln und dieser großen, aufrichtigen Zuneigung. Die Truppe um sie herum verwandelt sich spielend in Mitstreiter, Miesmacher, Verräter."

"Ach, wäre das schön, wenn sich die Münchner Kammerspiele wieder mehr aufs Theater besinnen und nicht so viele Romane und Filme der Bühne aufpfropfen würden", seufzt Simone Dattenberger im Münchner Merkur (27.4.). Percevals Version von "Kleiner Mann – was nun?" sei "ein Gebilde, das man eine halbszenische Roman-Rezitation oder eine Abart des Epischen Theaters nennen könnte." Denn Perceval reanimiere "gewissermaßen Brechts Dramenform, ohne allerdings dessen Forderung nach Gefühlsdistanz nachkommen zu wollen. Daher bleibt die herzerwärmende Liebesgeschichte zwischen Lämmchen und Pinneberg wundersam gefühlsträchtig, aber wird nie gefühlig." Freilich gebe Perceval "dem Theater nicht, was des Theaters ist. Sympathisch ist sein Respekt vor dem Buch, über gut vier Stunden trägt das jedoch nicht. Schon gar nicht, wenn einer die Geschichte des Paares kennt und auf eine echte dramatische Umsetzung gespannt ist."

"Nach vier Stunden puren Theaterglücks wollten die Ovationen nicht enden", berichtet Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (27.4.). Mit Videobildern aus Walter Ruttmanns "Berlin: Die Sinfonie der Großstadt" vergegenwärtige Perceval "die 20er-Jahre-Atmosphäre, ohne dass die Bilder je von den Schauspielern ablenken". Denn die seien "das Zentrum und Wunder dieser Aufführung. Mit hinreißender Frische spielen Annette Paulmann und Paul Herwig die unerschütterliche Liebe und Naivität des jungen Paars." Epische Erzählung und Spiel flössen ständig ineinander: "Die Szenen aus Pinnebergs Arbeitswelt und dem familiären Umfeld inszeniert Perceval fast kabarettistisch. Die Figuren wirken wie scharf überzeichnete Karikaturen wie von George Grosz oder Otto Dix." Die Schlager-Botschaften der 20er und 30er Jahre schließlich seien "die bittere Würze dieses großen und großartigen Theaterabends".

 

Kommentare  
Percevals Kleiner Mann: es könnte eindrucksvoll sein, aber …
Eine verdienstvolle,hilfreiche Einrichtung diese Seite!
Zu den Rezensionen: In der allgemeinen Baumbach-Perceval-Begeisterung behält einzig die Rezensentin im Münchener Merkur einen klaren Blick. Wenn man den Text auf die Hälfte zusammenstriche, wäre das Stück weniger geschwätzig und es könnte eindrucksvolles Theater daraus werden. Aber das Publikum erträgt geduldig die Willkür der Regisseure und ihrer Komplizen, der Rezensenten. Allerdings: Als ich während des Schlussapplauses die Tür zum Foyer öffnete, betrachtete ein Teil des bis dahin geduldig und pflicht- schuldig klatschenden Publikums das offenbar als einen Akt der Befreiung und erhob sich Richtung Ausgang.
Percevals Fallada: mit Längen, aber begeisternd
Gestern abend nochmal gesehen und, trötz Länge und "Längen" begeistert gewesen, Hochacht vor der Schauspielerischen Leistung, insb. der beiden Hauptdarsteller - ansonsten kann ich Herrn Dr. Bleinagels Kommentar voll unterschreiben, 4 1/4 Stunden erschienen manchem Zuschauer doch sehr lang.
Percevals Kleiner Mann beim TT: jede Minute genossen
Ihr Theaterbanausen!
41/4 Stunden können wie zwei sein und zwei wie sechs. Ich habe jede Minute genossen und auch das Ende mit all seiner Langsamkeit gehört dazu. Das war ein Stück fürs TT10! Großartig und die standing ovations in Berlin haben ja bewiesen, dass das so mach ein Zuschauer auch so sah.
Percevals Kleiner Mann beim TT: alles nur Spiel?
@ Olaf: Ich kann Ihnen nur zustimmen. Diese Inszenierung ist zugleich schön und bitter traurig. Die narrative Verfremdung sowie die auf die Bühnenwände projizierten historischen Videoaufnahmen eröffneten einen Imaginationsraum auf die Parallelen und zugleich auf die Unterschiede des politisch-ökonomischen Kontexts von 1929/30 und heute. Wir befinden uns heute nicht mehr in den Anfängen der Urbanisierung, Industrialisierung und Individualisierung - das heisst im Kontext entfremdender Produktionsverhältnisse -, sondern bereits mitten drin in der Dienstleistungsgesellschaft, in welcher die eigene Perönlichkeit gewinnbringend in den Produktionsprozess mit eingebracht werden soll. Der Warenhausangestellte Johannes Pinneberg ist dafür der moderner Vorläufer.
Der Zerfall des "klassischen Proletariats" und damit die Möglichkeit einer gegen die Verhältnisse Widerstand leistenden Massenbewegung wurde mir durch die zunehmende Marginalisierung und Isolation von Pinneberg umso schmerzlicher bewusst.
Auch die Liebe und Fürsorge bzw. das Füreinander-Einstehen zwischen den Geschlechtern und damit das immer wieder besungene kleine bzw. private Glück ist heute wohl kaum noch so bruchlos zu behaupten wie im Kontext der Weimarer Republik. Da hält man zusammen, geschehe und komme was wolle.
Zudem habe ich mich gefragt, wie es in heutigen Ohren wohl klingen mag, wenn davon gesprochen wird, dass Lämmchen eine Kommunistin sei. Das Theatertreffen 2010-Publikum ging bei diesem Satz begeistert mit. Sind das jetzt alles KommunistInnen oder SozialdemokratInnen? Oder haben die womöglich gar nicht richtig zugehört?
Weiterhin rückte folgende Szene in den Fokus meiner Aufmerksamkeit, in welcher Pinneberg dem berühmten Schauspieler, bekannt für die Darstellung der kleinen Leute und Arbeiter, etwas verkaufen will. Brüsk weist dieser Schauspieler Pinneberg ab, als dieser versucht, ihm die unsichere Position seines Arbeitsverhältnisses und damit die (Überlebens-)Notwendigkeit des Verkaufs (eines Maßanzugs) verständlich zu machen. Fazit: Darstellen muss noch lange nicht heissen, dass einer auch danach lebt. Ist also alles nur Spiel bzw. Theater? Hoffentlich nicht. Diese Inszenierung hat für mich einmal mehr deutlich gemacht, dass es Theatermacher mit einer politischen Haltung bzw. mit einem Blick auf solche (Selbst-)Widersprüche braucht. Hier zeigte sich die Notwendigkeit eines Bewusstsein für die gesamtgesellschaftliche Verantwortung eines Künstlers. Danke, Luk Perceval.
Percevals Kleiner Mann beim TT: gnadenlos vertändelt
Mein Gott, I S, was Sie da wieder alles gesehen haben. Percival tut genau das Gegenteil, er entpolitisiert die Geschichte und rät uns als Lösung das Gute und Glück im Kleinen in der Familie zu suchen. Können Sie übrigens im Programmheft nachlesen. Ich habe es langsam satt, immer nur Karikaturen auf der Bühne zu sehen. Bei aller schauspielerischer Brillanz ist dieser Abend endlos, mutlos und ohne Aussage. Fallada hat mit seinem Roman so viel mehr sagen wollen, ist aber schon zu seiner Zeit nicht verstanden worden. Wenn das einzige, was dem Zuschauer jetzt noch weh tut, die Länge des Stückes ist, dann macht da jemand was falsch. Das Geschehen auf der Bühne muss weh tun, aber zu viel Realismus scheint ja verpönt zu sein. Erst zum Schluss gelingt Percival dieser gnadenlose Realismus, vorher hat er das aber schon stundenlang vertändelt.
Percevals Kleiner Mann beim TT: verengter Blick?
@ Stefan: Würde ich so nicht sagen oder anders gefragt: Haben Sie da nicht vielleicht auch einen sehr verengten Blick auf das, was heute auf dem Theater das Politische sein könnte? Es muss ja nicht immer nur dieser "gnadenlose Realismus, der weh tun muss" à la Lösch sein. Das ist mir zu simpel gestrickt. Erklären Sie doch mal, was Sie jetzt eigentlich damit meinen, dass Perceval "die Geschichte entpolitisiert". Vielleicht ist genau das der Widerspruch, dass wir heute, im Gegensatz zum Kontext der Weimarer Republik, eben in völlig entpolitisierten Zeiten leben.
Schließlich, könnten Sie kurz darlegen, worum es in dem Programmheft-Essay geht und wer der Verfasser desselben ist? Ich kann mir nämlich kaum vorstellen, dass es Perceval hier nur um "die Liebe" ging.
Percevals Kleiner Mann beim TT: Entpolitisierung
Mensch, I S, ich verlange doch gar nicht, das hier der Chor der entrechteten Angestelltengewerkschaftler auftreten muss. Man kann das ja alles so machen, wie Perceval, mit dem Glauben an die Liebe usw., aber das befördert dann doch nur noch die Entpolitisierung in der Gesellschaft, wenn ich nicht mehr über politische Konsequenzen nachdenke, sondern nur hübsch nett zu den Leuten bin. Da lacht sich doch der Arbeitgeberverband kaputt drüber und gewinnen tun wieder nur die, die eh schon immer irgendwie mit dem Arsch an die Wand gekommen sind. Die Szene bei Mörschels zu Hause bringt es auf den Punkt. Wir sind zwar vielleicht alle irgendwie in der Gewerkschaft organisiert oder sympathisieren mit irgendwelchen Gruppen, aber die wirklichen Entscheidungen werden doch längst wo anders gefällt. Also das Programmheft habe ich jetzt gerade nicht zur Hand, aber es war ein Interview mit Luc Percival, in der Frage ging es eben um die Konsequenz aus dem Stück und da hat er sinngemäß das Gutsein im kleinen Rahmen der Familie als Gegenentwurf zur rauen Wirklichkeit gestellt. Das klingt sehr logisch und dagegen ist auch prinzipiell nichts zu sagen, außer eben, das es bei den anstehenden Problemen doch recht banal wirkt. Ich kann Ihnen den genauen Text bei Bedarf gerne noch später nachposten.
Percevals Kleiner Mann: Resignation oder Aufbruch?
@ Stefan: Ich stimme Ihnen insofern zu, als auch ich mich fragte, ob aus dieser Trauer darüber, von "der Geschichte" bzw. von "den Verhältnissen" überrollt zu werden, jetzt die Resignation oder der politische Aufbruch folgt. Allein mit Hoffnung bzw. mit dem privaten Glück im Kleinen ist es auch in meiner Perspektive tatsächlich nicht getan. Das wäre eine Form des Eskapismus. Und genau deshalb hat mir immer noch Margit Bendokat in Stemanns "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" besser gefallen. Weil sie - wie Lämmchen ebenfalls Kommunistin - eben nicht resigniert, sondern weiterkämpft: "Die Massen hätten nicht auseinandergehen dürfen."
Es wäre allerdings wirklich schön, wenn Sie den Interviewauszug hier noch posten würden, denn das erscheint mir eigentlich kaum zu glauben, dass Perceval jetzt den Rückzug in die Kleinfamilie als "die Lösung" ansieht. Nee nee nee.
Tt 10 - Kleiner Mann: Bei der Liebe kann man nicht stehenbleiben
@ I S
Also im Programmheft sagt Perceval und ich muss das jetzt etwas aus dem Zusammenhang zerren, da es sonst zu lang wird: „...Der einzige Gegenentwurf, an den ich glaube, ist eigentlich, und das ist, was Pinneberg glaubt, dass man auf eine sehr individualisierte Art und Weise versucht, in seiner eigenen direkten Umwelt ein Klima zu schaffen, dass jedenfalls ein Gegenentwurf sein könnte. Letztendlich beruht dieser Entwurf so Pinneberg und Lämmchen auf Begriffen wie Menschlichkeit, Solidarität und Mitgefühl.“ So weit noch sehr gut, aber dann: „...das sind Werte, die in dieser Welt nicht zur Geltung kommen, die kaum eine Überlebenschance haben. Es sei denn, in dem höchst intimen und kleinen Kreis, den der Mensch um sich schaffen kann.“ Hm, ist das jetzt Vogel Strauss-Mentalität?
„In dem Sinn finde ich das eigentlich schon einen Gegenentwurf, den Fallada da am Ende sehr subtil und überhaupt nicht sloganhaft anbietet. Er glaubt an die Liebe. Die alte Liebe. Das alte Glück.“
Ich will das nicht banalisieren, aber das sind Grundwerte für mich, über die muss ich eigentlich nicht mehr nachdenken. Moralisch und respektvoll miteinander um zu gehen, ist das Grundgerüst einer sozialen Gesellschaft. Da kann man dann aber nicht bei stehen bleiben, wenn das nicht mal funktioniert.
Tt 10 - Kleiner Mann: Basis einer politischen Gemeinschaft
@ Stefan: Sie schreiben: "Percival tut genau das Gegenteil, er entpolitisiert die Geschichte und rät uns als Lösung das Gute und Glück im Kleinen in der Familie zu suchen." Polemische Frage dazu: Ihrer Meinung nach sollen wir die Lösung also im Schlechten suchen? Angst, Unsicherheit und Pessimismus führen meines Erachtens zum Gegenteil dessen, was man eigentlich erreichen möchte. Das heisst, wir sollten zunächst mal auf die zwischenmenschlichen Beziehungen vertrauen. Denn diese bilden die Basis einer politischen Gemeinschaft. Und auch Sie wissen ja sicher, was nach der Weimarer Republik kam. Nazis, nein danke.
Tt 10 - Kleiner Mann: weißt du, was ich tu?
Kleiner Mann, weißt du, weißt du, was ich tu`? Ich steck` dich` in den Hafersack und binde oben zu. Und wenn du dann schreist: "Ach bitte lass` mich `raus!" Dann binde ich noch fester zu und setz` mich oben drauf!
Percevals Kleiner Mann beim tt: in die alte böse Form zurückfallen
@ 11: Kennen Sie Max & Moritz? Die fallen selbst nach dem Mahlen in der Mühle fein geschroten und in Stücken wieder in die alte "böse Form" zurück. Nach Zizek insistiert das Böse. Das Gute ist eine Frage der Entscheidung. Also?
Percevals Kleiner Mann: die Verlogenheit des Kleinbürgers
@ I S
Sie vereinfachen hier wieder sehr die Entsehung von Faschismus. Vom Schlechten habe ich gar nicht gesprochen, ich habe den Rückzug ins Private kritisiert. Während sich in den 20er und 30er Jahren die Nazis und Kommunisten auf den Straßen gejagt haben, hat der Großteil der Bevölkerung weg geschaut und dann das vermeintlich kleinere Übel gewählt. Soziales Elend gepaart mit nationalistischen Großmachtfantasien beförderte die Entwicklung von Faschismus. Dazu kamen globale Wirtschaftsinteressen, die ohne Demokratie besser durchsetzbar waren und die Überheblichkeit der in der Weimarer Republik regierenden Parteien. Die Künstler der Neuen Sachlichkeit Dix, Grozs, Schad, Schlichter usw. haben das in ihren Bildern sehr gut dargestellt. Zur Zeit ist eine Ausstellung des Verismus in der Gemäldegalerie Berlin zu sehen, unbedingt auch den Videofilm im Foyer ansehen. Für die Literatur stehen als Vertreter dieser Kunstrichtung Döblin, Kästner, Tucholsky, Horvath oder eben auch Hans Fallada. Zusammen mit dem Film von Walter Ruttmann „Berlin die Sinfonie einer Großstadt“ hat Perceval die Stimmung in den 20er Jahren gut eingefangen. Man hätte übrigens genau so Filme von Wilhelm Pabst nehmen können, oder auch den Film „Menschen am Sonntag“ von Billie Wilder, Fred Zinnemann und den Siodmak-Brüdern aus dem Jahre 1929/30. All das sind gute Beispiele für das Gefühl dieser Zeit, einerseits die Freiheit der Weimarer Republik, andererseits die aufkommende Wirtschaftskrise und die sozialen Probleme der einfachen Leute auf der Straße.
Fallada beschreibt ja im Roman minutiös den Ablauf des Alltags eines kleinen Angestellten, das in genau dieser epischen Form auf die Bühne zu bringen ist schon sehr mutig, angesichts der zur Zeit herrschenden Bühnenästhetik. In 4,5 Stunden bei Castor hätte das sicher anders ausgesehen, wäre aber auch nicht unbedingt aufregender gewesen.
So zieht sich nun dieser Reigen an uns vorbei und man kann daraus schon einiges nehmen und auf die heutigen Verhältnisse ummünzen, aber dann zum Schluss, wenn Pinneberg dann wirklich unten angekommen ist, wieder nur die Liebe als Allheilmittel zu preisen, das greift zu kurz. Gerade weil wir heute wissen, wie es weiter gegangen ist. Wer sagt denn wirklich, ob Pinneberg in 2-3 Jahren nicht auch die Nazis gewählt hätte?
Vielleicht hat Perceval, das ja auch alles nicht genau so gemeint, aber die Gefahr besteht wieder, das weg geschaut wird, weil man mit den eigenen Problemen beschäftigt ist und dann merkt man irgendwann zu spät, das man schon im Sack sitzt. Da hilft Ihnen dann Ihr Zizek auch nicht mehr.
Übrigens sollte mal einer Bauern, Bonzen und Bomben von Fallada für die Bühne bearbeiten, da steckt mehr Brisanz und Heutigkeit drin. So im Stile eines Werner Schwab, die Verlogenheit des Kleinbürgers und die Korruption in Wirtschaft und Politik zeigen.
Percevals Kleiner Mann: Aufrechterhaltung der Zivilgesellschaft
@ Vielen Dank für die Programmheft-Zitate. Es geht Perceval also um die Begriffe Solidarität, Menschlichkeit und Mitgefühl. Zitat: "...das sind Werte, die in dieser Welt nicht zur Geltung kommen, die kaum eine Überlebenschance haben. Es sei denn, in dem höchst intimen und kleinen Kreis, den der Mensch um sich schaffen kann." Dazu kommentieren Sie: "Hm, ist das jetzt Vogel Strauss-Mentalität?"
Dazu möchte ich Ihnen antworten: Nein. In meiner Lesart ist das keine Vogel Strauss-Mentalität, sondern ein sehr klarer und realistischer Blick auf unsere Gegenwart. Das hat nichts mit einer abstrakten Idealisierung "der Liebe" zu tun, sondern es geht Perceval wohl eher um die konkreten Beziehungen zwischen Menschen. Was können wir bereits im Kleinen tun, jenseits von abstrakten politisch-ideologischen Menschheitsentwürfen?
Vergils "amor vincit omnia" ist auch in meiner Perspektive (überlebens-)notwendig, und zwar im Sinne der Aufrechterhaltung einer solidarischen Zivilgesellschaft. Und das war und ist leider oftmals kein selbstverständlicher "Grundwert" - wie Sie schreiben. Weder die Staatsgewalt noch der Einzelne hielten und halten sich an diese rechtliche Setzung. Es geht also immer wieder neu um die kommunikative Verhandlung dieser eben nur vermeintlich fixierten Grundwerte.
Percevals Kleiner Mann: Aufrechterhaltung der Zivilgesellschaft II
@ Zusatz zu meinem letzten Kommentar. Ich war zu schnell im Schreiben. Es ging mir um den Widerspruch zwischen auf der einen Seite der rechtlichen Setzung durch den (staatlichen) Souverän und auf der anderen Seite der Liebe im Sinne einer alltagspraktischen Solidarität. Zitat Agamben (mit Bezug auf Linné): "[...] daß nur derjenige Mensch sein wird, der sich selbst als solcher erkennt, daß DER MENSCH DASJENIGE TIER IST, DAS SICH SELBST ALS MENSCHLICH ERKENNEN MUSS, UM ES ZU SEIN."
Percevals Kleiner Mann: Nächstenliebe versus Solidarität
@ I S
Hm, also Liebe besiegt alles. Was wäre denn so dieses alles? Für mich ist das nichts als ein schöner Poesiealbum-Spruch. Den können Sie sich in Ihr Taschentuch sticken und dem Ritter Ihres Herzens zu werfen. Mal ein kleiner Scherz zum Herrentag. Aber sind Sie wirklich so hoffnungslos romantisch? Das nehme ich Ihnen, nach dem was Sie hier alles schon so geschrieben haben, nicht ab. Solidarität oder Nächstenliebe, was wäre erstrebenswert? Sicher beides, nur bleibt die Nächstenliebe eben nur ein Akt, während Solidarität ein Hinterfragen der Umstände voraussetzt. Das sollte man schon unterscheiden, bevor man allgemein von Liebe spricht. Das kommt in der Inszenierung nicht klar heraus und so wird nur die Liebe im Privaten gegen die raue Gesellschaft in den Vordergrund gestellt.
Ich vermag nicht genau beurteilen, worum es Fallada vorrangig ging, aber er ist auf jeden Fall auch eine tragische Figur, der vor allem in seinem Streben nach einer gesicherten Existenz und privatem Glück immer wieder Rückschläge erlitten hat. Anders als Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Egon Erwin Kisch, Ödön von Horvath, Thomas und Heinrich Mann, blieb er in Deutschland, zog sich ins Private zurück und schrieb Kinderbücher und Unterhaltungsliteratur. Das wertet natürlich sein Gesamtwerk in keiner Weise ab. Güte und Menschlichkeit durchziehen sein ganzes Werk, wie auch in "Wolf unter Wölfen". Er ist sicher nicht nur ein Moralist, aber er bezog auch nie eine klare politische Stellung.
Percevals Kleiner Mann: der Armen Schlechtigkeit
@ Stefan: Mein Vergil-Zitat klingt vielleicht tatsächlich wie ein Poesiealbumspruch, ich verbinde es allerdings mit dem Roman "Schattenfuchs" des isländischen Autors Sjón. Aber das können Sie ja nicht wissen.
Nach dem, was auch Sie hier zu Fallada schreiben, verstehe ich allerdings nicht, warum Sie von Percevals Inszenierung überhaupt eine politische Stellungnahme erwarten. Vielleicht sind Falladas Stoffe dafür einfach nicht die geeignetsten Vorlagen. Gegenüber Falladas "Arme, aber anständige Leute-Logik" ist Brechts Dialektik auch in meiner Perspektive tatsächlich interessanter. Man analysiere dazu nur einmal folgendes Brecht-Zitat im Hinblick auf die Widersprüche, die es eröffnet:
"Ist ihre Schlechtigkeit ohne Maß, so ist's / Ihre Armut auch. Nicht der Armen Schlechtigkeit / Hast du mir gezeigt, sondern / Der Armen Armut. / Zeigtet ihr mir der Armen Schlechtigkeit / So zeig ich euch der schlechten Armen Leid." (aus, natürlich: "Die heilige Johanna der Schlachthöfe")
Percevals Kleiner Mann: Nächstenliebe, ein Ein- oder Fünfakter?
@ Stefan: Ich vergaß wieder etwas: So so. Die Nächstenliebe ist "nur ein Akt". Hä?! Ein Einakter, Dreiakter oder Fünfakter? Ein Aktmodell - also das Aktmodell des Fallada-Herrn Heilbutt aus Wittenau? Oder gar GV? Sie sollten Ihre Wortwahl präzisieren.
Percevals Kleiner Mann: Actum
@ I S
Ich präzisiere: Akt (von lat. agere "handeln"; Partizip "actum" "das Gemachte" oder actus, actio "Tat") bezeichnet: allgemein einen Vorgang, eine Handlung.
Ein Akt
der Nächstenliebe
den können sie natürlich auch nackt
Hauptsache Sie tun Ihn.
Percevals Kleiner Mann: unreflektiertes Charity-Weltbild
@ Stefan: Vielen Dank, Ihre Präzisierung ist sehr aufschlussreich. Ihre Worte: "Ein Akt / der Nächstenliebe / den können sie natürlich auch nackt / Hauptsache Sie tun Ihn." Darum sollte es meines Erachtens eben gerade nicht gehen, um dieses unreflektierte Charity-Weltbild "Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es." Wer sagt denn, dass das nicht auch nur ein instrumentalisierendes (Konsum-)Geschäft ist, damit alle sich schön entspannen und gut fühlen, aber bloß nicht ins Nachdenken kommen.
Dieser Slogan "Just do it!", den gebraucht doch inzwischen sogar der Turnschuhhersteller Nike. Diese politisch-ökonomisch-kirchliche Botschaft des "Don't think, do it!" soll einen falschen Ausnahmezustand suggerieren, wonach wir alle unverzüglich zur Aktivität bewegt werden sollen, anstatt die Situation (zunächst einmal) kritisch zu analysieren. Wir sollten daher die 11. These von Marx vielmehr umdrehen, welche da lautet: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Vielleicht kommt es heute wieder verstärkt darauf an, schamlos gegen das überhastete Tun zu sein und sich verstärkt für das DENKEN einzusetzen. Wenn schon Bill Gates und Starbucks zur "Rettung der Dritten Welt" aufrufen, dann sollten wir hellhörig werden. Das könnte auch ein Signal für die schleichende Entpolitisierung der Gesellschaft sein.
Percevals Kleiner Mann: in der neoliberalen Konsenshölle
@ I S
Also nun ist aber gut. Ich habe doch deutlich geschrieben, das ich sehr wohl zwischen dem einfachen Akt der Nächstenliebe und echter Solidarität unterscheiden kann. Wir zerreden die Inszenierung inzwischen mehr, als das wir zu irgendeinem Ergebnis kommen. Sie können jetzt noch den Obama-Slogan „Yes We Can“ rauszerren und dann sind wir endgültig in der neoliberalen Konsens-Hölle angekommen. Nein Danke!
Percevals Kleiner Mann: Dramaturgie von Schuld und Erlösung
@ Stefan: "Also nun ist aber gut." Das sagt man zu 4-jährigen Kindern, welche einem Löcher in den Bauch fragen und wo einem dann ganz schnell die Argumente ausgehen.
Was ist denn nun für Sie "echte Solidarität"? In welcher Form ist "echte Solidarität" auf dem Theater darstellbar, und zwar ohne diese Dramaturgie von Schuld und Erlösung aufzurufen, wonach der passive Zuschauer zu kollektiver Aktivität bewegt werden müsse.
Ich würde sagen, dass Percevals "Kleiner Mann" deswegen kein Rührstück geworden ist, weil die Schauspieler in jedem Moment deutlich machen, dass das hier ein Spiel der Wieder-Holung des Fallada-Kontexts in der Differenz zum heutigen Kontext ist. Das wird vor allem über die körperlichen Bewegungen demonstriert, welche eine andere Bedeutung als die gesprochenen Worte eröffnen. So wird der Fallada-Kontext des möglichen privaten Glücks durch die hier und jetzt durch die Schauspieler hergestellte Bühnenrealität zugleich aufgerufen und kommentiert.
Percevals Kleiner Mann: Frage
Parzival oder Perceval? Wer ist gemeint? Das würde ich gerne wissen, weil es sehr ähnlich klingt.
3sat Preis: eine letztendlich weise Entscheidung
Na, da springt wohl das Lämmchen jetzt wie verrückt durch die Wohnung. Herzlichen Glückwunsch zum 3sat-Preis an Annette Paulmann und Paul Herwig. Nach langem Gezerre, eine doch letztendliche weise Entscheidung.
Percevals Kleiner Mann: Sportlerfasching
Luk Perceval hat es sich sehr einfach, allzu einfach gemacht: Was eine Bühnenfassung des Romans werden sollte, bastelte er zu einer szenischen Lesung zurecht, die er mit allerlei Slapstick und Klamauk der Marke „Sportlerfasching“ zur Unterhaltsamkeit aufzuhübschen suchte. Männer als Frauen verkleidet und mit Fistelstimme, der Teddy als Kind der Pinnebergs, Bewegungsabläufe wie im Stummfilm, Gequäke, Gebrüll und anderer Krimskrams sollten über die Öde der Rezitationsstunden hinweghelfen. Der Sektor des Publikums, der so etwas lustig findet, quittierte das denn auch mit schenkelklopfendem und johlendem Vergnügen. Wer in der Aufführung freilich nach Substanz suchte, für den dehnten sich die Minuten endlos – und das geschlagene vier Stunden lang! Wie konzeptionslos und kopflos diese Inszenierung erarbeitet wurde, zeigt das Bühnenbild: Da hatte man – Videoprojektionen sind ja gegenwärtig beliebt – die Dauerprojektion des Ruttmann’schen Berlin-Films als hilfreich empfunden. Dann kam offensichtlich jemand auf die Idee, ein Orchestrion in die Mitte der Bühne zu stellen. Und wenn eine Idee, so dachte man wohl, gut ist, dann sind zwei Ideen doppelt gut. Als man erkannte, dass dieses Orchestrion weite Teile des projizierten Films schluckt und die erste Idee somit zunichte macht, da war Perceval anscheinend schon wieder weg.
Am Ende gingen Perceval dann doch die Einfälle für den Sportlerfasching aus oder er meinte, jetzt müsse man auch mal ernst werden. Heraus kam nur noch Sentimentalität, die dann schon wieder unfreiwillig komisch wirkte.
Dass im ersten Halbjahr der Kammerspielsaison Bühnenfassungen von Romanen die Regel, genuine Dramen die Ausnahme sind, ist ein Krisensymptom. Dass renommierte Kritiker den „Kleinen Mann“ zum Theaterereignis hochschreiben, ist ein weiteres.
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