Es weint die Würde

von Georg Kasch

München, 25. April 2009. Ja, was denn nun, kleiner Mann? Ein merkwürdiges, verhaltenes Etappen-Happy-End, diese familiäre Idylle inmitten des sozialen Abstiegs, die Hans Fallada in seinem Erfolgsroman zur Weltwirtschaftskrise 1929 Johannes Pinneberg und dessem "Lämmchen" Emma Mörschel angedeihen lässt. Und das nach einer Achterbahnfahrt zwischen Anstellung und Arbeitslosigkeit, Hoffnungsschimmer und trostloser Realität, Geld-Fetischismus und Angst. Fallada traf den Nerv seiner Zeit – und trifft ihn wieder, 80 Jahre nach dem Schwarzen Freitag. Seine Romane haben Konjunktur, auch auf der Bühne – eben erlebte Wer einmal aus dem Blechnapf frisst in Hamburg Premiere.

In den Münchner Kammerspielen sorgen Luk Perceval und ein glänzendes Ensemble dafür, dass Falladas Roman "Kleiner Mann, was nun?" um eine Liebe, die größer ist als der entmenschlichende Wirtschaftswanderzirkus, nicht auf den Fettaugen des Kitsches ausgleitet. Sachlich entschlackt ist schon die weite Bühne (Annette Kurz), von einem Orchestrion beherrscht, diesem zaubrischen Konglomerat aus Pianola, Xylofon, Akkordeon und Gründerzeitmöbel, aus dem ein Teil von Mathis B. Nitschkes unaufdringlich magischer Musik tönt.

Komm Glück, wir singen dir eins

Bewegte Bilder umspülen Schauspieler und Instrument mit ihrem fahlen Licht, weniger Illustration (etliche Eindrücke stammen aus Walther Ruttmanns Film "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" von 1927) als rhythmisierende Schlaglichter der (stockenden) Industrialisierungs-Maschine. In Percevals Digest-Version des Romans, die immer noch gute vier Stunden dauert, beschreiben und kommentieren die Hauptfiguren mit Falladas Worten sich selbst und ihre Umgebung. Dopplungen zwischen Bericht und Szene aber weiß Perceval zu verhindern: Pinnebergs Konfektionsabteilung besteht nur aus einer Hand voll Kleiderbügeln, eine Verkaufsanprobe wird mit einem um und um gewendeten Jackett bestritten.

Wie aus dem Nichts tauchen hier die Figuren auf, fügen sich zu Gruppen, auch zu Tableaus, und dann singen sie zur orgelnden Melancholiemaschine mehrstimmig: "Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück", "Einmal schafft’s jeder" und, ein Berliner Konsum-Spaß, "Komm mit zu Möbel Hübner".

Im Zentrum des Textmarathons entsprudeln Paul Herwigs stets verdruckstem Pinneberg und Annette Paulmanns Lämmchen unentwegt die Worte. Herrlich naiv sind sie in ihrem himmelhochjauchzenden Glück wie in ihrer Angst. Sie reden, als könnten sie Worte vor dem Morgen bewahren. Es schmerzt physisch, Herwigs biederen Jungen unter Dauerspannung buckeln und sich wegducken zu sehen, wie er hysterisch seinen Bleistift schärft und verzweifelt aktionistisch vorm Arbeitgeber nach der Lohnsteuerkarte sucht.

... und bist du auch noch so klein

Ein Loriot-Sketch ist sein Verkaufsgespräch, in dem er für alle redet und Peter Brombacher als Dame den Mund plappernd bewegt, eine Demütigung in Raten sein Versuch, beim Schauspieler (André Jung brillierte zuvor als Unternehmer Kleinholz und als Kollege Heilbutt) die Absatzquote zu erfüllen.

Annette Paulmann hingegen postuliert ihren Glauben an Mann und Kind in einem kindlichen Ton, der kaum erschütterbar ist. Daneben glanzvolle Miniaturen: Stefan Merkis schmieriger Unternehmens-Rationalisierer und schnippische Sekretärin, Hans Kremers verhalten schillernder Zuhälter und – ein krummer Rücken, ein plattdeutsch eingefärbter Akzent – Lämmchens Mutter, Wolfgang Preglers sich kaiserlich spreizender Personalchef. Nur so zum Beispiel.

Schrecklich komisch blitzt das oft hervor, ist unterhaltsam, macht Tempo. Aber gegen Ende fndet Perceval noch einen neuen, einen atemlos dringlichen Ton: Aus den getriebenen Monologen Pinnebergs und Lämmchens schreit eine existenziell bedrohte Würde, die nur durch Paul Herwigs Tränen gerettet wird. Für diesmal.

1972 stürzte sich Peter Zadek mit einer ungemein erfolgreichen Volkstheater-Revue-Version von „Kleiner Mann, was nun?“ in seine Bochumer Intendanz. Mit dieser stilleren, zutiefst menschlichen Inszenierung setzte Perceval nun einen fulminanten Schlusspunkt unter die Kammerspiel-Ära Frank Baumbauers. Seit 2001 ist Baumbauer Intendant der Kammerspiele, jetzt hört er auf – und 2010 folgt ihm, nach einer Übergangsspielzeit, Johan Simons.

 

Kleiner Mann, was nun?
von Hans Fallada, in einer Fassung von Luk Perceval
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Mathis B. Nitschke, Video: Luk Perceval, Martin Noweck, Philipp Trauer. Mit Annette Paulmann, Paul Herwig, Gundi Ellert, Wolfgang Pregler, André Jung, Hans Kremer, Stefan Merki, Peter Brombacher, Tina Keserovic.

www.muenchner-kammerspiele.de


Mehr lesen? In Hannover inszenierte Luk Perceval im Januar 2009 Nach der Probe von Ingmar Bergmann.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=knZEpJAfzEM}

 

Kritikenrundschau

Mit Achternbusch und Fallada zeigen sich die Münchner Kammerspiele zum Ende der Intendanz von Frank Baumbauer von ihrer besten Seite, schreibt Johanna Schmeller (taz, 28.4.) in iher Doppelrezension der beiden Abende. Selbst wenn man von einer herbeiargumentierten Nähe zwischen Falladas Roman und der aktuellen wirtschaftlichen Lage wenig hält, gehe es dem heutigen Publikum statt ums Überleben doch "nur" um die Vermeidung von Wohlstandsverlust, "die biedere, innige Art, mit der sich Pinneberg an sein 'Lämmchen' Emma klammert, erscheint in Luk Percevals Inszenierung als ein allzu nachvollziehbarer Wunsch nach Berechenbarkeit in unruhigen Zeiten." Als er hilflos seinen kleinen Sohn "festhalten will und zugleich Angst hat, zuzupacken, verliert die Inszenierung ihren gewollt musicalhaften Grundton". In diesem Moment berühre Pinnebergs Angst den Zuschauer fast ebenso tief wie das Aufbegehren gegen die bayerische Provinz von Achternbuschs "Susn" am Abend zuvor.

Auch Teresa Grenzmann (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.) sieht in "Susn" und "Kleiner Mann, was nun?" zwei "großartige, verblüffend parallele Theaterabende". Percevals Inszenierung sei ein so "simples wie vollendetes Gesamtkunstwerk aus Bühne, Musik, Video, Licht und Ruttmanns Großstadtimpressionen, die manchmal als einzige flackernde Lichtquelle ihre halbschattigen Schemen auf die Szene werfen, begleitet von den nostalgischen Tönen des illuminierten Orchestrions." Ein Abend fabelhafter ästhetischen Unmittelbarkeit. Susn, Lämmchen und Pinneberg seien drei Figuren, "die der Gefangenschaft gesellschaftlicher Zwänge zum Opfer fallen", scheinbar gottverlassen, glücksverlassen. "Hier sieht man sie träumend vor den mannigfaltigen Flügelaltären des Lebens, Triptychen aus sorgenvoller Gegenwart, verdrängenswerter Vergangenheit und ungewisser Zukunft."

In seiner Hans-Fallada-Adaption "Kleiner Mann – was nun?" an den Münchner Kammerspielen habe sich Luk Perceval "bewundernswert zurückgenommen" und stelle "seine Mittel ganz in den Dienst der Geschichte", was für Perceval einen "Schritt in eine neue Richtung" darstelle – schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (27.4.). Am Anfang klapperten zwar noch die szenischen Anschlüsse, "weil Perceval zu vorsichtig am Buch entlanginszeniert", doch nach der Pause finde die Aufführung "zu ihrem Rhythmus, wagt Perceval größere Sprünge in der Handlung und verdichtet die Szenen. (...) Von da an entfaltet die Inszenierung einen unwiderstehlichen Sog, weil Perceval zeigt, dass es nicht der eine Schicksalsschlag ist, der den kleinen Mann vernichtet, sondern die tausend kleinen Schläge und Stiche." Perceval mache nicht "das Roaring-Twenties-Fass auf wie einst Peter Zadek in seiner großen Fallada-Sause; er zeigt die Härten ungemildert, aber auch mit komischen Tupfern".

Für Matthias Heine von der Welt (27.4.) grenzt es "an ein zuschauerfreundliches Wunder, dass der Regisseur Perceval sich diesmal aller dekonstruierenden 'Zugriffe' (so heißt das sittenstrolchig im Dramaturgenjargon)" enthalten habe. Perceval erzähle "einfach mit handwerklicher Bravour, mit wunderbaren Schauspielern, die das Zarte ebenso beherrschen wie, wenn nötig, die Knallcharge, und mit dem Willen zur ironischen Revue die Geschichte von Johannes Pinneberg und seiner Frau Emma (genannt 'Lämmchen'), die versuchen, inmitten der Katastrophe ihr Kind, ihr Selbstwertgefühl und ihre Liebe zu retten." Im Ergebnis seien das "die kürzesten vier Stunden, die es derzeit im Theater zu sehen gibt".

Perceval mache mit "Kleiner Mann – was nun?" "klassisches Erzähltheater, das trotz seiner epischen Ausmaße von über vier Stunden nie langatmig wird", schreibt Christine Diller in der Frankfurter Rundschau (27.4.): "Eine Geschichtsstunde, die alles lehrt, was man wissen muss über den damaligen Zustand der Gesellschaft, über Nazis, Kommunismus, einen skrupellos gewordenen Kapitalismus." Perceval habe den Roman "so geschickt bearbeitet, dass rezitierende und szenische Passagen nahtlos und unterhaltsam ineinander übergehen. Paul Herwig und Annette Paulmann verkörpern das Paar temperamentvoll und unverträumt, mit all den Zweifeln und dieser großen, aufrichtigen Zuneigung. Die Truppe um sie herum verwandelt sich spielend in Mitstreiter, Miesmacher, Verräter."

"Ach, wäre das schön, wenn sich die Münchner Kammerspiele wieder mehr aufs Theater besinnen und nicht so viele Romane und Filme der Bühne aufpfropfen würden", seufzt Simone Dattenberger im Münchner Merkur (27.4.). Percevals Version von "Kleiner Mann – was nun?" sei "ein Gebilde, das man eine halbszenische Roman-Rezitation oder eine Abart des Epischen Theaters nennen könnte." Denn Perceval reanimiere "gewissermaßen Brechts Dramenform, ohne allerdings dessen Forderung nach Gefühlsdistanz nachkommen zu wollen. Daher bleibt die herzerwärmende Liebesgeschichte zwischen Lämmchen und Pinneberg wundersam gefühlsträchtig, aber wird nie gefühlig." Freilich gebe Perceval "dem Theater nicht, was des Theaters ist. Sympathisch ist sein Respekt vor dem Buch, über gut vier Stunden trägt das jedoch nicht. Schon gar nicht, wenn einer die Geschichte des Paares kennt und auf eine echte dramatische Umsetzung gespannt ist."

"Nach vier Stunden puren Theaterglücks wollten die Ovationen nicht enden", berichtet Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (27.4.). Mit Videobildern aus Walter Ruttmanns "Berlin: Die Sinfonie der Großstadt" vergegenwärtige Perceval "die 20er-Jahre-Atmosphäre, ohne dass die Bilder je von den Schauspielern ablenken". Denn die seien "das Zentrum und Wunder dieser Aufführung. Mit hinreißender Frische spielen Annette Paulmann und Paul Herwig die unerschütterliche Liebe und Naivität des jungen Paars." Epische Erzählung und Spiel flössen ständig ineinander: "Die Szenen aus Pinnebergs Arbeitswelt und dem familiären Umfeld inszeniert Perceval fast kabarettistisch. Die Figuren wirken wie scharf überzeichnete Karikaturen wie von George Grosz oder Otto Dix." Die Schlager-Botschaften der 20er und 30er Jahre schließlich seien "die bittere Würze dieses großen und großartigen Theaterabends".

 

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